Der Liebesentzug. Pernille Rygg

Der Liebesentzug - Pernille Rygg


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hatte bisher eine kleine Kolonie von Drogensüchtigen mit Idyllenträumen und Sozialamtsgarantie hiergehabt. So lange die Miete nicht in irgendwelchen Papieren auftauchte, konnten wir das Haus billig haben. Mit Plumpsklo hinter dem Haus. Heißes Wasser und Strom waren gesondert zu bezahlen.

      Den Schlüssel hatte sie bei sich. Es dauerte aber noch einen Moment, ehe sie mich herumführte. Zuerst tranken wir den Kaffee aus der Thermoskanne, ich zauste ihre Haare und machte ihr auch ein paar Vorwürfe, denn das geht beim Haarezausen immer. Es habe eine Überraschung sein sollen, sagte sie noch einmal. Schon gut, sagte ich. Ich kann das doch verstehen.

      Großartig, irgendwie. Großzügig.

      Ich küsste sie auch, denn hier war ich nun einmal, auf dieser Felskuppe neben dem Schuppen; sie hatte vielleicht keine Angst gehabt, aber sie hatte sich doch Sorgen gemacht, und zwar um mich. Um mich, die mit ihr und dem Hund den Kiesweg hochgegangen war und zumindest große Ähnlichkeit mit einer Art Familie hatte.

      Ich hatte natürlich ganze Ozeane von Freiheit darüber nachzudenken. Es war alles so ungeheuer unverbindlich, sie hatte nur einen Schlüssel geliehen, und jetzt lief sie herum und zeigte die Mängel auf, die schlechte Isolierung, sie entdeckte fast überall Mängel und Fehler. Hier ist ja alles zugewachsen, sagte sie, es wäre eine Riesenarbeit, allein die Birken am Haus zu beschneiden, und im Frühling müssen alle Wände abgeschliffen werden, bestimmt zieht es durch die Fenster, auch wenn es Doppelfenster sind.

      So läuft es eben, in solchen Spielen gibt es nur die festgelegten Rollen, und deshalb wies ich darauf hin, dass doch eigentlich nur ein Strauch weggenommen werden musste. Jetzt, wo Ragne entlarvt war, fühlte sie sich gedemütigt, und zur Demütigung gehören Genugtuung, Trost. Das musste ich liefern. Denk doch an die Aussicht, die wir hier haben werden, sagte ich – ja, das sagte ich, ich sagte wir –, hier gibt es immerhin Holz genug, auch wenn die Fenster ziehen, und es ist doch auch lustig, abends mit einer Taschenlampe aufs Klo zu gehen und beim Pinkeln die Sterne zu sehen.

      »Wie viel wettest du«, fragte ich, »dass da draußen ein Stapel Reader’s Digest liegt?«

      Der war auch wirklich vorhanden, ich hob ihn hoch und schwenkte ihn. Schau her! Was habe ich gesagt? Weil Ragne preisgegeben war und weil es nur zwei Rollen gibt – die Preisgegebene und die Tröstende. Weil es keine Tochter gibt, die ihren Vater oder wen auch immer nicht dazu bringen will, das schreckliche Weihnachtsfest vor drei Jahren zu vergessen und den frisch geschrubbten Ausdruck von seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Vor allem, wenn das konspirative Gemüt noch nicht entlarvt worden ist.

      Aber es war brüchig, das feine und ziemlich unangenehme Gleichgewicht zwischen diesen beiden Rollen. Etwas an ihrer geraden Haltung verschob es, etwas zu Entspanntes, das plötzlich in ihrem Gesicht auftauchte. Das ärgerte mich, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich kein Recht hatte, gereizt zu sein. Aber sie war zu kess, sie griff zu gierig nach dieser Genugtuung. Mir war hier eine Art Anspruch zugebilligt worden, der Anspruch auf Anerkennung meiner Großmut, und der Anspruch wurde von ihr nicht befriedigt; deshalb tauschten wir die Rollen, als wir die Schwelle überschritten und mit den Resten der Idylle der drogensüchtigen Kolonie konfrontiert wurden. Jetzt war ich es, die sich alles Mögliche leisten konnte, die einer vergammelten Matratze einen leichten Tritt versetzte, die mit zwei Fingern eine Bierflasche voller Kippen aufhob, die mit dem Fuß über eine lockere Linoleumplatte rieb. Die alle Mängel sichtbar und groß machte, die die Möglichkeiten offenbarte, sie durch bescheidene Gesten unüberwindlich zu machen. Die Bierflasche schlenkerte zwischen meinen Fingern hin und her, ein Pendel.

      Ich brauche nicht auf meinen Ozeanen von Freiheit »mir die Sache durch den Kopf gehen zu lassen« zu bestehen, die waren jetzt selbstverständlich, jeder einzelne Ozean, und hier im Haus war es eindeutig Ragne, die nach etwas suchte, das an Reader’s Digest erinnern könnte, die auf den Kamin hinwies, auf das eigentlich ziemlich gemütliche Schlafzimmer und auf den Blick aus dem Wohnzimmerfenster, wenn nur das berühmte Gestrüpp ein wenig beschnitten würde. Außerdem deutete sie noch an, welche Wunder ein bisschen Salmiak wirken kann.

      Wir drehten mit dem Hund eine Runde, ehe wir nach Hause fuhren, und ich war zu absolut nichts verpflichtet. Aber es war so, dass ich sie frisch geschrubbt vor Sehnsucht gesehen hatte. Diese Sehnsucht hatte keine klare Form, sie war nicht abhängig von einer roten Hütte oder einer bestimmten Halsgrube, sie war natürlich flexibel, sonst wären wir nicht hier gewesen, keine von uns. Aber jetzt war sie sichtbar. Es gab Mechanismen, die es mir erlaubten, sie zu übersehen, so wie es auch zahllose kleine Wunden gab, die wir uns gegenseitig zufügen konnten.

      So muss Silje mich gesehen haben, dachte ich, Hunderte von Malen, ehe sie gegangen ist. Sie muss mich so richtig frisch geschrubbt gesehen haben, auch zu Gelegenheiten, wo ich das gar nicht wollte. Bilde dir bloß nicht ein, dass ich keine Rücksicht auf deine Sehnsucht nehmen kann, wenn ich sie erst gesehen habe, sagte sie einmal.

      Jetzt, an diesem letzten Sonntag im April, stehe ich hier auf der Treppe, vor dem Haus, in dem ich wohne, in dem wir wohnen, stehe hier mit meinem Schlüsselbund und soll die Tür aufschließen, die ebenfalls abgeschliffen werden muss, wie die Wände und die Fenster. Ich kann hinter der Tür den Hund auf dem Boden scharren hören, und ich höre auch sein leises Fiepen. Ich murmele beruhigend, während ich aufschließe, und dann begrüßen wir einander; der Hund überschwänglich, ich beherrscht. Ich stehe auf dem Hof und sehe ihn begeistert auf dem Grundstück herumtollen, die Abstecher, die er zwischen den Bäumen unternimmt, sind begrenzt, weil ich die ganze Zeit auf ihn einrede.

      Wir wohnen jetzt seit sieben Monaten hier. Das ist nicht schlecht. Die meisten von uns scheuen anfangs vor Veränderungen wohl ein wenig zurück, aber nach und nach sehen wir das dann anders. Ragne kommt aus einem kleinen Ort, der noch einsamer ist, glaube ich, als dieser hier, und auch wenn sie natürlich nicht dorthin zurück will, ist es doch oft so, dass Leute, die ländlich und in der Natur aufgewachsen sind, auch als Erwachsene so wohnen möchten. Mehr als die, die ihr Leben in der Stadt verbracht haben. Das ist ja auch nicht weiter verwunderlich.

      Es gibt nicht viel, was mir hier fehlt. Vielleicht die Cafés, und die Kinos. Meine Freundin Margrete ruft aus der Stadt an und fragt, ob mir das alles fehlt, und ich sage, ja, manchmal. Aber Margrete geht selber fast nie ins Kino, sagt sie, wenn sie sich das genauer überlegt. Hier im Ort gibt es auch Cafés und ein Kino, aber ich gehe nicht sehr oft hin, es ist wohl eher die Gewohnheit, sie in der Nähe zu haben, überlege ich mir. Ab und zu, wenn wir Samstagvormittag ins Café gehen, fühle ich mich ziemlich rastlos. Als ob ich keinen Sinn mehr darin finden könnte. Kaffee haben wir doch auch zu Hause. Trotzdem machen wir diesen Ausflug ziemlich regelmäßig, so wie wir auch alle paar Wochen im Hotel essen.

      Ich bestelle in der Regel Kabeljau, Ragne nimmt ein Steak. Wir essen hier viel mehr Fisch als früher, aber wenn wir ausgehen, zieht Ragne doch Fleisch vor.

      Wir halten Ausschau nach einem Boot, denn im Sommer wäre es schön eins zu haben.

      Natürlich ist es hier auch einsam. Das liegt auf der Hand, wo das Haus doch so abgelegen ist und außerdem im Wald steht. Aber ich glaube, Ragne gefällt es so. Es ist ruhig, und es riecht so gut nach Bäumen und Moos. Obwohl wir noch nicht so lange hier wohnen, kann ich meinem Körper ansehen, dass er gesünder ist, ich merke es auch, wenn ich mit dem Hund spazieren gehe, ich bin kräftiger und kann länger laufen.

      Wir reden hier weniger, glaube ich. Das ist mir recht. Mir gefällt es so. Wir gehen mehr und reden weniger.

      Der regelmäßige Regen hat wieder eingesetzt, als ich mit Frigg in den Wald gehe. Er keucht, und sein heißer Atem wird zu dünnen Dampfstreifen, die sich vor seiner Schnauze auflösen. Er schaut mich mit seinem braunen Hundeblick an, erwartungsvoll und aufgeregt.

      Eigentlich verachte ich diesen Hund, ihren Hund. Ich mache mit ihm Spaziergänge, ich füttere ihn, es kommt sogar nicht selten vor, dass ich meine Finger durch sein Fell gleiten lasse, um den Eindruck zu erwecken, dass ich ihn streichele. Die ganze Zeit aber verachte ich ihn.

      Ich habe dazu natürlich überhaupt kein Recht, er ist offenbar ein außergewöhnlich schönes Exemplar seiner Rasse. Er hat auf Ausstellungen, bei denen wie bei Misswahlen nicht nur Aussehen, sondern auch Intelligenz und Bildung prämiert werden, mehrere Preise gewonnen.

      An


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