Elf Meter. Ben Lyttleton

Elf Meter - Ben Lyttleton


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die Querlatte. Portugal lag 2:1 vorn und hatte mit dem nächsten Schuss die Chance, das Spiel für sich zu entscheiden.

      „Als Cristiano Ronaldo zum Elfmeterpunkt ging, sah er zu mir herüber. Ich streckte die Hände aus, um anzudeuten, dass es vorbei sei. ‚Das Ding ist gelaufen’, sagte ich. Ich wusste, er würde treffen. England war bereits geschlagen.“

      Ronaldo ließ sich Zeit. Er küsste den Ball, bevor er ihn auf den Punkt legte, und holte tief Luft. Er wartete einen Moment, nachdem der Schiedsrichter gepfiffen hatte. Sein Elfmeter war perfekt.

      Ich wollte von Ricardo wissen, warum England wieder mal verloren hatte. „Diese großen Namen verschießen, und das liegt nicht daran, dass sie die falschen wären. Sie spielen bei den besten Klubs der Welt, aber was in einem solchen Moment in ihnen vorgeht – ich weiß es nicht. Das ist reine Kopfsache. Sie müssen an ihrer mentalen Stärke arbeiten.“

      

      Ricardo meinte, in den beiden Spielen gegen England noch einen weiteren Vorteil gehabt zu haben: Er war selbst früher Stürmer gewesen und hatte Elfmeter geschossen. Für seinen ersten Verein Montijo spielte er zumeist im Angriff und ging nur dann ins Tor, wenn der Gegner ein großer Klub wie Sporting oder Benfica Lissabon war. Er war kopfball-stark und spielte nach seinem Wechsel mit 17 zu Boavista Porto eine Weile Mittelstürmer, bevor ihm geraten wurde, dauerhaft ins Tor zu gehen, wenn er es als Profi schaffen wollte. Trotzdem übte er weiterhin Elfmeter, oft für sich allein, ohne einen Torwart im Kasten. „Ich versuchte, den Ball genau zu platzieren. Schnörkellos und so oft es ging. Kein Problem.“ Schon bald war er Boavistas designierter Elfmeterschütze. Er traf fünfmal vom Punkt, so auch 2004 im Viertelfinale des UEFA-Pokals im Elfmeterschießen gegen Málaga.

      Wenn Ricardo seine beste Parade 2006 gegen Gerrard zeigte, so hatte er seinen besten Elfmeter bereits zwei Jahre vorher gegen England bei der EM 2004 geschossen. Eigentlich war er als sechster Schütze vorgesehen, aber nachdem Rui Costa den dritten Versuch vergeben hatte, verlor er die Übersicht. Er konzentrierte sich auf den Spielstand statt auf die Reihenfolge. In Lissabon zu spielen, bedeutete für die Portugiesen keinen so großen Vorteil, wie man hätte meinen können – Ricardo zufolge hielt sich die Zuschauergunst in etwa die Waage –, aber Ricardo schöpfte stattdessen Zuversicht aus einer unerwarteten Quelle.

      „Ich bemerkte den Linienrichter“, erzählte er mir. „Jedes Mal, wenn ich fast einen Elfmeter hielt, atmete er schwer aus. Ich sah ihn an und dachte: ‚Er will, dass wir gewinnen.‘ Er schien erleichtert, wann immer wir einen Elfmeter verwandelten. Mir war so, als drückte er uns die Daumen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war, jedenfalls erschien es mir so. Vielleicht habe ich nur nach etwas gesucht, an dem ich mich festhalten konnte, aber es half.“

      Nach jeweils sechs Elfmetern stand es 5:5. Den sechsten Schuss, für den eigentlich Ricardo vorgesehen war, hatte Postiga ausgeführt und verwandelt. Dann hatte Ricardo eine Überraschung parat. „Wir hatten Elfmeter trainiert, und ich hatte mir ein paar DVDs angesehen, um die englischen Spieler zu studieren“, erinnerte er sich. „Aber als ich Darius Vassell auf mich zukommen sah, dachte ich: ‚Kacke, warte mal. Ich habe auf der DVD jeden Spieler Elfmeter schießen sehen bis auf diesen Kerl. Nichts! Hat er überhaupt schon mal geschossen?‘ Ich schaute auf meine Hände. ,Mist, ich muss irgendwas tun!‘ Also riss ich mir die Handschuhe runter, ich zog sie einfach aus. Vassell schaute mich an, dann den Schiedsrichter, der nur meinte: ‚Ist schon okay so.‘“

      

      Ricardo fuhr in seinen Erinnerungen fort: „Ich weiß bis heute nicht, warum ich das getan habe. Ich hatte das vorher nie gemacht und auch seitdem nicht mehr, aber ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Ich war ganz auf den Moment konzentriert. Selbst heute, wenn ich zurückdenke, kann ich mich nicht an den Lärm erinnern. Ich höre gar nichts. Alles ist vollkommen still. Ich sah, dass Vassell sehr nervös war und am liebsten woanders gewesen wäre. Ich wusste, dass ich als Nächster schießen würde, und sagte zu mir: ‚Ich werde den hier halten und den nächsten versenken.‘“

      Und wirklich ahnte Ricardo die richtige Ecke und hielt. Als Nuno Valente, der als Schütze nach Postiga vorgesehen war, sich anschließend den Ball schnappen wollte, scheuchte er ihn weg. „Ich war an der Reihe, denn ich hatte meinen Einsatz verpasst. Nuno lief schleunigst in den Mittelkreis zurück. Ich hatte ihn noch nie so schnell laufen sehen! David James stand im Tor, und als er seine Arme ausbreitete, sah er so groß aus wie ein Haus. ‚Wo schieße ich bloß hin, Mann?‘ Genau dahin, wo er ihn nicht erreichen kann, denn er ist ein ziemlich großer Kerl: in die Ecke. Ich bewahrte einen kühlen Kopf. Das war ein großer Moment für mich.“

      Nachdem die Feierlichkeiten der Portugiesen abgeklungen waren, erhielt Ricardo einen Anruf seines Handschuhherstellers. Sie freuten sich, dass er zum Sieg beigetragen hatte, aber nicht so sehr, dass er den entscheidenden Elfer mit bloßen Händen gehalten hatte. „Sie forderten mich auf, es nicht noch einmal zu tun, und das habe ich auch nicht.“

      Sieben Jahre später schloss sich Ricardo dem damaligen englischen Zweitligisten Leicester City an. Der Trainer, der ihn holte, war Eriksson. An seinem ersten Tag beim Klub saß Ricardo in der Umkleidekabine, als er plötzlich einen Schrei vernahm: „Guten Morgen, guten Morgen, aaaaah! – Was machst du denn hier!?“ Es war Darius Vassell. „Er war ein netter Kerl, wir haben viel über den Moment geredet.“

      Die Kollegen nutzten die Gelegenheit, um Vassell noch einmal vom Punkt gegen Ricardo antreten zu lassen. Wieder hielt Ricardo. „Wir lachten darüber. Mann, das war schon lustig. Aber dann erzählte er mir, dass er damals vor dem Spiel gegen Portugal zu Eriksson gegangen sei und gemeint habe: ‚Trainer, sollte es zum Elfmeterschießen kommen, verschonen Sie mich bitte. Ich bin nicht darauf vorbereitet und zu jung dafür.‘ Der Bursche war fast noch ein Kind.“ Nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Portugal spielte Vassell nie wieder für England.

      Was kann England also tun, um sein Elfmetertrauma zu überwinden? Ricardo schlug mir drei Lösungen vor, denn „ich möchte England gewinnen sehen und ihnen Zuversicht geben“.

      

      1.Konzentriere dich nur auf das Positive.

      „Ein Elfmeter ist kein Problem, sondern eine Chance. Lampard und Gerrard treffen in der Liga immer, sie schießen viele Tore. Warum also versagen sie in wichtigen Momenten? Das muss mentale Ursachen haben. Sie dürfen nur auf einen positiven Ausgang eingestellt sein, nicht aufs Scheitern.“

      2.Höre nicht auf die Medien.

      „Natürlich lesen wir während solcher Turniere die Zeitungen. Die Engländer reden jeden Tag über Elfmeter und beten dafür, dass es kein Elfmeterschießen gibt. ‚Bloß kein Elfmeterschießen, bloß kein Elfmeterschießen!‘ Wenn die Engländer schlechte Erinnerungen daran haben, sollten sie nicht darüber reden. Abhaken und nach vorne schauen.“

      3.Vergiss die Vergangenheit.

      „Die Spieler müssen mental stark bleiben und herausbekommen, was für sie funktioniert. Als sie gegen uns verloren haben, konnte man förmlich sehen, was sie dachten: ‚Oje, wir haben schon wieder ein Elfmeterschießen verloren.‘ Beinahe so, als wäre es Schicksal. Die Jungs leiden zu sehr darunter. Man hatte das Gefühl, dass für die Engländer eine Welt zusammenbrach. Es ist wie ein Film, der ihnen ständig im Kopf herumspukt – und dessen Ende sie schon kennen.“

      Sechs Monate nach unserem Treffen an der Algarve hatte Ricardo sich seinen Stammplatz im Tor von Olhanense zurückerobert. Im Oktober 2013 erzielte er sogar ein Freistoßtor. Vielleicht ist es ein Trost für die Engländer, dass sie ihm nie wieder in einem Elfmeterschießen gegenüberstehen werden.

      Neben den Portugiesen haben auch die Deutschen gute Erinnerungen an Elfmeterschießen gegen England. Lothar Matthäus verriet mir, dass Selbstvertrauen und Konstanz die Gründe dafür waren, dass sich Deutschland im Halbfinale der WM 1990 in Turin durchsetzte. Für England war es das erste Elfmeterschießen überhaupt, während Deutschland sich in den beiden vorigen WM-Turnieren bereits gegen Frankreich (5:4) und Mexiko (4:1) im Elfmeterschießen durchgesetzt hatte.

      Matthäus schoss damals den zweiten


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