Elf Meter. Ben Lyttleton

Elf Meter - Ben Lyttleton


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Liga auszuprobieren. Einer seiner ersten Versuche ging daneben. Das war gegen Vodňany, einen Dorfklub aus Südböhmen, und es regnete in Strömen. „Der Torraum war ganz matschig, und ich bin überzeugt davon, dass der Torwart nur gehalten hat, weil er nicht springen und sich schmutzig machen wollte.“

      Meistens traf er aber, selbst gegen Torhüter, die ihn gut kannten. Im Mai 1976 spielte Bohemians gegen Dukla Prag, deren Keeper Ivo Viktor ein guter Freund und sein Zimmergenosse bei der tschechoslowakischen Nationalmannschaft war. Viktor kannte den Trick, konnte aber trotzdem nicht parieren. „Er blieb nicht stehen. Wenn man stehenbleibt und den Ball reinlässt, fragen einen die Leute, warum man es nicht mal versucht hat. Deswegen ist es wichtig, den Torwart dahin zu bringen, wo man ihn haben will. Man muss ihm mit den Augen, dem Anlauf, dem Winkel, der Körpersprache suggerieren, dass man eine Ecke anvisiert.“

      Sechs Wochen später, am 20. Juni 1976, stand die ČSSR nach einem 3:1 gegen Holland nach Verlängerung überraschend im Endspiel der Europameisterschaft. In der Vergangenheit waren tschechoslowakische Mannschaften stets in sich gespalten gewesen: Tschechen und Slowaken aßen nicht nur getrennt, sie trainierten auch jeder für sich, was eine vernünftige taktische Vorbereitung unmöglich machte. Die Mannschaft von 1976 war anders, geeint durch Trainer Václav Ježek, einen Slowaken, und Kapitän Anton „Tonda“ Ondruš, einen Tschechen. Die Elf bestach durch Tempo, Disziplin, Technik, Torgefahr – und jede Menge Selbstbewusstsein. „Wir hatten im Vorfeld gute Ergebnisse erzielt, und weil wir aus Osteuropa kamen, nahm uns niemand für voll“, sagte Panenka. Vor dem Turnier blieb die Mannschaft 20 Spiele in Folge ungeschlagen.

      Im Finale trafen die Tschechoslowaken auf den amtierenden Welt- und Europameister aus Deutschland. Auch die Deutschen hatten ein schweres Halbfinale hinter sich. Sie hatten Gastgeber Jugoslawien erst in der Verlängerung mit 4:2 geschlagen und vor dem Endspiel einen Tag weniger Pause gehabt. Die Tschechen gingen schnell mit 2:0 in Führung, aber die Deutschen kämpften sich durch ein Tor von Dieter Müller wieder heran, ehe Bernd Hölzenbein in der 89. Minute der Ausgleich gelang. In der Verlängerung waren die Spieler mit den Kräften am Ende, und zum ersten Mal überhaupt musste ein Elfmeterschießen über den Sieger eines großen Turniers entscheiden – was übrigens erst wenige Stunden vor dem Spiel beschlossen worden war.

      Auf dem Weg zum Finale hatte sich DFB-Präsident Hermann Neuberger mit Bundestrainer Helmut Schön und Teamarzt Erich Deuser beraten und beschlossen, die UEFA darum zu bitten, im Falle eines Unentschiedens auf ein Wiederholungsspiel zu verzichten, das für den folgenden Dienstag vorgesehen war. Neuberger war der Ansicht, die Spieler seien ausgebrannt. „Die Entscheidung war absolut richtig. Die Gesundheit der Spieler hat höchste Priorität“, sagte Deuser. Die UEFA und der tschechoslowakische Verband waren einverstanden, aber die deutschen Spieler erfuhren erst davon, als sie nach dem Aufwärmen in die Kabine kamen. Wie der Münchner Merkur berichtete, wurde selbst Beckenbauer von dieser Entscheidung überrascht. Weder der Kapitän noch seine Teamkameraden waren gefragt worden, was sie von einer solchen Kursänderung hielten.

      Das war nicht das einzige Kommunikationsproblem zwischen den deutschen Spielern und ihrem Verband während des Turniers. Am Samstag vor dem Finale hatte sich der DFB bereit erklärt, die Prämie für die Endspielteilnahme von 5.000 auf 10.000 DM und für den Titelgewinn auf 15.000 DM zu erhöhen. Schon zwei Jahre zuvor hatte es Streit um die WM-Prämien gegeben, und die deutschen Spieler hätten sich beinahe geweigert anzutreten. Der deutsche Verband war nicht scharf darauf, eine Wiederholung zu erleben – allerdings versäumte er es, die Spieler vor dem Finale über die neuen Summen zu informieren.

      Die Deutschen hatten also keine Elfmeter trainiert und mit Rainer Bonhof nur einen Schützen, der im Verein regelmäßig Elfmeter schoss. Die Tschechoslowaken hingegen, und nicht nur Panenka, hatten fleißig geübt. Nach einem Freundschaftsspiel im Vorfeld des Turniers hatte Ježek ein Elfmeterschießen unter Matchbedingungen organisiert. 10.000 Fans waren im Stadion, die er per Megaphon zum Mitmachen animierte. „Wir wollen, dass ihr pfeift und schreit und alles versucht, um unsere Spieler aus dem Konzept zu bringen. Genauso, wie es für uns in Jugoslawien bei der EM sein wird.“

      Die Deutschen brauchten zehn Minuten, um sich auf die Reihenfolge der Schützen zu einigen. Torwart Maier bot sich für den fünften Elfmeter an, weil sonst keiner antreten wollte. Beckenbauer erklärte sich schließlich bereit, ihn zu übernehmen. „So wurden die Männer zusammengekratzt wie ein Häuflein Verlorener“, schrieb der Merkur am nächsten Tag. „Eine geschlagene Truppe trat an zum letzten Gefecht, und sie musste dieses Duell verlieren, weil ihre Nerven flatterten.“

      Die ČSSR musste vorlegen, und Stürmer Marián Masný machte kurzen Prozess. Bonhof traf für die Deutschen. Auch die nächsten fünf Versuche wurden alle verwandelt, und die Tschechoslowaken führten mit 4:3. Dann kam Uli Hoeneß. Sein Schuss ging weit über das Tor. „Ich war schlapp und kraftlos“, sagte er. „Ich konnte nicht mehr schießen, keinen Elfmeter mehr, aber als sich keiner mehr meldete, da habe ich ja gesagt.“

      Dann kam Panenka. Zwei Jahre Training für diesen einzigen Versuch: all die Schüsse gegen Hruška (und die ganze Schokolade), die vielen Stunden, die er damit verbracht hatte, den Anlauf zu perfektionieren, den Lupfer zu verfeinern, den Torwart zu verladen. Viktor flehte Panenka an, es nicht zu versuchen, aber dies war sein großer Augenblick. „Ich sah mich als Entertainer und diesen Elfmeter als Ausdruck meiner Persönlichkeit“, sagte Panenka. „Ich wollte den Fans etwas Neues bieten, etwas schaffen, worüber man reden würde. In einem Moment, in dem niemand damit rechnete, etwas Besonderes zeigen. Ich wollte, dass Fußball mehr ist, als nur gegen einen Ball zu treten.“

      Vor dem Elfmeter ging es Panenka ähnlich wie vor manchen seiner Freistöße für Bohemians. Er liebte das Duell mit dem gegnerischen Torhüter und hatte so etwas wie einen sechsten Sinn dafür – „eigentlich war es wie Gänsehaut“, – ob er treffen würde. Wenn ein Keeper die Mauer so stellte, dass er bessere Sicht auf den Ball hatte, schickte Panenka ein paar seiner Mitspieler dazu, um es ihm schwerer zu machen.

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       Legendärer Elfmeter im EM-Finale 1976: Der Tscheche Antonín Panenka lupft den Ball im Elfmeterschießen gegen Deutschland über Sepp Maier.

      Als wir uns das Video seines entscheidenden Elfmeters ansahen, fiel mir auf, wie lang sein Anlauf war – bis hinter den Teilkreis außerhalb des Strafraums. „Ich wählte einen langen Anlauf, damit ich mehr Zeit hatte, zu schauen, was der Torwart vorhatte und wie er reagierte“, erklärte er. „Ich lief außerdem schnell an, was es dem Torwart erschwert, die Körpersprache zu lesen. Man sieht schon, als ich noch einen Meter vom Ball entfernt bin, dass sich Maier nach links bewegt. Hätte ich mich nicht für den Heber entschieden, hätte ich also einfach in die andere Ecke geschossen.“

      Bevor es überhaupt einen Namen dafür gab, schoss Panenka den perfekten Panenka. Der Ball segelte gemächlich, geradezu frech, über Maier hinweg, der früh abgetaucht war und mit dem rechten Arm vergeblich nach dem Ball wedelte, als wolle er ihn durchwinken. Er wusste, dass er geschlagen war. Seitdem sind einige fantastische Panenkas verwandelt worden – Zinédine Zidane, Francesco Totti und Andrea Pirlo haben in entscheidenden Momenten auf diese Weise vollendet –, aber Panenkas eigener bleibt die Mutter aller Panenkas: der schönste und beste, das Original.

      Nach dem Spiel bekam Panenka von Politikern zu hören, dass er bestraft worden wäre, hätte er verschossen, denn der Elfmeter hätte als Respektlosigkeit gegenüber dem kommunistischen System verstanden werden können. Welche Art von Strafe hätte ihn erwartet, wollte ich wissen. „30 Jahre in den Minen“, antwortete er. „Das macht seine Leistung umso bemerkenswerter“, meinte der spanische Fußballautor César Sánchez Lozano. „Sein Elfmeter ist aus visueller Sicht faszinierend: Er ist schön, wie ein Kunstwerk. Aber dazu kommt der Druck, die Situation des Elfmeterschießens, der entscheidende Schuss, und dass er aus einem kommunistischen Land kommt und trotzdem etwas so Spontanes zeigt – das ist einfach erstaunlich.“

      Lozano war so hingerissen von dem Moment, dass nur ein Titel in Frage kam, als er ein neues Magazin ins Leben rief, das sich den ausgefallenen Geschichten, abseitigen Charakteren und romantischen Seiten des Spiels


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