Die Robinson-Morde. Gretelise Holm
hatte Karin gesagt. »Ich werde wohl kaum darüber schreiben, aber die Gerüchte haben die alten Leute wirklich etwas ängstlich gemacht, wie ich von meiner Tante gehört habe. Hat Kwiums Sohn Sie um Morphium für den Vater gebeten?«
»Genau das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht«, hatte Wad geantwortet, gleichzeitig jedoch so warm gelächelt, dass es nicht wie eine Zurechtweisung klang. Und er war mit dem fortgefahren, was er unter einer »ganz abstrakten Betrachtung« verstand: »Es gibt Menschen, die schwer behindert sind und im Sterben liegen. Es besteht keine Hoffnung und sie leiden unter ihrer Existenz. Sollen wir eine Leichenschau anordnen und sie obduzieren und darin herumstochern, wie ihre Leiden ein Ende gefunden haben? Ob ein geliebter Verwandter oder ein beherzter Fachmann ein bisschen nachgeholfen hat?«
»Ja, das müssen wir wohl, solange es ein Gesetz gibt, das aktive Sterbehilfe verbietet«, hatte Karin gesagt.
»Das Gesetz steht über allem anderen, meinen Sie?«
»Nein, das meine ich nicht, aber man soll sich im Alter noch sicher fühlen können. Und wenn es nach dem freien persönlichen Ermessen anderer Menschen geht, ob man sterben soll ...«
»Da haben Sie Recht. Die Problemstellung ist ungeheuer schwierig. Eigentlich glaube ich nicht, dass sich das gesetzlich regeln lässt, aber man könnte ein wenig ... pragmatisch sein«, hatte Wad gesagt.
Karin hatte ihm Recht geben müssen, doch als sie auf dem Weg zu der Tante das Gespräch analysierte, kam sie zu dem Schluss, dass Jörgen Wad in Wirklichkeit gesagt hatte, dass er einen Verdacht auf Sterbehilfe gehabt, doch, so wie die Situation nun einmal war, keinen Grund zu Nachforschungen gehabt hatte.
Und hatte er nicht Recht? Warum kreiste sie um diesen banalen Todesfall? War sie dabei, den Sinn für das Angemessene zu verlieren?
Auf dem Parkplatz des Altenheims standen Sune Kwium und Inger-Margrethe Jörgensen.
»Und, haben Sie das Inselleben studiert?«, fragte Kwium.
Karin nickte und er fuhr fort: »Sie sollten wissen, dass alles wieder seine Ordnung hat. Inger-Margrethe hat den Satanisten gefeuert.«
»Ich weiß.«
»Werden Sie darüber schreiben?«, fragte die Centerleiterin.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Karin, nur um sich abzusichern.
»Dazu besteht kein Grund. Alle sind zufrieden«, sagte Kwium und wandte sich an Inger-Margrethe: »Ja, dann komme ich Montagabend mit dem Umzugswagen und räume Vaters Wohnung.«
Sie sagte: »Und du hast nichts dagegen, dass ich in seinem Protokoll lese? Es ist ja eine Art Beurteilung des Personals und wir können bestimmt etwas daraus lernen.«
»Natürlich nicht, Inger-Margrethe.«
Und wie um die Intimität zwischen ihnen zu erklären, wandte er sich an Karin: »Wir sind alte Klassenkameraden, Inger-Margrethe und ich. Vater war unser Lehrer.«
»Ein richtig guter Lehrer, dem wir viel zu verdanken haben«, sagte Inger-Margrethe.
»Streng, aber gerecht«, fügte Sune Kwium hinzu.
»Schön, ich muss zu Tante Agnes. Sie will Karten spielen«, sagte Karin.
Sie haben den Knaben gefeuert, der sauber gemacht hat. Er stand mit dem Satan im Bunde, heißt es.«
Agnes kaute nachdenklich auf ihrem Zigarillo.
»Ja, das ist jetzt modern«, antwortete Karin und erzählte von ihrem Besuch bei den Satanisten und der Geisterbeschwörung, bei der man den Satanisten beschuldigt hatte.
»Mir fällt es schwer zu glauben, dass er das gewesen sein soll«, sagte Agnes.
»Glaubst du immer noch, dass Gustav Kwium ermordet worden ist?«, fragte Karin.
Agnes nickte.
»Und unsere Centerleiterin Inger-Margrethe glaubt das auch. Sie hat den ganzen Tag seine Wohnung durchstöbert und jedes einzelne Blatt Papier umgedreht. Ich weiß es von Johanne und Kaj, die auf demselben Gang wohnen.«
»Er war doch ein sehr alter und sehr kranker Mann«, warf Karin ein, aber Agnes überhörte es und fuhr fort: »Und man stellt so seine Vermutungen an, wer der Nächste sein wird.«
»Wer stellt Vermutungen an?«
»Johanne und Kaj.«
»Also Agnes, hier wird niemand umgebracht!«
»Ja, das sagst du«, murmelte Agnes. »Aber irgendjemand weiß es scheinbar besser.«
»So, und jetzt packst du die Spielkarten ein, Agnes«, sagte Karin resolut. »Wie lange spielt ihr normalerweise?«
»Bis die Flasche leer ist.« Agnes lachte. »Es wird wohl nach Mitternacht werden, aber darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Jens Lyn ist einer der Mitspieler, er kann mich nach Hause fahren.«
»Doktor Wad hat mich für morgen Abend zum Abendessen eingeladen«, erzählte Karin, während sie den Rollstuhl zusammenklappte, damit er ins Auto passte.
»Hat er das? Ja, amüsier dich nur, aber pass auf. Man erzählt sich, dass er ein Schürzenjäger ist. Ich habe gehört, dass er siebenmal verheiratet war und 13 Kinder hat!«
»Aber das spricht doch nur für ihn. Ich freue mich richtig!«, antwortete Karin. Und fügte, als sie hinter dem Steuer saß, hinzu: »Steht er auch im Verdacht, die Leute im Altenheim umzubringen?«
»Jedenfalls spart er nicht an Medikamenten. Er hat mir alles Möglichen angeboten, Paracetamol und Gichtpillen und so.«
Im Büro der Centerleiterin Inger-Margrethe Jörgensen brannte Licht. Die halbe Nacht las sie in Gustav Kwiums hinterlassenen Aufzeichnungen über das Altenheim und dessen Personal. Alle hatten Noten bekommen, sie selbst inklusive, und in vielen Beziehungen hatten die Texte Ähnlichkeit mit den Ermahnungen, die während der Schulzeit in ihren Mitteilungsheften gestanden hatten.
Darüber hinaus enthielt das Buch Zitate und Bibelstellen, die er sich offenbar hatte merken wollen, sowie kurze Betrachtungen und Gedächtnishilfen. Eine Reihe kleiner Notizen, in denen es um Strafe ging, erregte ihre Aufmerksamkeit. Hatte der religiöse Lehrer sich schließlich doch vor der Hölle gefürchtet? Die allerletzte Eintragung im Protokoll lautete: »Heute kommt die Strafe«. Aber es hatte schon ungefähr einen Monat vor seinem Tod angefangen: »Ich hatte die Strafe vollkommen vergessen«. »Ich fürchte die Strafe trotz allem« und: »Ich hoffe, dass das nicht der Tag der Strafe ist.«
Er war schwächlich gewesen, aber nicht im eigentlichen Sinne dement. Es war seltsam, dass das Thema Strafe schließlich zu einer Art fixen Idee bei ihm geworden war. Sune hatte auch nicht verstehen können, was sich im Gemüt des Vaters gerührt hatte. Gustav Kwium war ein Mann gewesen, den im Himmel eher Belohnung als Strafe erwarteten sollte.
Die Centerleiterin teilte die Abendmedikamente selbst aus. Gleichzeitig legte sie ein paar Fallen aus. Sie hatte nämlich entdeckt, dass aus den verschlossenen Depots der alten Leute Medikamente verschwanden. Die Täterin musste unter den beschäftigten Helferinnen sein und sie wollte versuchen, die Schuldige zu entlarven. Sie notierte sich, wer auf den verschiedenen Abteilungen Dienst hatte und wo die verlockenden Medikamente deponiert waren.
Draußen auf dem Gang schlurfte die senile Johanne in Unterwäsche mit ihrer Gehhilfe herum. Sie guckte in alle Zimmer und schien nach etwas oder nach jemandem zu suchen.
Als sie Inger-Margrethe erblickte, steuerte sie auf sie zu und fragte: »Wer bist du?«
»Das weißt du doch. Ich bin’s, Inger-Margrethe, ich bin die Krankenschwester und du weißt genau, dass du nachts nicht herumlaufen und die anderen stören sollst. Jetzt bringe ich dich in dein Zimmer und ins Bett.«
»Nein, vielen Dank, ich will nicht die Zähne in den Hals geschoben bekommen!«
»Ja, aber liebe Johanne. Das bekommst du doch auch nicht. Ich lege sie in dein Zahnglas.«
»Ihr