Die Robinson-Morde. Gretelise Holm
ihren unterdrückten Lachanfall nur noch, weil ihr plötzlich einfiel, wie sie diese Verszeile in ihrer Kindheit wortwörtlich genommen hatte: Man konnte eine Fliege ins Auge bekommen, aber offenbar auch einen schwarzen Star, der – mit der Klaue um den Augapfel – so fest saß, dass man davon befreit werden musste.
Ein halb erstickter Gurgellaut entwich ihren Lippen und sie hustete kräftig, um ihn zu verbergen, doch dann wurde sie von der Orgel und »Ein feste Burg ist unser Gott« gerettet.
Die senile Johanne wurde von dem Bestattungsunternehmer behutsam auf ihren Platz geleitet. Sie saß zwei Reihen weiter vorne – direkt vor Karin. Als der Bestattungsunternehmer sie zu ihrem Platz führte, strahlte sein Gesicht mild und jovial, doch als er sich hinunterbeugte und der Alten zur Ablenkung ein Gesangbuch reichte, fing Karin einen Bruchteil von Sekunden den Ausdruck unverkennbarer Angst in seinen Augen auf. Angst, Schock oder Verzweiflung? Karin verfügte über einen gut entwickelten Sinnesapparat, doch der Eindruck war so flüchtig, dass sie ihn nicht richtig einordnen konnte. Trotzdem war sie sich ihrer Sache sicher. Der heitere Bestattungsunternehmer, bekannt als Zeremonienmeister und feucht-fröhlicher Sohn der Fassbieranlagen, hatte Angst.
Das Begräbnis endete würdig mit der Beisetzung auf dem kleinen Friedhof, der zum Wasser hin lag – vom Strand durch eine niedrige Friedhofsmauer getrennt. Die Wellen schwappten schläfrig über den vom Brackwasser olivgrünen Strand und ein paar Jollenfischer tuckerten zwischen den Stellnetzpfählen herum, während die Pfarrerin Anna Skov Gustav Kwium die Wiederauferstehung von den Toten versprach.
Der Bestattungsunternehmer hatte das Gesicht wieder in angemessene Falten gelegt, bedankte sich im Namen der Familie und lud zu Kaffee und Kuchen in Sejlerslyst ein, einer Gartenwirtschaft, die anlässlich des Tages geöffnet hatte, obwohl keine Saison war.
Jens Lyn fuhr die Alten zwischen Kirche und Restaurant hin und her. Der 70-jährige Taxiunternehmer der Insel war dafür bekannt, dass er sich nur selten zu mehr als 30 km/h aufrappelte, was ihm den Spitznamen Lyn – Blitz – eingebracht hatte.
Johanne stand in der Gruppe der wartenden alten Leute und sprach davon, dass man sie aufhalten musste, weil sonst bald niemand mehr im Altenheim übrig sein würde. »Jeden Monat wählen sie mindestens einen ab. Waren wir seit dem letzten Pfingstfest nicht vielleicht fünfzehn Mal hier auf dem Friedhof?«
»Nein, siebzehn Mal«, sagte einer der alten Männer gereizt.
»Genau das habe ich immer gesagt: Du bist ein Quatschkopf, Johanne. Und dein Unterrock schaut raus.«
Die letzte Bemerkung, die von einer süßen, gleichaltrigen Freundin kam, machte Johanne vollends betroffen. Sie trippelte herum und zog den Rock mit Hilfe ihres Gürtels zurecht, bevor Jens Lyn ihr in den Bus half.
Im Amtszimmer der Kirche zog Anna Skov sich um. Der Talar wurde durch einen grauen Rock und eine dunkelblaue Bluse ersetzt, ihre Standardkleidung für Kaffeeeinladungen nach Begräbnissen.
Anschließend ging sie hinter den Altar, wo sie aus einem kleinen, verbogenen Hohlraum hinter der geschnitzten Altartafel ein Serumröhrchen nahm, das eine geronnene Flüssigkeit enthielt. Sie steckte es in ihre Handtasche.
»Willst du einen Schluck?«, fragte Tante Agnes und zog eine unschuldig aussehende Plastikflasche mit selbst gebranntem Hagebuttenschnaps aus der Tasche, während Karin rückwärts vom Kirchenparkplatz fuhr.
»Ja, danke. Dieses Begräbnis muss ich erst mal verdauen«, antwortete sie.
»Für mich ist das die reinste Medizin.«
Das war eine rituelle Äußerung, die Agnes jedes Mal von sich gab, wenn sie einen kleinen Schluck aus der Flasche nahm. Agnes plagte die Rückenpest, wie sie sich ausdrückte. In den letzten Jahren hatte die frühere Gymnastiklehrerin sich nur in ihrem elektrischen Rollstuhl fortbewegen können und war aus ihrem Haus in eine der 20 eigenständigen Altenwohnungen gezogen, die dem Altenheim angeschlossen waren.
Für Karin war es ein Glück im großen Unglück gewesen, als Agnes vor einem Jahr aufgetaucht war und ihr eröffnet hatte, dass sie miteinander verwandt waren. Karin konnte sich nur schwach erinnern, dass ihre längst verstorbene Mutter von einem Zweig der Familie erzählt hatte, der auf einer der Inseln südlich von Seeland und Fünen zu Hause war, wo sie – die Mutter – bestimmt eine Kusine hatte.
Und gerade als Karin glaubte, überhaupt keine Familie mehr zu haben, war Agnes mit Jens Lyn in die Stadt gekommen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, was passiert war – »Du kannst bestimmt einen Schluck brauchen, mein Mädchen!«
Das konnte Karin, genau wie sie Familie brauchte, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt so verzweifelt war, dass sie sich kaum über ihre Bedürfnisse im Klaren war. In einer Art gefühlsmäßiger Trance war sie der Tante nach Skejø gefolgt.
»Ich werde ins Altenheim ziehen und du musst mir ein paar Tage helfen. Du bist meine einzige Verwandte, also bist du dazu verpflichtet!«, hatte Tante Agnes angeordnet.
Später hatte Karin begriffen, dass sie auf einen lieb gemeinten Trick hereingefallen war. Hunderte von Inselbewohnern wären bereit gewesen, Tante Agnes bei ihrem Umzug zu helfen.
Agnes, der Umzug und die kleinen Schlucke hatten Karin geholfen.
Irgendwann hatte der Arzt angerufen und ihr vorgeschlagen, Krisenhilfe bei einem Psychologen in Anspruch zu nehmen.
»Unsinn«, hatte Tante Agnes gesagt. »Heute bieten sie einem Krisenhilfe an, wenn man sieht, wie ein Mann mit dem Fahrrad umkippt. Putz dir die Tränen ab und nimm einen Schluck.«
Agnes konnte so etwas mit Autorität sagen. Ihr Sekretär war mit verblichenen Bildern von Mann und Sohn voll gestellt. Sie waren mit der Jolle zu weit hinaus geraten und von einem Unwetter überrascht worden. Die Jolle war nach ein paar Tagen mit dem Bootsboden nach oben an Land getrieben. Mann und Sohn wurden zwei Wochen später gefunden. Das war vor 35 Jahren und Agnes hatte nie wieder geheiratet. Obwohl es nicht an Bewerbern gefehlt hatte, wie sie gerne betonte. Ja, eine ganze Reihe von Jahren hatte praktisch jeder Witwer im Fliederhaus vorgesprochen – und auch ein paar Junggesellen waren darunter gewesen.
»Unmittelbar nachdem das mit Anders und Mads passiert ist, habe ich oft daran gedacht ihnen zu folgen, aber dann habe ich mir gesagt: Agnes, habe ich gesagt, es ist dumm und überflüssig, sich für den Tod zu entscheiden, denn das einzig Gewisse ist, dass er sich für dich entscheiden wird.«
Karin hätte keine kompetentere Krisenhilfe bekommen können und hatte seitdem Agnes so oft besucht, wie es ihr möglich war. Agnes selbst verließ Skejø nur ungern. Sie meinte, dass sie in ihrem 78 Jahre langen Leben nur ein halbes dutzend Male drüben gewesen war. Zu einigen Gymnastiktreffen, um ein paar offizielle Papiere in Empfang zu nehmen, als sie Witwe wurde und zuletzt die Fahrt mit Jens Lyn, um Karin zu holen.
»Das hat gut getan«, sagte Karin und gab die Flasche mit dem selbst gebrannten Hagebuttenschnaps zurück.
Agnes hatte von ihrem Obstanbau gelebt und, bis sie in die Altenwohnung gezogen war und das Land verpachtet hatte, ihre Pension mit dem Straßenverkauf von Obst, Marmelade und Saft aufgebessert – sowie dem Schwarzverkauf der Produkte aus ihrem Hauswirtschaftsraum, in dem sie eine Destillationsanlage zum Selbstbrennen hatte. Jeden Dienstag in den ungeraden Wochen, wenn der Landpolizist auf die Insel kam und zwei Stunden Sprechstunde abhielt, wurde sie sorgfältig mit weißen Laken abgedeckt.
Ein Kreis dankbarer, hilfsbereiter Freunde fuhr Agnes regelmäßig zum Fliederhaus, damit sie ihre Kolben im Hauswirtschaftsraum weiter bedienen konnte.
Das war eins der unterhaltsamen Details, die Karin bedauerlicherweise nicht in ihre Artikel über das Inselleben aufnehmen konnte. Sie musste überhaupt vorsichtig sein, wenn sie auch weiterhin auf die Insel kommen wollte.
Diese kleine Episode mit Johanne in der Kirche. Ich gehe nicht davon aus, dass wir darüber etwas in der Zeitung lesen werden.«
Die Pfarrerin sprach sie beim Gedächtniskaffee an.
»Nein, nein, natürlich nicht«, antwortete Karin. Und dachte bei sich, dass es eigentlich recht lustig wäre. Sie hätte es als Einleitung