Der Liebesentzug. Pernille Rygg

Der Liebesentzug - Pernille Rygg


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aber sie war zu dem Schluss gekommen, dass allein die Anekdote Wirkung zeige. Sokrates und der Schierlingsbecher. Marie Antoinette und die Kuchen. König Haakon und die Birke. »Mir fehlen die Königstabellen«, flüsterte sie, als gestehe sie geheime anarchistische Wühlarbeit. Und die betrieb sie ja vielleicht auch. Zum Beispiel übersprang sie die »Stellung der Frau im Mittelalter«. Und sie ahnte bereits, wie sie mir anvertraute, dass die Wiedergeburt der Anekdote als pädagogischer Methode unmittelbar bevorstehe. Die Renaissance der Birke und der Kuchen und vielleicht auch die der Königstabellen. Danach schaute sie mich ein wenig mitleidig an.

      »Das wird schon wieder«, sagte sie. »So nach und nach.«

      Ich stimmte ihr zu. Dass wir beide mein Problem als rein persönliches betrachteten.

      Auch der Vertrauensarzt stimmte zu. Ich brachte, stammelnd und unzusammenhängend, in seinem weiß angestrichenen Büro meine Vorstellungen über die größere Gewichtung des Themas »gebildete Konversation« zur Sprache, ich verriet auch mein Vorhaben, einen Brief an den Schulrat zu schreiben, oder vielleicht ans Ministerium, um vorzuschlagen, das ganze Fach in Kultur, Handel und Diplomatie umzutaufen (abgekürzt KuHaDi, sagte ich doch tatsächlich, und mir brach an den Händen heftig der Schweiß aus). Denn dazu sollten sie ihr Wissen doch verwenden, das brauchten meine Schüler, ein sicheres Auftreten im Zusammensein mit anderen – also bei der Konversation, mit dem Ziel, geschäftliche Absprachen möglich werden zu lassen.

      Dr. Neshagen hörte zu. Es fiel ihm schwer zu glauben, sagte er, dass dort mein Problem lag. Im Fach, also. Ich gab ihm da sofort Recht. Seine Schulzeit liege ja nun auch schon lange zurück, sagte er, aber er wisse auch, dass ich mir einen stressigen, anspruchsvollen Beruf ausgesucht hatte.

      »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Nicht unbedingt.«

      »Das Problem ist vielleicht eher persönlicher Art«, schlug Dr. Neshagen vor. Da konnten wir uns einigen. Denn natürlich war ich peinlich berührt, ich war rot geworden, hatte gestottert und für Dr. Neshagen eine schlechte Vorstellung geliefert, aber hier, in seinem weißen, luftigen Sprechzimmer, das unnötig groß wirkte und Platz für gewaltige Flächen ungenutzten Linoleumbodens bot, hier wollte ich doch gerade einen schlechten Eindruck machen, eine missratene Vorstellung liefern. Ich fand es deshalb nicht weniger schmerzlich, aber die schlechte Vorstellung fand immerhin auf der richtigen Bühne statt. Hier gehörte sie hin.

      Er empfahl mir Waldspaziergänge.

      Mit solchen Spaziergängen habe ich nicht aufgehört, jetzt mache ich sie mit dem Hund. Und mit Ragne. An jedem einzelnen Tag komme ich Dr. Neshagens Rat nach, auch wenn er wohl nicht mehr als mein Arzt gelten kann, auch wenn ich überhaupt keinen Arzt mehr brauche, vielleicht wegen der Waldspaziergänge.

      Ich habe meine dünnen Hefte weggelegt und bin fertig mit meinen Vorbereitungen für morgen. Der Hund spitzt die Ohren, steht auf und stellt sich vor die Tür. Sein Schwanz peitscht durch die Luft. Sein Körper zuckt ein wenig. Er wartet. Sehr wohlerzogen wartet er bei der Tür. Jetzt kann ich auch den Automotor hören, der freundlich zwischen den Bäumen der Pflanzung brummt. Ragne kommt von der Arbeit. Der Hund wartet auf sie.

      Ihre Gewicht ist ganz und gar immateriell, rein körperlich ist sie geschmeidig, ziemlich schnell und sicher fünf Kilo leichter als ich. Aber jetzt, wie eigentlich immer, wenn sie nach Hause kommt, ist ihr Gewicht spürbar. In der Unterlippe, in ihren leicht hängenden Schultern, in ihren Händen, die ziemlich groß sind und bisweilen wie tot an ihrem Körper nach unten hängen. Es sind weiche Hände. Im Laufe ihres Dienstes im Pflegeheim hat sie sie mehrmals sorgfältig eingecremt, doch trotzdem hängen sie schwer wie zwei Bleigewichte an ihr herunter.

      Sie zieht ihren Mantel aus, fährt dem Hund durch das Fell, lächelt mich an. Ihr Gewicht ist jetzt weniger spürbar, wenn sie lächelt, obwohl es noch immer vorhanden ist. Selbst ihr Lachen weist nicht selten einen Rest davon auf, es sei denn, sie lacht ihr glückliches Lachen.

      Sie hat einen seltsamen Sinn für Humor, manchmal ist sie ziemlich boshaft, schadenfroh. Sie stellt mir kleine Fallen, sagt eine lange ersehnte Verabredung ab und sieht, wie ich in mich zusammensinke, verwirrt und enttäuscht, entschlossen, meine Enttäuschung zu verbergen, um sie nicht zu verletzen. Wenn sie mich von meiner Enttäuschung befreit und ich peinlich berührt vor ihr stehe, weil ich schon wieder in die Falle getappt bin, lacht sie herzhaft.

      »Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen«, sagt sie dann. »Du solltest es jetzt sehen!«

      Was sie sieht, nehme ich an, ist, dass ich preisgegeben bin. Dass ich auf sie zähle. In meiner Verwirrung und meiner Enttäuschung glaube ich, sie zu brauchen. Das gefällt ihr. Sie zaust mir die Haare, wie sie dem Hund das Fell zaust, und sagt, ich sei niedlich, wenn ich verwirrt bin. Vermutlich hat sie Recht.

      Es kommt auch vor, dass ich wütend werde. Aber dazu gibt es nie einen Grund. Mein kurzes Aufflackern von Zorn steigert nur meine Verwirrung und stürzt mich in Verlegenheit. Auf diese Weise kann sie meine Angst vor dem Verlust meiner Würde bloßstellen. Was ja richtig ist. Solche Ängste müssen in regelmäßigen Abständen bloßgestellt werden.

      Ab und zu scheint ihr Gewicht sie zu verlassen, wenn ich in die Falle getappt, wenn ich wütend, verwirrt und zur Stotternden geworden bin. Ab und zu kann sie darüber schallend lachen, tief aus dem Bauch heraus, befreit und schwerelos sein, und ich wünsche mir das doch so sehr, ich sehe sie so gern befreit, und trotzdem habe ich manchmal Schwierigkeiten damit, sie in solchen Momenten anzusehen. Nicht wegen meiner verlorenen Würde, das muss ja so sein – wer liebt mit Würde, wer erwacht mit Würde aus einem Albtraum und muss in den Arm genommen werden? –, das ist etwas anderes. Das ich nicht richtig erfassen kann. Dass sie gerade in dieser ersehnten Schwerelosigkeit plötzlich etwas Abstoßendes haben kann. Darüber staune ich.

      Doch jetzt lacht sie ausgelassen über den Hund, lässt sich von ihm das Gesicht lecken, hysterisch vor Hundefreude, und es ist überhaupt kein Problem, weiter meinen Blick auf sie zu richten. Ich lasse mich im Sessel zurücksinken und betrachte ihr Gesicht, während die Schwere von ihr abgleitet, von ihren dunklen Haaren, dem offenen Mund, dem Kinn und dem Hals, der lang und nach vorn gestreckt ist, entblößt. Sie ist befreit. Für einige Augenblicke aus allem herausgehoben, nicht durch mich, eigentlich auch nicht durch den Hund oder durch den Nieselregen, der ihre Haare im Rücken gekräuselt hat, und auch nicht durch die Wärme des Ofens, sondern eher durch all das, von dem sie befreit ist. Wozu natürlich auch sie selber gehört.

      Wir decken den Tisch. Wir essen. Ihr Gewicht streift uns, nicht überwältigend, sondern ziemlich behutsam. Es wohnt hier, es wohnt auch in ihr und ist dazu berechtigt.

      Wir schauen uns einen Film im Fernsehen an. Der Hund liegt auf seinem Platz, hat den Kopf auf die Vorderpfoten gestützt, und wenn ich mich konzentriere, kann ich seinen Atem hören, langsam, fast wie ein Seufzen.

      Dann kann ich sehen, wie das Gewicht sie verlässt. Ich sehe es voll Bewunderung, sehe sie so, wie ich sie sehen sollte, liebevoll eben, ich sitze bewegungslos auf meinem Stuhl und sehe mich daran satt. Und bin zugleich unersättlich. Ich will so gern noch mehr. Ich will, dass diese Befreiung von Dauer ist. Denn ich, die hier nur eine Zeugin ist, eine dankbare und fast atemlose Zeugin zwar, aber dennoch eine Zeugin, dennoch eine Außenstehende, ich weiß doch von diesem anderen, das erst vor wenigen Minuten hier war.

      Das hier war, als Ragne gleichgültig in der Zeitung geblättert hat, als sie den Kopf schüttelte, nachdem ich einen anderen Film empfohlen und gesagt hatte, der habe sehr gute Kritiken bekommen. War hier, als Ragne zu mir hochschaute, war in ihrem seltsam harten Tonfall, als sie antwortete. In ihrem Gewicht. Irgendwo gab es ein gewaltiges Gewicht, angesichts dieser belanglosen Entscheidung.

      »Das ist doch nur deren Meinung«, sagte sie. »Der braucht nicht gut zu sein, nur weil ein paar Kritiker das behauptet haben.«

      Nein. Natürlich nicht. Aber dieses Gewicht hier, als definiere sie eine Grenze, zwischen mir und den Kritikern, markiere ihre Unabhängigkeit in einem dermaßen seltsamen Punkt, in einem Zusammenhang, der mir als vollkommen unwesentlich erschien, war fast vom Gewicht ihres Charakters geprägt, dieser unabhängige Standpunkt. Auf diese Weise bereitete sie sich scheinbar darauf vor, sich Widerspruch zu stellen, vielleicht einer Herausforderung.

      Aber


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