Die Robinson-Morde. Gretelise Holm

Die Robinson-Morde - Gretelise Holm


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man über die sprachliche Schminke und nannte das große, rote Gebäude aus den 50er Jahren weiterhin Altenheim. Diesem stand übrigens ein größerer Anbau bevor. Der Altenbereich war der einzige Bereich auf der Insel, der im Wachstum begriffen war und die Pensionärsvereinigung war die größte Organisation, die es hier gab.

      »Denn fleischlich gesinnt ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag’s auch nicht«, fuhr die Pfarrerin mit ihrem Paulus-Zitat fort und versuchte einige der leeren, resignierten Blicke der alten Inselbewohner einzufangen, die hin und wieder zueinander hinüberschielten und sich fragten, wer wohl als Nächster im Sarg liegen mochte. Du oder ich?

      Zu Kwiums nächster Familie gehörte ein Sohn, der vor ein paar Wochen auf die Insel gekommen war, weil er glaubte, dass es mit seinem Vater zu Ende ging. Er saß mit seiner Frau, einem erwachsenen Sohn und ein paar entfernteren Verwandten zusammen. Sie machten einen steifen und resignierten Eindruck und nichts in ihrer Körpersprache ließ darauf schließen, dass sie einander kannten.

      Hier und da flossen ein paar Tränen, aber die hatten nicht viel mit dem Toten zu tun. Die Leute nutzten lediglich die Gelegenheit, über sich und die Bedeutungslosigkeit des Lebens zu weinen.

       »Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt.«

      Die Pfarrerin ließ ihre Stimme so salbungsvoll klingen wie möglich und sah einige der jüngeren Gäste des Beerdigungsgottesdienstes direkt an. Oder richtiger, die mittleren Alters: Ehemalige Schulkinder aus früheren Tagen, die gekommen waren, um ihrem Lehrer die letzte Ehre zu erweisen.

      Das Personal des Altenheims saß auf einer separaten Kirchenbank, auf der auch die Journalistin Karin Sommer saß und versuchte, an ihrer professionellen Beobachterrolle festzuhalten. Das war nicht leicht. Die Erinnerungen an das letzte Begräbnis, dem sie vor bald einem Jahr beigewohnt hatte, stürmten auf sie ein und bohrten Löcher in das dünne Narbengewebe, das sich über die Trauer gelegt hatte, die sie fast nicht hatte aushalten können.

      Als Britta Olsen, ihre Banknachbarin, eine kleine, gedrungene Pflegehelferin mit dünnem, rotblondem Haar und ungesundem, gräulichen Teint, laut zu weinen begann, holte Karin auch ein Taschentuch hervor und nutzte die Gelegenheit, dem Druck auf die Tränenkanäle nachzugeben. Das erleichterte. Jetzt konnte sie sich wieder auf ihre Umgebung konzentrieren und Details für den Artikel über das Leben auf einer der kleinen Inseln sammeln, die zum Verbreitungsgebiet der »Sjaellandsposten« gehörten.

      Der Artikel über das Inselleben war Teil des Abkommens, das sie mit der Redaktion geschlossen hatte. Sie hatte um drei Monate unbezahlten Urlaub gebeten, um ein Projekt zu verwirklichen, für das sie viele Jahre Material gesammelt hatte: Eine Streitschrift über die Anatomie der Hexenjagd. Ein Verlag war interessiert und sie konnte kostenfrei in Tante Agnes’ kleinem, pittoreskem Fachwerkhaus – dem Fliederhaus – auf Skejø wohnen. So kam sie aus ihrem gewohnten Umfeld heraus und konnte sich ungestört auf das Schreiben konzentrieren.

      Der Redaktionsleiter der »Sjaellandsposten«, Adam Lorentzen, hatte der Idee überraschend positiv gegenübergestanden. Vielleicht witterte er eine Möglichkeit, dadurch einen Teil der älteren Mitarbeiter loszuwerden. Karin selbst witterte eine Möglichkeit, sich von der Last der Festanstellung freizuschreiben.

      »Ein gutes Thema, eine gute Idee, so ein Buch über die Hexenjagd im Lauf der Jahrhunderte. Wir bekommen natürlich einen curtain raiser, bevor es herauskommt«, hatte der junge Chef gesagt. Ein curtain raiser war heutzutage das, was man in Karins Journalistengeneration einen Vorabdruck genannt hatte.

      »Und du wirst auf Skejø wohnen, sagst du? Natürlich gibt es viele dieser kleinen Inseln, aber wir haben nie eine ordentliche, gut recherchierte Artikelreihe darüber gebracht, wie es wirklich ist, dort zu leben. Ich meine: Man lebt in einer Provinzstadt, und die gleichen sich fast alle wie ein Ei dem anderen und wenn man zwischen den Kleiderständern in der Fußgängerzone steht, könnte man überall sein. Man hat keine Ahnung, ob man in Thisted ist oder in Köge. Doch fährt man nur 20 Kilometer weiter und eine halbe Stunde mit der Fähre, ist man plötzlich in einer ganz anderen, fernen Kultur«, fuhr er fort.

      »Ja, auf Skejø gibt es bestimmt noch Rollo-Gardinen an den Fenstern und Wasserklos auf dem Hof«, antwortete Karin, die sich gerade die Homepage der Insel im Internet angesehen hatte.

      »Du wirst ja eine Zeit lang dort leben und wenn dabei drei Samstagsartikel herauskommen, bekommst du weiterhin dein Gehalt. Schreib etwas gesellschaftlich-soziologisches, gewürzt mit ein paar Alltagsgeschichten und kleinen, netten Eigentümlichkeiten. Die Alterspyramide kippt, weil die Jungen die Insel verlassen und außer Volkstanz und Holzschuhwalzer für die Touristen nichts bleibt, wovon man leben kann. Jeder kennt jeden und der Tratsch blüht, usw. Daraus kannst du bestimmt etwas machen!«

      Das war ein gutes Angebot und sie hatte es angenommen. Drei Monate volles Gehalt für eine Arbeit, für die sie im Stillen maximal sieben Tage effektiver Arbeit veranschlagte. Ein paar harmlose, unverfängliche Features mit gemäßigter Problematisierung der Wirtschafts- und Bevölkerungsprobleme kleiner Inseln.

      Und der Stoff für die Artikel kam fast wie von selbst. Jetzt musste sie ihn nur noch thematisieren und von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchten. Gerade als sie Tante Agnes, die in einer der Altenwohnungen des Seniorencenters wohnte, einen vergnüglichen Besuch abgestattet hatte, waren der Bestattungsunternehmer und die Pfarrerin gekommen, um Gustav Kwium in den Sarg zu legen und für ihn zu singen. Sie hatte Agnes im Rollstuhl zu der kleinen Feierlichkeit im Altenheim gefahren und heute der alten Frau geholfen, in die Kirche zu kommen. Tod und Begräbnis waren Teil der Kultur. Jetzt saß sie hier und nahm alles in sich auf.

      Die Pfarrerin hatte in ihrer Begräbnispredigt einen natürlichen Übergang vom Geist Gottes zum Geist der Schule und der Insel gefunden, den der Verstorbene durch Generationen geprägt hatte. 40 Jahre hatte er unterrichtet, zuerst in Nordby. Das war zu der Zeit, als sowohl Nordby als auch Sönderby eine eigene Schule hatte. Und später an der Zentralschule, die in ihrer Blütezeit sieben Klassen hatte, jetzt aber nur noch drei.

      Aus diesem Grund konnte das Begräbnis auch nicht ganz so verlaufen, wie Gustav Kwium sich das in einer 30 Jahre alten Anweisung gewünscht hatte. Sie war während einer schlimmen Grippeepidemie entstanden und sein Sohn hatte sie gefunden und dem Bestattungsunternehmer und der Pfarrerin überlassen. Der alte Lehrer hatte gewollt, dass der Chor der Klassen 6 und 7 »Ein feste Burg ist unser Gott« sang, doch weder die Klassen noch den Chor gab es noch.

      Darüber hinaus hatte sich Gustav Kwium gewünscht, dass die Pfarrerin die Hinterbliebenen aufforderte, sich die Tränen abzuwischen, da ein Tag, an dem jemand zu Gott heimgerufen wurde, niemals ein Trauertag sein konnte.

      »Jetzt ist Gustav Kwium zu Gott heimgerufen worden«, beendete die Pfarrerin ihre Predigt und holte tief Luft.

      In der darauf folgenden Pause entstand Unruhe in einer der vorderen Bankreihen und als Nächstes bemerkte Karin eine magere, alte Frau mit einem stramm unter dem Kinn gebundenen Kopftuch und einem erhobenen Krückstock neben dem mit Blumen geschmückten Sarg.

      Die Alte wandte ihr Gesicht der Pfarrerin zu, schlug mit dem Krückstock hart auf den Sargdeckel, dass die Blumen nach allen Seiten flogen und sagte mit einer so hohen Stimme, dass sie in dem altromanische Kirchenschiff widerhallte:

      »Von wegen, er wurde heimgerufen zu Gott. Er ist vom Inselrat abgewählt worden. Genau wie bei ›Robinson‹ im Fernsehen.«

      Ein paar Sekunden war es totenstill in der Kirche – alle hielten den Atem an, bis Britta Olsen – die Pflegehelferin neben Karin – nach Luft rang und flüsterte: »Johanne ist senil und verwirrt.«

      Aber taub war die Alte nicht. Jetzt zeigte sie mit dem Krückstock direkt auf die Pflegehelferin und sagte: »Ja, das glaubst du doch selbst nicht. Die Wahrheit hört man nicht gern, aber jetzt muss sie raus – egal wie. Für wen hast du gestimmt – oder warst du diejenige, die ihn in den Himmel geschickt hat?«

      Karin Sommer konnte nur mit Mühe ein gewaltiges Kichern unterdrücken. Sie biss sich auf die Zunge und las konzentriert


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