Elf Meter. Ben Lyttleton

Elf Meter - Ben Lyttleton


Скачать книгу
Spieler der Welt, als er im EM-Halbfinale 1992 gegen Dänemark im Elfmeterschießen antrat. Van Basten legte sich den Ball viel schneller zurecht als sonst und scheiterte am dänischen Schlussmann Peter Schmeichel.

      Eine Mannschaft, die kürzlich ein norwegisches Pokalfinale erreichte, wurde auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Das Spiel ging ins Elfmeterschießen. Zwei Spieler wurden fast verwarnt, weil sie sich so viel Zeit ließen – elf Sekunden –, bis sie schossen. Beide trafen. Jordet warnt davor, aus diesen Ergebnissen die falschen Schlüsse zu ziehen. Die Zahlen besagen, dass viele Spieler verschießen, weil sie einen Elfmeter überhastet ausführen. Umgekehrt heißt das aber nicht, dass sie umso wahrscheinlicher treffen, desto mehr Zeit sie sich lassen. „Fünf bis zehn Sekunden zu warten, kann wieder andere psychische Herausforderungen heraufbeschwören, mit denen der Spieler umzugehen hat, beispielsweise, sich zu viele Gedanken über den Bewegungsablauf zu machen. Mein Rat wäre, eine überhastete Ausführung zu vermeiden, indem man den Spielern einfach nahelegt, vor dem Schuss noch einmal tief durchzuatmen, für eine Sekunde oder eine halbe, nicht unbedingt mehr.“

      Da die durchschnittliche Trefferquote vom Punkt etwa 78 % beträgt, ist bei jedem Elfmeterschießen mit einem Fehlschuss zu rechnen. Dieser Wert sinkt auf 71 % bei Weltmeisterschaften, was nach Jordets Auffassung ein Hinweis darauf ist, wie sich der erhöhte Druck auf die Spieler auswirkt. Für Mannschaften, die auf England treffen, steigt der Wert allerdings. Schauen wir uns noch einmal die Abbildungen 1 und 2 an. In den sieben Elfmeterschießen, die England bei Welt- und Europameisterschaften bestritten hat, trafen die Gegner 83 % (29 von 35) ihrer Schüsse. Die Engländer selbst verwandelten nur 66 % (23 von 35), und Jordet glaubt zu wissen, warum sie so weit unter dem Durchschnitt liegen.

      „Die Ursachen für Englands Probleme mit Elfmetern sind mannigfaltig“, sagte er und ließ anklingen, dass auf Spieler in England höhere Erwartungen lasten als anderswo und sie sich schwertäten, damit umzugehen. „Der Druck steigert sich zudem aufgrund der Vergangenheit, denn je öfter man verliert, desto öfter verliert man. Der Druck aufgrund dieser Erwartungen und der Geschichte vervielfacht sich noch, denn England ist eines der am stärksten individualistisch geprägten Länder überhaupt und hat eine Medienlandschaft, die vor allem auf Sündenböcke aus ist.“4

      Er leitete eine Studie, die sich mit den Leistungen der acht größten europäischen Nationen in Elfmeterschießen beschäftigte. Dann ermittelte er, wie oft die Torhüter die richtige Ecke ahnten. Wenn ein Torwart sich für die richtige Ecke entscheidet, steigen seine Chancen, den Elfmeter zu parieren, um rund 30 %.

       Abbildung 7: Torhüter, die die richtige Ecke ahnen5

      Gegen die Niederlande – 63 %

      Gegen England – 58 %

      Gegen Italien – 46 %

      Gegen Deutschland – 46 %

      Gegen Frankreich – 45 %

      Gegen Tschechien – 37 %

      Gegen Spanien – 35 %

      Schnitt – 47 %

      Gegen die Niederlande und England liegen Torhüter also häufiger richtig als falsch. Wie kann das sein? Sind holländische und englische Spieler leichter zu durchschauen? Was haben sie gemeinsam, das Tschechen und Spanier nicht haben? Es ist nicht das Abwenden (was nur 17 % der holländischen Spieler tun) und auch nicht die übereilte Ausführung, denn darin sind die Engländer zwar die Schnellsten, aber auch die Tschechen haben es ziemlich eilig. „Bei diesen Zahlen spielt das Glück eine gewisse Rolle“, erläuterte Jordet, „und ich schätze, England hatte in der Vergangenheit einfach eine Menge Pech.“ Aha, also doch alles eine Sache des Glücks! All die Trainer, die nach Niederlagen das Elfmeterschießen abfällig als „Lotterie“ bezeichneten, hatten also recht!

      Nicht ganz.

      „Man kann den Faktor Glück nie ganz ausschließen. Dazu gehört, wer den Münzwurf gewinnt, welche Mannschaft auf ihre sichersten Schützen zurückgreifen kann und dergleichen“, ergänzte Jordet. „Ich sehe ein, dass man nicht alles kontrollieren kann und auch großartige Spieler scheitern können. Ein Stück weit ist es eine Lotterie, aber man kann einiges tun, um seine Chancen erheblich zu verbessern.“

      In Schweigen hüllte sich Jordet bei unseren beiden Treffen lediglich bei meiner Frage, für welche Mannschaften er gearbeitet habe. Diskretion sei ein so wichtiger Aspekt seines Jobs, antwortete er, dass er die Identität seiner Auftraggeber niemals preisgebe (allerdings hatte er einen Wimpel des AC Mailand an seiner Bürowand hängen).

      „Aber es stimmt doch, dass sie für die holländischen Juniorenteams gearbeitet haben?“, bohrte ich weiter. „Richtig, aber ich habe nie darüber gesprochen, bis Trainer Foppe de Haan es publik gemacht hat. Allen anderen gegenüber bin ich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet.“ Es könnte also sein, dass Jordet bereits für die englische Mannschaft tätig ist. Schwer zu sagen, er hat ein gutes Pokerface.

      Jordet begann nach seinem Umzug nach Groningen für den niederländischen Verband zu arbeiten und zählte bei der U20-WM 2005, die in den Niederlanden ausgetragen wurde, zum Betreuerteam. „Ich versuchte zu vermitteln, dass Elfmeter etwas Positives seien. Ich erzählte den Spielern, dass Elfmeter eine Chance darstellten, sich auszuzeichnen, aber das klappte nicht so richtig.“ Holland schied im Viertelfinale gegen Nigeria durch ein 9:10 im Elfmeterschießen aus. „Während ich zuschaute, dachte ich: ‚Die lassen mich nie wieder für sich arbeiten, die lassen mich nicht mal mehr ins Land.‘“ Weit gefehlt: 2007 wandte sich de Haan erneut an Jordet, damit er ihm bei den Vorbereitungen auf die U21-EM half. Jordet hatte inzwischen ein neues Programm entwickelt. „Ich ermittelte, durch welche Verhaltensweisen die Spieler ihre Erfolgsaussichten steigern könnten. Denn nur darum geht es ja: ihre Chancen zu verbessern.“ Jordet konzentrierte sich bei seiner Arbeit mit den Spielern auf zwei Strategien:

      1.Nimm dir eine zusätzliche Sekunde Zeit.

      Jordet zeigte den Spielern van Bastens überhastet ausgeführten Elfmeter aus dem Halbfinale der EM 1992 – sie waren noch Knirpse, als das passierte – und erläuterte ihnen das Diagramm, das zeigte, dass die englischen Spieler auf den Pfiff des Schiedsrichters fast so schnell reagierten wie Usain Bolt auf die Startpistole. Er erklärte den Spielern, wie wichtig es sei, sich Zeit zu lassen. „Wenn ich zu einem Elfmeter antrat, ruhte ich mich einen Moment aus, atmete tief durch und wusste genau, wohin ich den Ball schießen wollte“, sagte Gianni Zuiverloon, dem damals im Halbfinale der U21-EM gegen England die Aufgabe zukam, in einem dramatischen Elfmeterschießen den 32. und letzten Schuss auszuführen. Das Spiel war 1:1 nach Verlängerung ausgegangen, nach je fünf Elfmetern stand es 4:4, und die Holländer hatten durch Arnold Kruiswijk und Daniël de Ridder bereits zwei Chancen vergeben, das Spiel für sich zu entscheiden. Zuiverloon hatte schon in der siebten Runde verwandelt und besorgte mit seinem zweiten Treffer den Endstand von 13:12.

      „Sich Zeit zu nehmen, bedeutet keine Treffergarantie, aber zumindest verschießt man nicht wie so viele andere Spieler aus meinen Studien, weil man sich nachlässig und unachtsam auf den Schuss vorbereitet hat“, betonte Jordet. „Indem man sich auf eine Strategie konzentriert, die auf gesicherten Daten basiert, hat man sich selbst und die Situation gleich besser im Griff und erhöht seine Erfolgsaussichten. Sich eine Sekunde mehr Zeit zu nehmen, um durchzuatmen, wirkt entspannend und erhöht die Konzentration, und wenngleich es die Spieler nicht direkt in einen meditativen Zustand versetzt, kann es die nachteiligen Auswirkungen von Stress ein wenig dämpfen.“

      Nach dem Spiel analysierte Jordet Blickverhalten und Reaktionszeiten beider Mannschaften während des Elfmeterschießens. Zufrieden stellte er fest, dass die holländischen Spieler seinem Rat gefolgt waren. Jeder der holländischen Spieler blickte auf den Torwart, während sie nach dem Zurechtlegen des Balls ein paar Schritte zurückgingen; fast 40 % der englischen Spieler hingegen wählten eine Vermeidungsstrategie und schauten weg. Die Holländer ließen sich außerdem mehr Zeit, bevor sie den Ball schossen: Ihre durchschnittliche Reaktionszeit nach dem Pfiff des Schiedsrichters lag bei rund einer Sekunde, gegenüber 0,51 Sekunden bei den Engländern, womit die sich immerhin doppelt so viel Zeit ließen wie ihre älteren Kollegen.

Скачать книгу