Elf Meter. Ben Lyttleton

Elf Meter - Ben Lyttleton


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Ich war als Fünfter dran, weil ich eigentlich gar nicht schießen wollte, und als es dann so weit war, war mein Elfer der wichtigste von allen. Wenn man zum Punkt geht, ist man so allein, so ängstlich. Ich musste irgendwie meine Nerven in den Griff kriegen. Also versetzte ich mich in Wut. So vergaß ich meine Aufregung.“ Kuntz dachte an seine Kinder, die damals fünf und sieben Jahre alt waren, und wie sie in der Schule gehänselt würden, sollte er jetzt verschießen. „Ich wurde so sauer bei dem Gedanken daran, wie diese Blödmänner meine Kinder ärgerten. Ich dachte: ‚Das kannst du deiner Familie nicht antun.‘“ Kuntz, ein Linksfüßer, schoss Deutschlands besten Elfmeter: hart und platziert auf seine natürliche Seite. Er hatte sich so aufgepeitscht, dass er danach nicht einmal lächelte, sondern nur einmal tief durchatmete auf dem Weg zurück in den Mittelkreis.

      Und dann war Southgate an der Reihe. „Natürlich hat Southgate mein Mitgefühl“, sagte Kuntz. „Es ist ein Albtraum, derjenige zu sein, der verschießt. Aber immerhin hatte er den Mumm, überhaupt anzutreten, im Gegensatz zur halben Mannschaft.“ Warum also hat England verloren? „Es gab zusätzlichen Druck, weil es ein wichtiges Spiel war, und dann auch noch gegen Deutschland. Und wenn man zu Hause spielt, spürt man manchmal den Zweifel der eigenen Fans. Vielleicht dachte Southgate: ‚Selbst die Fans glauben nicht, dass ich treffe.‘ Oft passiert genau das, was einem durch den Kopf geht. Es ist ein wichtiger Aspekt des Spiels, die eigenen Gedanken zu kontrollieren.“

      Kuntz sagte, das Spiel sei das Highlight seiner Karriere gewesen, noch vor dem Finale gegen Tschechien, in dem er von Anfang an spielte und das Deutschland 2:1 gewann. „Es war mein erstes Spiel in Wembley, es war gegen England, ich erzielte ein Tor und dann das Elfmeterschießen ... Es war einfach alles drin.“ Heute konzentriert er sich auf seinen Job als Vorsitzender des 1. FC Kaiserslautern, für den er sechs Jahre lang spielte. Über die alten Zeiten redet er nicht so gern. Er versucht das Thema zu umgehen, seitdem er seiner Großmutter kurz vor dem Ende seiner Profikarriere den Text auf seiner offiziellen Sticker-Karte vorlas. „Da stand: ‚Pokalsieger 1990, Deutscher Meister 1991, Europameister 1996‘ und dazu meine ganzen Torstatistiken. Und meine Oma fragte: ‚Sehr hübsch, aber kannst du damit im Supermarkt bezahlen?‘ Da wurde mir klar, dass man sein Leben einfach weiterleben muss. Nicht zurückschauen. Vielleicht sollte es England mit Elfmeterschießen genauso halten.“

      Als Kuntz verwandelte, hatten sich die Deutschen immer noch nicht auf ihren sechsten Schützen geeinigt. Bis Southgate vergab. Daraufhin löste sich Andreas Möller aus der Gruppe und machte sich auf den Weg zum Elfmeterpunkt. „Er trat vor und meinte: ‚Ich bin dran, okay?‘“, erinnerte sich Thomas Helmer. Es war zu spät, um Einwände zu erheben, und Möller traf. Game over.

      Shearer hatte England nach drei Minuten in Führung gebracht und im Elfmeterschießen den ersten Schuss verwandelt, so wie schon vier Tage vorher gegen Spanien. „Üben ist ja schön und gut, aber man kann die Situation einfach nicht simulieren“, erzählte er mir. Trotz seiner persönlichen Bilanz – er traf auch 1998 gegen Argentinien, womit er mit drei Treffern bei drei Versuchen Englands erfolgreichster Schütze in Elfmeterschießen ist – waren seine Ausführungen von negativen Schlagwörtern durchsetzt. „Einem solchen Druck ausgesetzt zu sein, wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht“, fuhr er fort. „Der Gang zum Punkt kommt einem vor, als wäre er 40 Meilen lang. Und es sind gar nicht so sehr die 80.000 Menschen im Stadion oder die 30 Millionen am Fernseher, die einen nervös machen. Es sind die zehn Teamkollegen hinter einem. Der Druck, es auch für sie tun zu müssen, ist größer als alles andere.“

      Herrschten diese negativen Gedanken auch zwei Jahre später noch vor, als England im WM-Achtelfinale in Saint-Étienne auf Argentinien traf? Gewiss war die Niederlage von 1996 ein größeres Trauma als die von 1990. England war der Gastgeber, Deutschland der Gegner, und es war wieder ein Elfmeterschießen gewesen. Die Regenbogenpresse hatte vor dem Spiel mit militärischen Metaphern Stimmung gemacht – der Daily Mirror trieb es mit der Schlagzeile „Achtung Surrender!“ ein bisschen zu weit, und Teamsponsor Vauxhall zog sämtliche Anzeigen aus dem Blatt zurück. England aber enttäuschte erneut.

      „Uns war klar, dass die Medien das Spiel zu einem Krieg stilisiert hatten, aber für uns war es das keinesfalls“, meinte Kuntz dazu. „Schauen Sie, selbst unsere Eltern hatten mit dem Krieg nichts mehr zu tun, er lag zwei Generationen zurück, deswegen verstanden wir die Schlagzeilen nicht. Für die englische Mannschaft wäre es wohl hilfreicher gewesen, es wäre weniger von Krieg und Geschichte die Rede gewesen und man hätte sich ganz auf den Fußball konzentriert. Ich glaube, dass die Medien das Spiel zu sehr aufgebauscht und dadurch den Druck auf die Spieler noch erhöht haben.“ Das war der Moment, in dem die Angst vor Elfmeterschießen in der englischen Psyche zu keimen begann. Die Engländer hatten das Pech, nur kurze Zeit später in das nächste verwickelt zu werden, wiederum gegen eine Nation, mit der sie sportlich und politisch eine schwierige Beziehung verbindet: Argentinien.

      Die fußballerische Rivalität nahm bei der WM 1966 ihren Anfang, als der Argentinier Antonio Rattín sich nach seinem Platzverweis im Viertelfinale gegen England zehn Minuten lang weigerte, den Rasen von Wembley zu verlassen. Englands Trainer Alf Ramsey hinderte George Cohen daran, mit Roberto Perfumo das Trikot zu tauschen, und bezeichnete die Südamerikaner als „Tiere“. 1977 schlug der argentinische Stürmer Daniel Bertoni seinem Gegner Trevor Cherry zwei Schneidezähne aus (seine Knöchel zeugen noch heute von der Begegnung), und bei der WM 1986 warf Argentinien schließlich die Engländer dank Maradonas „Hand Gottes“ im Viertelfinale aus dem Turnier. „Die WM zu gewinnen, war damals zweitrangig für uns“, sagte Perfumo. „England zu schlagen, war unser eigentliches Ziel. Das ist vergleichbar mit Schülern, die ihre Lehrer schlagen.“

      Nationaltrainer Glenn Hoddle schloss sich Shearers Sichtweise an, dass die Realität eines Elfmeterschießens nicht nachstellbar sei, und verzichtete 1998 darauf, Elfmeter trainieren zu lassen. Der einzige Spieler, der es dennoch tat, war ironischerweise Shearer. Vor jedem Länderspiel schoss er fünf Elfmeter in die eine Ecke, im Spiel selbst schoss er dann in die andere. Er war überzeugt davon, dass der Gegner selbst beim Geheimtraining seine Spione hatte, um ihn zu beobachten.

      Gegen Argentinien ging die Rechnung auf: Drei Minuten, nachdem Gabriel Batistuta das 1:0 erzielt hatte, wurde Michael Owen im Strafraum von Roberto Ayala zu Fall gebracht. Der Schiedsrichter entschied auf Strafstoß, was ziemlich großzügig war, und Shearer traf zum Ausgleich. Nur wenig später startete Owen ein Solo vom Mittelkreis aus und drang in den Strafraum vor. Er ließ Ayala aussteigen und bezwang Torwart Carlos Roa mit einem platzierten Schuss ins lange Eck. Javier Zanetti glich kurz vor der Pause aus, und nach dem Platzverweis gegen David Beckham hatten die Engländer ihre liebe Not, das 2:2 über die Zeit zu retten.

      Ayala, der zum Zeitpunkt unseres Treffens gerade Racing Club Buenos Aires trainierte, erinnerte sich gerne an das Spiel zurück. „Zunächst mal war da Owen“, sagte er. „Der Elfmeter, den er rausholte, und dann das tolle Tor, das er erzielte. Ich muss aber sagen, dass [José] Chamot und ich eine Menge Fehler dabei machten. Wir waren zu weit auseinander, ich stand falsch, außerdem wussten wir nichts über den Burschen. Über Shearer wussten wir alles, aber über Owen: nichts.“

      Im Elfmeterschießen war England kurzzeitig im Vorteil, als David Seaman gegen den zweiten argentinischen Schützen, Hernán Crespo, hielt. Aber Paul Ince konnte diesen Vorteil nicht nutzen und vergab seinerseits. Anschließend trafen Juan Verón und Paul Merson, ebenso Marcelo Gallardo und Owen. Dann war Ayala an der Reihe. „Ich war kein Elfmeterspezialist, und wir hatten im Training nicht geübt“, sagte er. „Unsere ersten vier Schützen schossen regelmäßig Elfer, aber ich nicht. Ich hätte mich nie geweigert, habe den Trainer [Daniel Passarella] aber auch nicht gefragt, warum er ausgerechnet mich für den fünften Versuch ausgewählt hatte. Ich wusste sofort, wohin ich schießen wollte. Ich ging davon aus, dass Seaman mich für einen ungelenken Verteidiger hielt und erwartete, dass ich auf meine natürliche Seite schießen würde, also visierte ich die andere Ecke an.“

      Ayala empfand nichts von der Furcht, über die Shearer sprach. „Ich verspürte keinen Druck, als ich zum Punkt ging. Ich empfand es vielmehr als aufregend. Mit einer Mannschaft verbinden sich so viele Träume, und ich dachte an all die Menschen, die uns und mir die Daumen drückten. Der Gedanke an ein Scheitern kam gar nicht erst auf. Ich wusste, dass ich treffen


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