Der Liebesentzug. Pernille Rygg

Der Liebesentzug - Pernille Rygg


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in gewisser Hinsicht großmütig vor. Aber sie verfügten ja auch über eine lange Erfahrung im Aufsatzschreiben, sie wussten, was wir hören wollten, und sie hatten keine Probleme damit, uns das zu geben. Ich gehe davon aus, dass sie den Trick, die Irrtümer zu entlarven, kannten. Das war eine Methode, so wie Gruppenarbeit eine Methode war. Ein Trick. Sie nahmen die Sache nicht ernst.

      Sie brauchten meine Autorität nicht, und sie hatten auch keine Verwendung für andere Autoritäten. Sie verlangten keine Schönheit und keine reinen Gestalten, einen Danton vielleicht, einen Che oder auch eine Florence Nightingale. Im Gegenteil, sie interessierten sich für die Schattenseiten solcher Gestalten, für ihre Kehrseiten, für ihre auffälligen Fehler und Mängel, die sie komplex und antiheldenhaft wirken ließen. Olav wünschte sich vielleicht den einen oder anderen General aus einem Guss, aber die meisten anderen fanden Winnies Anwesenheit neben Mandela natürlich und vielleicht auch beruhigend. Aber auf jeden Fall witzig. Und sehr wenig empörend. Nichts empörte uns wirklich. Nur Olav machte ein düsteres Gesicht, zumindest in meiner Erinnerung.

      Wir gingen alte Lehrbücher und Lexika durch und sahen, wie innerhalb kurzer Zeit die Geschichte immer wieder umgeschrieben wurde. Das fanden wir witzig. Ich stelle mir vor, dass sie sich von allen Buchseiten, die wir durchnahmen, vor allem an diese erinnerten: an einen rassistischen Lexikonartikel über Kurz- und Langschädel. Sie verliebten sich in diesen Artikel, weil die Torheit der Vergangenheit einen so greifbaren Charme besitzt. Sie werden sich an die Phrenologie noch erinnern, wenn alles andere aus diesen Stunden zu einem weichen, zerfließenden Brei geworden ist.

      Wenn sie für mich verschwanden und vage und diffus wurden, lag das dann nicht an mir, an meinen persönlichen Verhältnissen? War es nicht so, dass diese Stunden für mich ihr Interesse verloren, weil ich mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, mit meiner Beziehung zu Silje und zu der anderen seltsamen Welt, die ich damals betrat? Ach ja, so war das. Es hatte nichts mit den Schülern und nichts mit dem Fach zu tun.

      Es brauchte einige Zeit, bis mir aufging, dass ich eine schlechte Lehrerin geworden war. Das muss irgendwann mitten im Winter gewesen sein, ehe Silje mich verlassen hatte. Mir fiel auf, wie die Müdigkeit meiner Schüler meine eigene widerspiegelte und dass ihre Schläfrigkeit meiner ähnelte. Ich war ernst und nicht mehr unterhaltsam. Es war eine belastende Entdeckung, dass ich es nicht mehr schaffte, und natürlich nahm ich diese Belastung wie alle anderen mit in Thereses Zimmer, dieses Zimmer, wo sich alles abspielte, was in dieser Zeit irgendeine Bedeutung besaß.

      Sie saß dann wohl im Schneidersitz auf ihrem Kissen und sah mich mit ihrem üblichen Ernst an, lauschte meiner gestotterten Darstellung dieses allzu menschlichen Misslingens und fragte mich, warum es wichtig sei, eine gute Lehrerin zu sein. Warum es überhaupt wichtig sei, als Lehrerin zu arbeiten.

      Natürlich hatte ich keine Antwort. Es kam mir auch sehr unwichtig vor.

      Erst später, als Silje nicht mehr da war und ich nicht mehr zu Therese ging, weil ich Ruhe brauchte oder mich berauschen wollte, wurde ich wütend. Ärgerte mich plötzlich über die Schläfrigkeit und das Verlangen nach Unterhaltung. Aber auch das hatte nichts mit den Schülern zu tun. Sie hielten sich brav an das Einzige, was sie von mir verlangen konnten, nämlich, dass ich gute Vorstellungen hinlegte. Gerade das tat ich ja nicht. Ich lieferte ihnen vor Ostern eine überaus jämmerliche Vorstellung und ging danach zum Vertrauensarzt. Ach, was machte ich an diesem Tag für eine erbärmliche Figur, als ich ihnen noch einmal über meinen inneren Jubel vor dem Fernseher erzählte, als ich sah, wie sich Tag für Tag, Woche für Woche die Straßen von Belgrad mit Demonstranten füllten, die gegen Milosevics Diktatur protestierten. Ich erzählte ihnen von der Woge aus Schönheitssehnsucht und dem Anspruch, dazuzugehören, die bei ihrem Anblick über mich hereinbrach, ich schilderte ihnen den intensiven, egoistischen Wunsch gerade dieser Zuschauerin, dabei zu sein, teilzuhaben an dem, was in so überwältigender Schönheit zwischen den Fassaden von Belgrad anschwoll, von meinem Drang, kleine weiße Atemwolken auszustoßen, so wie diese Demonstranten. Eines dieser sanft ekstatischen Gesichter zu besitzen, einen dieser Körper, die nicht froren, weil sie dicht nebeneinander standen und im Recht waren, in einem eleganten, mächtigen und zugleich bescheidenen Recht.

      Natürlich schilderte ich ihnen einen Wunsch nach Bedeutung. Aber nicht in erster Linie. Ich erzählte ihnen von Gleichheit. Und von Gefühlen, denn ich wurde davon erhoben, ich sehnte mich danach, als ich vor dem Fernseher saß, sehnte mich nach diesen Gefühlen. Danach, Recht zu haben. Von Bedeutung zu sein. Viele zu sein, schön zu sein.

      Dieses Erlebnis, sagte ich, kann sich in keiner Hinsicht von dem der Menschen unterscheiden, die sich im Deutschland der dreißiger Jahre an den großen ekstatischen Volksversammlungen beteiligt haben. Man kann ebenso schön, ebenso ganz und klar und rein sein, wenn man sich dem Bösen anschließt, wie dem Guten, sagte ich. Der Anblick des Bösen kann das Herz erheben. Das war wirklich ziemlich pathetisch. Und es beeindruckte sie natürlich überhaupt nicht. Warum hätte es sie auch beeindrucken sollen? Wo meine Vorstellung doch so jämmerlich war.

      Ich nehme an, dass mich diese jämmerliche Vorstellung wütend machte. Nicht ihr fehlendes Interesse daran. Ich langweilte sie einfach nur. Ansonsten verhielten sie sich überaus neutral. Sie waren vernünftige Menschen.

      Sie fragten nicht, wie die Dummen es zu meiner Zeit getan hatten, nach dem Sinn, den es haben könnte, dieses oder jenes zu lernen. Ich glaube, ihnen war der Sinn, den es hatte, etwas zum Beispiel über Japan zu lernen, durchaus bewusst. Ich glaube, sie stellten sich vor, dass es doch peinlich wäre, einem Japaner über den Weg zu laufen und keine Ahnung vom Shogunat zu haben. Ich glaube, sie werden an einem Restauranttisch sitzen – auf einer Reise, am Ende von Verhandlungen wirtschaftlicher oder kultureller Art, vielleicht im Rahmen eines sportlichen Ereignisses – und dort, zusammen mit Franzosen und Brasilianern oder Japanern, Nutzen aus ihren rudimentären Kenntnissen der Dritten Republik, der mestizischen Kultur oder der Besetzung der Mandschurei ziehen. Ich glaube, sie stellen sich vor, es würde ihnen nutzen, informierte, oder sagen wir, gebildete Fragen stellen zu können.

      Sie hatten keine Zweifel daran, dass ich ihnen nützliche Dinge beibrachte. Und sie wurden mit den Begrenzungen dieses Wissens fertig, mit seinem provisorischen Charakter. Das empörte sie nicht. Und wenn ich ansonsten eine gelungene Vorstellung lieferte, fanden sie Begrenzungen und Provisorium unterhaltend.

      Sie sehnten sich nicht nach meiner Autorität, nach Ganzheit, nach Paradies. Sie akzeptierten mich als Mitglied – und jetzt eben als schlechtes Mitglied – der Unterhaltungsbranche. Aber welchen Nutzen würden sie an diesem zukünftigen Restauranttisch aus ihrer Kenntnis des Shogunats ziehen können, wenn sie dieses Wissen nicht auch auf charmante oder anziehende Weise vortragen könnten?

      »Findest du nicht«, fragte ich nach der Osterkatastrophe im Lehrerzimmer meine Kollegin Studienrätin Bøyum, »findest du nicht, dass wir größeres Gewicht auf Konversation legen sollten?«

      Ich hatte fast nur noch Zusammenfassungen des Lehrbuches geliefert, ich war nicht witzig gewesen, nicht klug, nicht einmal sarkastisch oder beängstigend. Sie verlangten von mir nur irgendeine Form von Leistung, aber die bekamen sie nicht. Ich hielt Leistungen nicht mehr für wichtig. Was natürlich fatal war. Sie hatten allen Grund zur Unzufriedenheit.

      Ich fürchte, ich war ein wenig davon geprägt, ich war eine pädagogische Missgeburt, eine Versagerin, die gerade in Auflösung überging, und aller Wahrscheinlichkeit nach fauchte ich Studienrätin Bøyum an, als sie mit ihrem Butterbrot und ihrer Tasse dünnen Tees vor mir saß.

      »Gebildete Konversation«, sagte ich, »oder vielleicht sollten wir von Spiritualität reden, aber der religiöse Beiklang dieses Wortes wäre ein Problem, findest du nicht? ›Esprit‹ hat diesen Beiklang nicht, klingt aber so versnobt, und niemand weiß, was es bedeutet. Alles in allem ist wohl ›gebildete Konversation‹ der beste Ausdruck.«

      »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Studienrätin Bøyum.

      »Das brauchen sie doch«, sagte ich und möglicherweise fauchte ich noch immer, »sie brauchen irgendeine Form von Eleganz, wenn sie ihre Handelsabkommen schließen. Sie brauchen eine erhabene Form, in der sie ihre Fragmente unterbringen können.«

      Studienrätin Bøyum empfahl die Anekdote. Die verwende sie, wie sie mir anvertraute.


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