Der Liebesentzug. Pernille Rygg

Der Liebesentzug - Pernille Rygg


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von dieser Panik erfüllt, wie vor einem zukünftigen Geschenk, dessen Inhalt man nur ahnt und wofür man nicht dankbar sein muss. Auf dem Heimweg war ich wach, und mir war warm.

      Sie hatte nicht vor, etwas zu sagen. Es bestand natürlich die theoretische Möglichkeit, dass sie nichts zu sagen hatte, aber das glaubte ich nicht. Während sie noch immer im Bett lag, machte ich Frühstück und zeigte auf unterschiedliche Weise meine Häuslichkeit. Vor allem, indem ich die Zeitung vom Tischchen nahm und auf den Stapel der alten Zeitungen legte, noch immer mit der Anzeige nach oben. Dabei lächelte ich. So was tue ich wirklich, dachte ich, ich gehe mit Østlandets Blad in der Hand an der offenen Schlafzimmertür vorbei, lächele sie an und gehe dann mit der Zeitung in die Küche und lege sie oben auf den Stapel neben der Tür zur Hintertreppe.

      Wir frühstückten am Küchentisch. Ragne wie immer ziemlich schnell, aber nicht hektisch, das konnte ich sehen. Aus dem Wohnzimmer kam die Musik der CD, die sie aufgelegt hatte. Wir lasen die Samstagszeitungen und überlegten, wohin wir unseren Ausflug machen wollten. Ich schlug Vestby vor.

      Überraschenderweise fiel mir dieses Versteckspiel nicht weiter schwer: Während wir in Richtung der Kobberhaugshütte gingen, vergaß ich immer wieder Østlandets Blad und mein illoyales Gemüt. Es tauchte nur in seltenen Momenten auf – als wir bei Blankvannsbråten stehen blieben, als ich hinter ihr unterhalb von Kobberhaugene an einem Moor vorbeiging –, es tauchte für einen Moment auf, war entsetzlich komisch und dann verschwunden. Später beim Essen erkundigte ich mich, zufällig, lässig, ob Jon und Irene – Kollege und Kollegin von Ragne und außerdem ein Paar – noch immer in Holmlia wohnten. Das taten sie und es kostete sie sechstausenddrei, sagte Ragne und kicherte kurz. Ich war aufgeräumt, als ich fragte, aufgeräumt, als sie antwortete. Ich hatte ihr einen Eingang geboten, dachte ich, aber den hatte sie nicht benutzt. Ich glaube, das registrierte ich mit einem Gefühl, das Ähnlichkeit mit Freude hatte.

      Später, in ihrem Bett, schmiegte sie ihr Gesicht an meinen Hals und ihre Brüste an meine, und ich streichelte ihre Haare, während sie mir zuflüsterte. Da wäre es ganz einfach gewesen, die Sache zu einem Ende zu bringen. Aber das tat ich nicht. Stattdessen schlief ich an sie geschmiegt ein und als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich still und mit großen Augen angesichts der alltäglichen Verlogenheit da, an der ich mich beteiligte. Sie war seltsam und auf irgendeine Weise größer als wir.

      Am Sonntagvormittag wollte sie wie üblich einen Spaziergang machen. Wir nehmen das Auto, sagte ich. Ach, jetzt kommt es, dachte ich und wagte nicht, von der Thermoskanne aufzublicken, die ich gerade in meinen Rucksack steckte. So hat sie sich das also ausgedacht. Ich spielte das Spiel, und als ich von der Thermoskanne aufblickte, sie ansah, sie anlächelte und sie zurücklächelte, lächelten wir über unterschiedliche Dinge. Sahen einander in die Augen und lächelten über unterschiedliche Dinge. Das müsste doch eigentlich verboten sein. Aber es ging sehr gut.

      Dann fuhren wir in die falsche Richtung. Der Hund stand hinter mir auf dem Sitz und hatte seine Pfoten auf die Rückenlehne gelegt und berührte manchmal mit der Zunge meinen Nacken, er hechelte und war aufgeregt, weil wir einen Ausflug machten, so wie auch ich es war und Ragne es gewesen sein muss. Denn in meinem konspirativen Gemüt nahm die Sache die Form eines Ablenkungsmanövers an, sie macht aus Jux einen Umweg, dachte ich, dreht die blinde Kuh immer wieder im Kreis, um ihr den Orientierungssinn zu nehmen. So dachte ich.

      »Woran denkst du?«, fragte sie, nachdem wir lange geschwiegen hatten und nachdem die Stille vom Radio überdeckt worden war.

      »Wohin wir fahren«, antwortete ich.

      »Das ist eine Überraschung.« Sie sah mich schräg von der Seite an und lächelte.

      Das war es wirklich, denn wir fuhren tatsächlich nicht nach Vestby, auch nicht in die Nähe von Vestby, und irgendwann musste ich mir das vor Augen halten, musste ich akzeptieren, dass es nun einmal so war, dass sie ihre seltsamen Pläne geschmiedet hatte, dass ich nicht wie einst Hänsel und Gretel in den Wald gelockt werden sollte. Es war eine Erleichterung, es war viel leichter, diesen ganzen konspirativen Müll mir zuzuschreiben und nicht ihr, und als der Wagen langsam einen Kiesweg hochfuhr, das letzte Stück, ehe wir aussteigen und einen ganz normalen Spaziergang machen würden, stand ich kurz vor dem großen Geständnis, hätte ich sie fast Einblick in meine verborgenen und verschrobenen Gedanken gewähren lassen und Vergebung oder Strafe hingenommen.

      Aber inzwischen war der Hund vor Aufregung außer sich, er zerkratzte die Sitzlehne mit den Pfoten und musste zur Ordnung gerufen und getadelt werden, und da Ragne fahren musste, wurde das meine Aufgabe, ich musste streng auf ihn einreden, ihn im Nacken packen und ihm kurz auf die Schnauze hauen. Als wir dann aus dem Auto stiegen, war er vor Freude hysterisch und konnte sich nicht halten, musste seine Kräfte gebrauchen, musste an Urin und Kot und Moos riechen, und deshalb liefen er und ich schon los, während Ragne uns mit dem Rucksack folgte.

      »Warte!«, rief sie. »Warte da vorn an der Kurve.«

      In der Kurve nahm sie die Leine und schob ihre freie Hand in meine, ich fühlte mich noch immer ganz leicht, weil das Spiel abgesagt worden war. Wir ließen unsere Hände schwingen, wie kleine Mädchen das tun, und wenn ich sie anlächele, dachte ich, dann lächeln wir über dieselben Dinge, über dieselben richtigen Dinge. Über den Duft des Waldes und den dummen Hund vor uns und darüber, dass wir uns an den Händen halten und gern losrennen würden, nachdem wir so lange stillgesessen haben, genau wie der Hund. Ich hatte das Gefühl, vor etwas gerettet worden zu sein.

      Hinter der Kurve, hinter einem Erlengestrüpp, stand eine rote Hütte, aber ich schaltete nicht. Wirklich nicht. Ich fand, dass sie idyllisch aussah, mit einem kleinen überwucherten Hofplatz und zwei baufälligen Schuppen, weißen Fensterrahmen und schiefer Tür.

      »Zwei-tausend-drei«, sagte Ragne. »Muss im ersten Halbjahr ein bisschen renoviert werden. Wenn wir die Bäume wegnehmen, haben wir freie Sicht auf den See.«

      Sie war schon einmal hier gewesen. »Aber nur ganz kurz«, sagte sie, und jetzt konnte ich sehen, dass sie unsicher war; sie wusste, dass sie hier ein Risiko eingegangen war, und ich kannte diese Unsicherheit. Ich hatte sie am Heiligen Abend gesehen, ausgerechnet, wenn Vater bis ganz zum Schluss damit gewartet hatte, Mutter sein Geschenk zu überreichen; er war allein zum Goldschmied gegangen, und als sie auspackte, sah er sozusagen frisch geschrubbt und verletzlich aus; hatte sie sich so etwas gewünscht oder hatte er wieder das Falsche ausgesucht, wie an diesem grauenhaften Weihnachtstag vor drei Jahren?

      Ich fragte mich, was sie erwartet hatte, was sie sich in diesen vierundzwanzig Stunden vorgestellt hatte, während ich in meinem schlichten Gemüt nur vage an Østlandets Blad dachte, wie das doch auch bei ihr der Fall gewesen sein musste. Hatte sie sich schon alles en detail ausgedacht, hatte sie sich vorgestellt, wie wir einzogen, Bäume fällten und für Aussicht sorgten? Vermutlich nicht. Ich vermutete, dass sie sich bereits an dieser Stelle gesehen hatte, das Vorspiel, die Fahrt hierher, den Hund, der unbedingt aus dem Auto wollte, und mich, die nichts ahnend und sonntags zufrieden neben ihr saß, ihre Liebste, ja, Hand in Hand mit ihr, in der Kurve. Wir drei, das war eine Art Familie, ihre Familie, aber sie hat nicht bis zum Ende gedacht, hat vor der Vollendung versagt, wie das so oft der Fall ist. Das glaubte ich, als ich in ihr etwas verlassenes Gesicht schaute.

      Während ich langsam auf die rote Hütte zuging, wusste ich, dass sie preisgegeben war, und dass mit jeder Minute die Heiligabendunsicherheit in ihr wuchs; doch das gönnte ich ihr nicht, wo ich doch rund um die Uhr mein konspiratives Gemüt gepflegt hatte. Aber den Heiligen Abend, der die Vorspielfantasien der Einzelnen zufrieden stellen kann, gibt es nicht, und deshalb fiel mir nichts Besseres ein, als mich vor dem Schuppen auf einen großen Stein zu setzen, eine Zigarette hervorzufummeln und sie die Sache richtig erzählen zu lassen.

      Das machte sie sehr gut. Aber ich kannte sie ja schließlich. Mein Gemüt beging einen kleinen Verrat nach dem anderen, streifte Silje, und ich dachte, sie habe mich für diese Dinge zu empfänglich werden lassen, für sichtbare Wunden, für entlarvte Einsamkeit. Aber gerade das musste ich einfach lieben, egal, in welchem Zusammenhang.

      Sie war mit dem Besitzer hier gewesen, hatte eines Tages früher Feierabend gemacht und war mit ihm hergefahren, einem Erben, der keine Verwendung für das Grundstück hatte und die Renovierung


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