Felsig, karg und hoffnungsgrün. Hildi Hari-Wäfler

Felsig, karg und hoffnungsgrün - Hildi Hari-Wäfler


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Pilze aus dem Boden. Im Tal veränderte sich einiges. Die Wirtschaft wurde angekurbelt. Eine mehrheitlich arme Bevölkerung von Bergbauern profitierte allmählich von neuen, zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten.

      Vor 1884 musste man einen vierstündigen Fußmarsch auf einem unwegsamen Pfad über Achseten hinter sich bringen, um Adelboden zu erreichen. Wegen dieser – besonders im Winter – schwierigen Wegverhältnisse hatte sich Adelboden bereits im 15. Jahrhundert von der Kirchgemeinde Frutigen getrennt. Die Verhandlungen für eine neue Straße nach Adelboden waren zäh und zogen sich über Jahrzehnte hin. Von den Behörden in Bern war zwar einmal versprochen worden, die Lage vor Ort in Augenschein nehmen zu wollen, doch noch sechs Jahre später hatte sich niemand hierher bemüht.

      1884 war es dann aber so weit. Nach acht Jahren zum Teil sehr schwierigen Ausbaus konnte die neue Straße eröffnet werden. Vorerst wurde nur in den Sommermonaten eine Pferdepost in Betrieb genommen, ab 1890 das ganze Jahr hindurch. Diese mehrspännigen Pferdekutschen boten jeweils Platz für vier bis sechs Personen. Ab 1917, als mein Vater zwölf und meine Mutter acht Jahre alt waren, kam als große Neuerung der regelmäßige Automobilverkehr. Der war nicht in erster Linie für die einfachen Leute bestimmt, sondern für zahlungskräftige Gäste und betuchte Einheimische. Das gewöhnliche Fußvolk ging immer noch auf Schusters Rappen nach Frutigen und zurück. Zur Winterzeit mussten oft vorübergehend Pferdeschlitten als Ersatz einspringen, wegen der ungeheuren, kaum zu bewältigenden Schneemassen.

      Die Reisenden erlebten von Frutigen her zunächst die beängstigende Enge des Engstligentales. Kurz nach Frutigen stieg das Land rechter Hand einige hundert Meter steil nach oben bis unter die Gipfel der Niesenkette. Wilde Bachtobel trennten die zahlreichen Spissen. Links von der Straße floss tief unten die Engstlige und auf der anderen Seite erhoben sich wieder steile Hänge bis unters Elsighorn, die vorwiegend mit dunkelgrünen, ernst wirkenden Rottannen bewachsen waren oder stotziges, steiles Weideland zeigten.

      Auf halbem Weg nach Adelboden führte die Fahrt über den Hohen Steg auf die andere Talseite. Dies war eine Hochbrücke aus Holz, die später durch eine Eisenkonstruktion ersetzt wurde. Anschließend wand sich der Weg hinauf bis auf die Höhe des Hirzbodens, etwa sechs Kilometer vor Adelboden. Jetzt gab das Tal mehr und mehr den Blick frei auf eine wohltuende Weite mit ebenen Matten. Die fünf Täler von Adelboden, für jeden Finger der rechten Hand eines, waren dabei nicht alle gleichzeitig sichtbar.

      Hinten im Tal sah man das Wahrzeichen von Adelboden aufragen, den 3225 Meter hohen Wildstrubel mit seinem ewigen Schnee. Die topfebene Engstligenalp davor mit ihren mehreren hundert Tieren, die im Sommer hier weiden, konnte nur erahnt werden. Von ihr gelangt man über den Kindbettipass und die Gemmi ins Wallis. Der Kindbettipass soll seinen Namen einer Walliserin verdanken, die hier beim Überqueren ihr Kind geboren hat.

      Was beim Betrachten der Gegend des Engstligentales auf Anhieb ins Auge sticht, ist der weiß schäumende Wasserfall. Die gewaltigen Wassermassen stürzen sich in zwei Etappen rund 600 Meter in die Tiefe.

      Vor lauter Schauen und Staunen kamen die Gäste schließlich mühelos, aber gut durchgeschüttelt nach unzähligen Kurven auf der 1353 Meter gelegenen Sonnenterrasse an. Nur wenige verstreute Häuser gehörten um die Jahrhundertwende zum Dorf.

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      Hildi (etwa 12 Jahre alt) mit Cousin Hansjörg.

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      Willi und Hildi.

       Ferienwohnung Wäfler

      Weil nun die Feriengäste immer zahlreicher nach Adelboden kamen, überlegten auch meine Eltern, ob sie das Interesse der Urlauber an einer passenden Unterkunft für sich nutzen könnten. Diese Frage wurde gründlich abgewogen.

      Die Lage unseres Hauses war mit Blick auf den Wildstrubel und den Wasserfall einzigartig. Abends versetzten die glühenden Sonnenuntergänge und die wechselnden Stimmungen am Lohner und der Bonderspitze den Betrachter in immer neues Staunen. Die Umgebung war absolut ruhig. Vom Wohnhaus in der Oey führte ein steiler, achtzig Meter hoher Rain bis unters Hotel Nevada Palace. Vor dem Wohnhaus breitete sich eine lange, breite und ebene Wiese aus, an deren Ende einige Meter Abhang mit Bödeli, dem „Hangi“, direkt zum Allenbach führte.

      „Wo im Haus könnten wohl Feriengäste untergebracht werden?“, war die Frage meiner Eltern. Das Haus war ja nicht sehr groß: Eine Zweizimmerwohnung im ersten Stock, unter dem Dach eine abgeschrägte, kleine Wohnung, die von einem kinderlosen Ehepaar bewohnt wurde, und im Parterre Waschküche, Keller und eine Bude für Vaters Arbeiten. Doch Mutter war ernsthaft entschlossen, die finanzielle Lage der Familie zu verbessern, und so wurde das Unmögliche möglich gemacht. Mutter setzte sich ein und war bereit, den Preis dafür zu bezahlen.

      Heraus kam folgende Lösung: Im Winter wohnten wir als Familie im mittleren Stockwerk, im Sommer zogen wir in die unteren Räume um. Die Waschküche wurde notdürftig in eine Küche umfunktioniert und die Schreinerbude in ein Wohn- und Schlafzimmer verwandelt. Als unsere Familie später mehr Platz brauchte, musste auch die Remise in der Scheune als Schlafstätte herhalten.

      Unsere eigentliche Wohnung wurde im Sommer vermietet – vorwiegend an Basler, Aargauer, Berner, Zürcher, Luzerner und ab und zu an Französisch sprechende Gäste. Mutter nähte weiße Bettwäsche, denn die weiße war damals sehr vornehm, im Gegensatz zu der eigenen bunt karierten. Sie legte großen Wert auf peinliche Sauberkeit, gestärkte Vorhänge an den blank geputzten Fenstern, saubere Böden, glänzend polierte Messingknöpfe am Kochherd, Blumen in den Kisten vor den Fenstern, einen Feldblumenstrauß auf dem Tisch. Alles sollte dazu dienen, den Gästen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.

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      Das Wohnhaus in der Oey mit Scheune und Hühnerhof.

      Mutters Anstrengungen lohnten sich. Die meisten der Ruhebedürftigen kamen gerne wieder. Sie empfahlen die Wohnung weiter und die Wochen im Sommer waren lückenlos besetzt, ohne große Werbung zu betreiben. So kam es zu langjährigen Urlaubern, die sich mit der Familie auch durchs Jahr hindurch verbunden fühlten. Ein Ehepaar aus dem Baselbiet schickte während vieler Jahre das von den Kindern oft heiß ersehnte Osterpäckli mit köstlichen Süßigkeiten. Es kamen Grüße zu Weihnachten und Neujahr. Ich selbst durfte einmal zehn Tage Ferien in der Stadt Basel verbringen bei Heidi, einem Mädchen ungefähr im gleichen Alter. Wie habe ich gestaunt über das Leben in der Stadt, den zoologischen Garten oder die Aussicht vom Turm des Basler Münsters aus über das Häusermeer! Damals machte ich im Eglisee meine ersten Schwimmversuche. Noch heute bestehen Verbindungen zu der Tochter, die längst Großmutter ist.

      Mit ihrer fließenden, schönen Schrift erledigte Mutter sämtliche Korrespondenz, denn zu jener Zeit kam das Telefon ja nur für Leute infrage, die es aus beruflichen Gründen benötigten, der Arzt, die Hoteliers oder mancher Gewerbetreibende. Diese waren meist auch im Besitz eines Autos.

      Schon damals war es ratsam, die Verträge für Ferienwohnungen schriftlich zu bestätigen. Pro Nacht und Bett verlangte Mutter lange Zeit einen Franken, achtzig Rappen und für die Benutzung der Küche pauschal einen Franken und fünfzig Rappen pro Tag. Dazu kamen noch die Kosten für Holz und Strom nach Verbrauch.

      Im Herbst, nach Wegzug der letzten Gäste, wurden die altvertrauten Räume wieder eingenommen. War das ein Fest! Jedes Ding erhielt erneut seinen Platz. Ein geregeltes Leben konnte beginnen. Wen wundert es, dass sich meine Mutter schon bald nach einem Ort sehnte, an dem sie bleiben konnte. Zu mühsam war der ständige Umzug.

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      Wilhelm und Rosina Wäfler mit Willi, Fredi und Hildi.

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