Der Liebesentzug. Pernille Rygg

Der Liebesentzug - Pernille Rygg


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      Pernille Rygg

      Der Liebesentzug

      Saga

      Bei der Abzweigung zu seinem Haus bleibe ich stehen. Der Nieselregen hat aufgehört, der Wald für einen Moment alle Geräusche verloren, so, wie er durch Feuchtigkeit und Nebel fast seine Farbe verloren hat. Alles hier ist Grau und verwaschenes Grün, träges Umbra, schmutziggelbes Rindenbraun. Mit Ausnahme von den Brettern seiner abgenutzten Südwand, die ab und zu zwischen den Bäumen zu sehen ist. Streifen von etwas schwerem Rotem in diesem vielen Grau, vom Alter gezeichnetes Messingrot zwischen den dichten Tannen.

      Ich halte den Atem an. Nichts zu hören. Aber er ist zu Hause, das weiß ich, denn ich habe seinen Wagen auf den Kiesweg abbiegen sehen, als ich an den Feldern entlang zur Kreuzung ging. Sein blauer Pritschenwagen kam aus der Gegenrichtung, bremste unten an der Kreuzung und fuhr in den Wald.

      Vielleicht hat er mich entdeckt. In diesem leichten Regen mit Helly-Hansen-Anzug, Gummistiefeln und gelbschwarzem Rucksack. Es ist möglich. Dass er mich gesehen hat und trotzdem in den Wald abgebogen ist, ohne anzuhalten.

      Aus seinem Haus und aus dem Wald ist kein einziges Geräusch zu hören. Kein Rufen. Kein heiseres Jammern. Alles ist einfach still.

      So wollen wir es vermutlich auch. Was sonst sollten wir hier suchen, wenn nicht diese Stille?

      Amunds Haus liegt nur dreihundert Meter von unserem entfernt, aber es sind dreihundert Meter mit dichtem Wald, ein dunkler und ziemlich lebloser Puffer; einem Pflanzenfeld in unterschiedlichen Wachstumsstadien. Er ist den Weg zu uns nie entlanggegangen, soviel ich weiß. Wann habe ich ihn eigentlich zuletzt gesehen? Vor zwei, drei Wochen? Auch damals ist er nicht stehen geblieben. Er zerrte seinen Hund weiter und war kreideweiß im Gesicht, seine Augen waren schwarz und schauten ins Leere. Der Schnürsenkel an seinem einen Turnschuh hatte sich gelöst und schleifte durch den Kies. Der Hund erhob sich auf die Hinterbeine und kläffte wütend und heiser, als er mich sah, aber er riss das Tier zurück. Die kurze funkelnde Kette zeichnete einen glitzernden Bogen, ehe sie sich wieder wie ein Draht zwischen ihnen spannte. Wie ein Stahldraht zwischen Cäsars anschwellendem Hals und Amunds fest geballter Faust.

      Ich blieb stehen, grüßte. Er zog den Hund bis zum Wegrand, um mich vorbeizulassen, ließ den Schnürsenkel durch den Dreck schleifen, registrierte wohl, dass ich stehen geblieben war, ging aber selber weiter. Er sah krank aus, kraftlos, abgesehen von dem Arm, der die Kette festhielt.

      Er ist jetzt tot, dieser Hund.

      Ich will nach Hause. Dreihundert Meter Kiesweg, vorbei an Amunds Haus. Hier wohne ich jetzt. Hier wohnen wir, Ragne und ich. Ich staune noch immer darüber. Und wir haben einen Hund. Ragne hat einen Hund, wir haben einen Hund, ich wohne in einem Haus mit einem Hund tief im Wald, und wer im Wald wohnt, legt sich oft einen Hund zu, denn die Nächte dort sind dunkel, und sollte jemand kommen, während es dunkel ist, würde der Hund aufwachen.

      Er wartet jetzt auf mich, steht zitternd bei der Tür und kämpft gegen den Drang zu bellen, denn er erkennt meine Schritte und weiß, dass ich komme.

      Es war ein schneearmer Winter, und wir haben das Gestrüpp vor dem Wohnzimmerfenster schon entfernt. Wir können jetzt den See sehen. Er liegt blank vor und unter uns, unterhalb der Böschung, auf der niedrige, aber dichte Büsche stehen. Da unten werden wir sicher auch fällen müssen. Weiter als bis zum See, der eigentlich nur ein Tümpel ist, können wir nicht blicken. Am anderen Ufer beginnt wieder das Unterholz, es streckt sich den ganzen See entlang und vermischt sich dann mit dem wirklichen Wald, dem unordentlichen und verwucherten, in dem sich Brennholz schlagen lässt, zu viel mehr taugt er nicht. Die Felder sehen wir nicht, aber sie liegen hinter den Bäumen, sie sind weit und sanft.

      Im Sommer müssen die Wände des Hauses abgekratzt und neu angestrichen und die Fenster gekittet werden. Aber das Gestrüpp ist zum Glück schon verschwunden. Bei meinem ersten Besuch hier stand es ganz dicht und schwarz vor dem Wohnzimmerfenster. Das ist jetzt über ein halbes Jahr her, und es war auch an einem Sonntag. Das gehört wohl zu den Ragne-Tricks mit dem ersten Besuch, darin zeigt sich vielleicht ihr bisweilen ziemlich seltsamer Sinn für Humor. Doch es war außerdem ein Kristin-Trick, denn auch ich habe gespielt. Das weiß sie nicht.

      Irgendjemand – Nikolas, glaube ich – hat mir einmal erzählt, dass er sich zuerst die Bücherregale ansieht, wenn er neue Leute besucht. Auf diese Weise glaubt er, sich ein Bild von den Besitzern machen zu können. Eine bestimmte Sorte von Büchern verrät den Charakter der Besitzer; ich weiß nicht mehr, welche Bücher er meinte, vielleicht Buchclubausgaben, oder waren es Taschenbücher? Aber ich weiß noch, wie empört ich bei der Vorstellung war, wie er mit zusammengekniffenen Augen dastand und Buch um Buch addierte, daraus einen Charakter erhielt, eine entblößte Persönlichkeit sozusagen, die von einem Teil ihrer Habseligkeiten verraten worden war. Seither habe ich versucht, mir fremde Bücherregale nicht zu genau anzusehen, so als könnten sie etwas Intimes enthalten, etwas, mit dem ich lieber nichts zu tun haben will. Wie schmutzige Unterhosen in einem Kleiderschrank oder zwischen zwei Sofakissen versteckte private Briefe.

      Ich wüsste gern, ob einzelne Titel seiner Meinung nach auf diese Weise entlarvend wirken, oder ob es die Sammlung an sich sein muss. Vielleicht ist es ja beides.

      Wenn jetzt jemand das Haus sähe, zum ersten Mal herkäme, wie ich vor einem halben Jahr, wenn jemand zufällig oder scheinbar zufällig herkäme, wie würde diese Person dann die Baumstümpfe deuten? Würde sie sich die gelblichen Schnittflächen ansehen, die noch die Überreste von Gestrüpp und Unterholz aufweisen, oder würde sie eher auf die Wandbretter achten, auf die undichten Fenster, und sich vorstellen, dass jemand eine Arbeit angefangen und aufgegeben hätte, resigniert, weil es zu viel war? Vielleicht würde diese Person denken, dass das Unterholz entfernt worden sei, weil jemand – eine abwesende Besitzerin, ein Nachbar – Holz benötigt hätte?

      Dann würde sie durchs Fenster schauen. Und etwas finden, was sie in ihrer Vorstellung bestärken würde. Oder diese entkräften würde. Vielleicht würde das graue Wetter ihre Gedanken lenken. Das graue Wetter und der Hund, der bellt, weil er nicht weiß, wer da kommt. Meine Schritte kennt er und kann sich deshalb beherrschen, aber auch das ist oft ein harter Kampf.

      Natürlich kannte ich den Inhalt von Ragnes Bücherregalen schon, als ich zum ersten Mal mit ihr hier war, so, wie das der Fall ist, wenn man sich im Laufe der Zeit häufiger an einem Ort aufhält, und es sich nicht vermeiden lässt, dass man diese Dinge registriert, auch wenn man nicht sucht, nicht forscht.

      Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ausgiebig in ihren Habseligkeiten herumstöbern können, um etwas zu finden, was immer neue Züge an ihr entlarven könnte, im Bücherregal oder anderswo. Ich hätte mit einem solchen Ziel vor Augen ihren Küchenschrank durchsuchen, hätte aus den Brotkrümeln ganz hinten Zeichen und Bedeutung herauslesen oder dem Fehlen von Brotkrümeln einen besonderen Sinn beimessen können.

      Dazu geben wir uns die Möglichkeit, wenn wir lange schlafen, wie Ragne das an ihren freien Wochenenden tut. Oder wenn wir uns gegenseitig Zugang zu den Gegenständen gewähren, die uns umgeben. Wir deuten. Sagt es etwas über Ragne aus, dass der kleine Tisch in ihrer Küche eine Resopalplatte hatte statt einer aus Holz? Dass der Sessel vor ihrem Wohnzimmerfenster mit verschlissenem grünem Velours bezogen war? Erzählte das etwas über ihren Charakter? So, wie ich es vermied, die Bücher in ihrem Regal zu einem einzigen Buch zusammenzuziehen, das ihre Person beschrieb, vermied ich es auch, die Gegenstände, die sie umgaben, als Installation zu betrachten, als Ragne, beschrieben als räumliche Form.

      Die Wohnung war immer tadellos aufgeräumt, wenn ich Ragne in der Jac Aalls Gate besuchte, so, wie auch dieses Haus hier aufgeräumt ist. Damals war ich zumeist an den Wochenenden bei ihr. Manchmal auch mitten in der Woche, meistens aber an den Wochenenden. Es wäre also denkbar, dass sie den Hausputz gemacht hat, ehe ich kam, dass sie meinen Besuch vorbereitete. Aber das konnte ich nicht wissen, auch wenn ich oft dort war.

      Einmal kam ich auf jeden Fall unerwartet, in der ersten Nacht. Aber vielleicht auch nicht. Das ist eine ulkige Vorstellung. Möglicherweise hatte sie die Wohnung geputzt, für den Fall, dass sie nicht allein nach Hause käme. Es machte mir Freude, sie so vor mir zu sehen, wie sie die Wohnung für einen möglichen nächtlichen Gast in Schuss brachte. Dieser Gast war dann also ich.

      An


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