Der Liebesentzug. Pernille Rygg

Der Liebesentzug - Pernille Rygg


Скачать книгу
die Leute mit Schichtdienst häufiger haben, und konnte sich den nötigen Schlaf zu allen möglichen Zeitpunkten holen. Sie hatte sich von mir weggedreht, das macht sie immer, und lag ganz still und vollständig begraben unter der Decke. Nur eine dunkle Haarsträhne war von ihr zu sehen. Ich konnte ihren Atem nicht hören, nicht einmal, wenn ich mich darauf konzentrierte. Das kommt manchmal vor, es ist dann fast so, als sei sie gar nicht da. Ihr Schlafzimmerboden war mit Vinyl belegt und immer eiskalt unter meinen Fußsohlen, wenn ich aufstand.

      Im Wohnzimmer war ihr Hund, der in diesem Augenblick gegen den Drang zu Bellen ankämpfte. Er erhob sich von seiner Decke in der Ecke, als ich aus dem Schlafzimmer kam, er beschnupperte meine Hand, ließ aber kein Geräusch hören, er trottete nur vorsichtig hinter mir her in die Küche und trank dort Wasser aus seinem Blechnapf. Es war sehr früh, und er musste noch nicht nach draußen, denn am späten Abend war er noch ausgeführt worden, ehe wir uns hingelegt hatten.

      Ich bewege mich immer ganz leise, um sie nicht zu wecken, wenn sie ausschlafen kann. Schon damals wusste ich diese ganz frühen Morgenstunden sehr zu schätzen. Solche Stunden sind sich alle ähnlich, egal, wo sie verbracht werden. Sie gehören gewissermaßen zu keinem bestimmten Tag, sondern bilden eine eigene, unveränderliche Kette aus Stunden, die nur mit anderen frühen Morgen zusammenhängen, mit nichts sonst. Sie sind in gewisser Hinsicht ein ganz eigenes Universum, befreit von den Nächten, die sie abschließen, und von den Tagen, die ihnen folgen. Frühe Morgen sind vielleicht das einzig wirklich Unveränderliche, das ich kenne.

      Ein solcher Morgen. Der Hund kehrte auf seine Decke zurück und beobachtete mich von dort aus, während ich in der Küche Kaffee kochte, und er betrachtete mich schweigend, als ich mit der Tasse ins Wohnzimmer ging. Ich war ihm auch damals keine Fremde, aber es wäre ihm leichter gefallen weiterzuschlafen, wenn auch Ragne ins Wohnzimmer gekommen wäre. Ich stelle mir jedenfalls vor, dass er mich deshalb nicht aus den Augen ließ. Aber ich habe keine Ahnung von Hunden, ich habe mich immer ein wenig vor ihnen gefürchtet.

      Ein solcher Morgen. Weinflasche und Gläser hatten wir schon am Vorabend weggeräumt, aber die Tischplatte wies noch einen Halbmond aus getrocknetem Wein auf. Ich holte einen Lappen und wischte ihn weg, dann setzte ich mich in den Sessel am Fenster, der mit grünem Velours überzogen war. Von dort konnte ich auf einen kleinen Springbrunnen und einige Ulmen blicken. Im Springbrunnen war kein Wasser, glaube ich. Jedenfalls war er oft leer. Ich trank Kaffee, schaute auf die glasblauen Schatten und auf die beginnenden Sonnenstreifen auf dem Asphalt hinaus.

      Die Zeitung lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Tischchen zu meiner Linken, die Anzeige war mit Kugelschreiber eingerahmt. Das kam mir fast gekünstelt vor, gibt es wirklich Menschen, die Anzeigen auf diese Weise einrahmen, außer im Film? Ragne hatte es getan und die Zeitung dann so zusammengefaltet, dass die Anzeige ganz oben lag. Am Vortag hatte sie nicht dort gelegen, oder es war mir nicht aufgefallen. Warum glaubte ich, dass sie nicht dort gelegen hatte, als wir diese Weinflasche geteilt hatten, warum stellte ich mir für einen Moment vor, wie Ragne sie irgendwo hervorholt und auf das Tischchen legt, während ich mir die Zähne putzte oder als ich schon im Bett lag? War sie ins Wohnzimmer gegangen und hatte das Licht ausgeknipst, ehe sie zu mir gekommen war?

      Ich trank Kaffee. Ich sah den leeren Springbrunnen und die glasblauen Schatten an. Ich dachte an Nikolas, daran, wie er vorging, wenn er sich die Bücherregale anderer Leute ansah. Irgendwie zufällig, verstohlen, während der Besitzer in der Küche oder auf dem Klo war. Nikolas, der den Kopf ein wenig schräg legte, um die Titel lesen zu können. Vielleicht machte er es ganz offen, trat vor das Regal und zog ein Exemplar hervor, liest du so was?

      Es war ihre Zeitung. Nicht meine. Ordentlich zusammengefaltet, mit der Anzeige nach oben. Sie beunruhigte mich, mitten an diesem angerissenen Morgen in einer Wohnung, die nicht meine war, wo der Inhalt des Bücherregals und der Standort der Möbel etwas über Ragne erzählen konnten oder auch nicht, und durch sie über mich, vielleicht, sie beunruhigte mich, diese Zeitung, mitten in der Freiheit, die ein früher Morgen bedeutet.

      An und für sich wusste ich ja, dass sie gern Immobilienanzeigen las. Sie konnte sich dann auf seltsame Weise aufregen, rote Wangen und eine helle Stimme bekommen. Das faszinierte mich, das weiß ich noch.

      »Neunhunderttausend«, konnte sie rufen. »Für sechzig Quadratmeter. Also echt!«

      So ging das. Eins-Komma-zwei-Millionen, zwei-Komma-vier! Sie errötete und ihre Augen glänzten, sie las die Preise mit heftiger und für mich unerklärlicher Erregung vor, es irritierte sie, dass sie die Preise ebenso verrückt fand wie die Käufer. Es ist auch möglich, dass sie ein wenig schadenfroh war.

      Nun war da diese Anzeige. Noch dazu im Østlandets Blad. Wo, dachte ich, hat sie bloß Østlandets Blad her, das wird hier in der Gegend doch gar nicht verkauft?

      Ich sollte sie wecken, dachte ich. Fragen. Fragen, ob es bei ihrer Arbeit ein langweiliges Paar gibt, das sich aus irgendeinem Grund ein Ferienhaus wünscht, oder – es ist ja nicht unmöglich, auch dort wohnen schließlich Leute – sogar eine Wohnung in der Gegend von Vestby. Und Ragne als gute Kollegin notiert sich die Nummer, wenn sie rein zufällig über eine düster aussehende Bruchbude stolpert. Und lässt die Zeitung dann zu Hause liegen.

      Ich hätte sie wirklich wecken müssen. Das wäre das einzig Richtige gewesen. Aber ich tat es nicht. Es ist mein Morgen, dachte ich wahrscheinlich. Ich wollte ihn nicht aus einem Grund ruinieren, der mir töricht und außerdem ein wenig peinlich vorkam.

      Stattdessen ging ich mit dem Hund spazieren, obwohl ich mir schon denken konnte, dass damit der Morgen im Grunde schon zu Ende war, dass diese Stunden nicht der unveränderlichen Kette angehörten, die ich so wichtig fand.

      Der Hund zeigte Interesse an seinem eigenen oder an fremdem Urin an den Bäumen um den leeren Springbrunnen, wie sich das bei einem Morgenspaziergang gehört. Dann gingen wir weiter. Während er an Hausecken und Wagenrädern schnüffelte, registrierte ich zwei Dinge. Die ungeheuer demütigenden und konspirativen Gedanken, die ich mir wegen der Zeitung machte. Und die Tatsache, dass ich sie besser nicht fragen sollte, warum die Zeitung auf dem Tischchen links neben dem Sessel lag. Diese Erkenntnis machte mich nervös und froh. Jetzt lassen wir die Sache ausscheren, dachte ich, jetzt bewegen wir uns in eine richtig fiese Richtung.

      Sie zu fragen, ihr dieses plötzliche Interesse an ihren Zeitungsgewohnheiten zu signalisieren, wäre natürlich peinlich. War es wichtig, eine Peinlichkeit zu vermeiden? Vielleicht. Ich konnte mir versteckte Möglichkeiten vorstellen, es zu tun; ich stellte mir vor, wie ich die Zeitung hochhob und belustigtes Staunen darüber vortäuschte, dass sie Østlandets Blad las, wie ich sie so ganz nebenbei fragte, ob sie dort Verwandte habe, oder bisher nie erwähnte Bekannte. Das wäre doch legitim und nicht einmal besonders schwierig, obwohl ich eine schlechte Schauspielerin bin.

      Aber nicht deshalb wollte ich nicht fragen. Sondern, weil ich neugierig war und mitmachen wollte, falls es sich hier um ein Spiel handelte. Bei der Vorstellung, dass das Ganze ein kleines Spiel sein sollte, wurde ich richtig wach. Wach und besorgt.

      Denn natürlich hatten wir darüber gesprochen. Vor allem sie, aber ich auch. Über rote Hütten und Tümpel und Stille, hatten über das andere, reine Leben gesprochen. Es hatte, wie das bei roten Hütten nun einmal so ist, etwas Unwirkliches und Unverbindliches gehabt. Das hatte ich zumindest geglaubt, und deshalb hatte ich die roten Hütten nicht als unpraktisch und zu weit weg abgeschrieben, sondern nach keinerlei Prinzip eingeordnet. Ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass das nötig werden könnte.

      Als ich langsam mit dem Hund Frigg an der Leine über die weite Grünfläche zwischen dem Kirkevei und dem Rundfunkgebäude ging, registrierte ich auch noch Folgendes: Ich stellte mir durchaus nicht vor, dass mich das nichts anging. Ich kannte Ragne seit einem halben Jahr, und ohne darüber gesprochen zu haben, wohnte jede von uns noch immer in ihrer eigenen kleinen Wohnung, auch wenn wir die Wochenenden zusammen verbrachten, vor allem die Wochenenden, und das mit Vorliebe in ihrer Wohnung. Trotzdem hatte ich keine Zweifel daran, dass auch ich betroffen war, egal, welche Bedeutung diese Bruchbude in Vestby haben mochte.

      Ich war allein auf der grünen Wiese vor dem Rundfunkgebäude. Es war noch kühl. Die Sonne schien. Der Hund fand kleine gefrorene Schneckenhäuser aus Kot, an denen er


Скачать книгу