Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


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in seinem Herzen dachte er oft an Weib und Kind. Begegnete er jungen Mädchen, so betrachtete er sie voll inniger Rührung. Es waren hohe, starke Gestalten, die Wangen rot und golden, wie Morgenröte gefärbt, das Haar wie die Felder im August, zur guten Zeit der Ernte, der Mund schmal und fromm geschlossen wie der seine. Die Augen, von der Farbe des Himmels am klaren Mittag, waren gesenkt wie die seinen, wenn er leise und zart mit ihnen sprach. Aber es hielt ihn zurück, die zu lieben, die geschaffen waren wie er selbst. Er blieb allein. Mit Zärtlichkeiten umschmeichelte er die Haustiere, streichelte das Fell des ergebenen Hundes, den dunklen, weichen Pelz der Katze. Die Dunkelheit der Nacht, plötzlich um ihn geschlagen, wenn er am Abend das Licht verlöschte, ermahnte ihn, die Furcht der Kindheit war um sein Herz und hielt es einsam.

      Zu Beginn des Winters aber fuhr er an einem Mittag in die kleine Stadt, um Geschäfte mit dem Viehhändler abzuschließen, und trat auf dem Rückweg in den kleinen Laden ein, wo er für die Wirtschafterin Besorgungen für die Küche, Öl für die Lampen kaufen wollte. Während des Nachmittags hatte es zum erstenmal geschneit, in der Dämmerung strahlte die traurig versunkene Erde wieder auf, in weißem, zartem Schein.

      Im Laden brannte die Lampe, die mit einem großen weißen Blendschirm über dem Ladentisch hing und im Umkreis ihres Scheines die Fläche seines weißen Holzes beleuchtete mit allem, was sie trug an Büchsen und Gläsern, während sie den übrigen Raum, die Regale mit den Kästen, die Fässer und Säcke in Dämmerung ließ. Der Laden war leer. Auf Christians Ruf öffnete sich eine Nebentür leise, eine Gestalt glitt in den Lichtkreis der Lampe, und als Christian, auch zum Lichte tretend, sich ihr entgegenbeugte, leuchtete plötzlich das schneeweiße Gesicht einer Frau so nahe dem seinen entgegen, daß der Atem des roten, lächelnd geöffneten Mundes ihn weich berührte. Vor seinem niedergesenkten Blick lag die Finsternis weitgeöffneter, schwarzer Augen. Bis zum nächsten Lidschlag dieser Augen hielt sein Herz inne im Schlag, verströmte ihm Blut und Zeit ins Grenzenlose. Dann erwachte er und trat zurück. Er sah sie an. Es war ein junges Mädchen, das er hier noch nie gesehen hatte, eine fremdartige Gestalt, klein, zart und doch von leichter Üppigkeit, ihr Haar war schwarz, glänzend umgab es das Haupt und das weiße Gesicht bis tief in die Stirn hinab. Er sah ihre kleinen, vollen Hände zittern, der Blick ihrer Augen war jetzt gesenkt, doch der Mund war noch immer lächelnd geöffnet. Er reichte ihr das kleine Papier, auf dem von der Wirtschafterin die Einkäufe aufgeschrieben waren, und sie begann ihn zu bedienen. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und voll besonderer, zarter Lebhaftigkeit, als würden sie zum Tanz oder zur Freude getan. Ihr weißes Gesicht mit seinem Lächeln tauchte auf im Lichtkreis der Lampe und leuchtete noch schimmernd, wenn es wieder zurückgeneigt war ins Dunkle des Raumes. Sie sprachen nicht miteinander. Als alles, Pakete und Säcke, auf den Wagen geladen war, wobei eines dem andern in einer seltsamen Vertrautheit half, fuhr er fort, ohne an das Bezahlen zu denken, und das Mädchen hielt ihn nicht auf.

      Auf der Heimfahrt fühlte Christian sich erzittern in der alten, kindlichen Furcht, aber sein Herz war ruhig, klar in der Entscheidung. Aus des Mädchens weitem Blick war Finsternis über ihn geschlagen, aber der Furcht drängte sich jetzt in gewaltiger Erregung das Verlangen des Glückes entgegen, und sein Herz entschied, sich hinzugeben Furcht und Glück zugleich. Er kehrte am nächsten Tage schon in die Stadt zurück und erfuhr von dem Krämer, daß das Mädchen eine Waise sei, eine Fremde, die der Pfarrer zu ihm gebracht habe. Ohne mit ihr zu sprechen, ohne sie auch nur wiederzusehen, hielt Christian bei dem Pfarrer um die Hand des Mädchens an. Der Pfarrer begann, ihn zu warnen, riet ihm von einer solchen Heirat ab. Sie sei eine Waise, besäße wohl ein kleines Vermögen von ihrem Vater, aber niemand kenne ihn, auch sie selbst nicht, und die Mutter, eine »gefallene Tochter des Landes«, habe bei ihrem Tod ihn, den Pfarrer, als Vormund bestellt. Doch Christian bestand darauf, die Fremde zu heiraten, wenn sie wollte. Der Pfarrer ließ das Mädchen kommen, und sie sagte, ohne zu zögern, ja. Am Sonntag darauf traf sich das Paar zum Verlöbnis in der Stube des Pfarrers. Ohne Worte streifte Christian der Erwählten den schmalen, goldenen Ring, den er in der bloßen Hand bereitgehalten hatte, an den Finger, aus einer Brusttasche holte er eine goldene Kette mit einem Kreuz aus Elfenbein hervor, sie neigte lächelnd ihren Kopf, und leicht legte er den Schmuck um ihren Hals. Dann sagte sie leise ihren Namen: »Martha.«

      Er sagte: »Christian«, und sie reichten einander die Hände. Die Glocken läuteten, sie gingen zur Kirche. Sie sprachen nicht, aber das Lächeln der Braut war wie ein Glück ohne Ende.

      Nach dem Gottesdienst führte er sie im Wagen mit zu sich, zeigte ihr Haus und Hof. Sie fragte nach allem, und bei seinen Antworten runzelte sie aufmerksam die Stirn, wie Kinder es tun, wenn sie lernen. Den Dienstboten, die sie neugierig umschlichen, sah sie fest ins Auge, verscheuchte sie mit stolzem Blick, doch dem Mann gehorchte sie vom ersten Augenblick an völlig. Er litt es nicht, daß sie in die kleine Stadt zurückkehrte, und brachte sie noch an diesem Tage zu seiner Schwester, wo sie bis zur Hochzeit bleiben sollte.

      Die Fahrt bis zur Wohnung der Schwester, die fünf Meilen weit von der seinen entfernt lag, ging in die Dämmerung des Wintertags hinein, die Luft war schneidend vor Kälte. Die Sonne hatte geschienen und war am Rande der Felder wie am Horizont eines Meeres versunken, ein schmaler, goldener Saum schwebte noch zwischen dem Himmel und der weiten Ebene der Erde. Der zarte, graue Himmel schien verborgen, in mattem Glanz schimmerte nur noch sein Licht, die kristallen beschneite Erde aber leuchtete.

      Christian und Martha, seine Braut, flogen in schneller Fahrt über die Weite, die Luft trieb ihnen scharf entgegen. In Kälte zitternd, schmiegte sie sich an ihn. Die weißen, leichtgekräuselten Federn am Saum ihres dunklen, weichen Kopftuches aus fremdländischer Seide streichelten seine Wangen. Seine Arme, die die Zügel hielten, zuckten bei dieser Berührung gegen seine Brust, und zurückschnellend stießen sie gegen das weiche Fleisch ihres Armes. Er erschrak vor der Freude, die mit dem Strom seines Blutes ihn durchdrang, ein zweites Leben in ihm weckte, er erschrak vor der Wollust, die seinen Körper bis in die ausgestreckten Arme straffte, vor dem Sturm seines Herzens. Hilflos fühlte er Tränen aufsteigen in seinen Augen, so daß er sie nicht, wie das Glück ihn treiben wollte, mit liebendem Blick auf die Frau neben ihm zu richten wagte. Mit einer zarten Bewegung rückte er von ihr ab.

      Auch sie hatte seine Berührung gefühlt. Röte stieg in ihr weißes Gesicht bis zur Stirn empor, ihre leuchtend geweiteten Augen schweiften zum Himmel, aus den geöffneten Lippen strömte leises, kicherndes Lachen, ohne Scheu und Furcht gab sie sich den glücklichen Schauern ihres Körpers hin.

      Als sie im Hof der Schwester angekommen waren und der Wagen hielt, sprang Christian ab. Mit vorstoßendem Griff, als hätte er einen Feind zu packen, faßte er sie, die sich ihm entgegenneigte, um den Leib, hob sie vom Wagen, hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich hin, lange und unbeweglich. In der Luft schwebend, warf sie den Kopf zurück, lachte in langen, glücklichen Zügen, er sah unter dem aufspringenden Tuch an ihrem Halse ihre kleine weiße Kehle tanzen. Sanft, mit tief befriedeter Kraft, stellte er sie auf den Boden nieder.

      Klara, seine Schwester, trat ihnen entgegen. Sie glich dem Bruder völlig an Gesicht und Gestalt, und Christians Dasein stand in einer tiefen Bedeutung zu ihrem Leben.

      Als dreizehnjähriges Mädchen hatte sie einst Mutterstelle an ihm vertreten und trotz ihrer großen Jugend den kleinen Bruder mit einer leidenschaftlichen, mütterlichen Inbrunst geliebt. Unermüdlich hatte sie ihn gewartet, ihn auf ihren noch schwachen Armen umhergetragen, bis sie schmerzten, über seinen Schlaf und über sein Gedeihen gewacht und ganz die Spiele und die Gedanken ihrer Jugend vergessen. Das ernste, tiefe Glück, welches ihr diese frühen, mütterlichen Gefühle, diese sorgenden Betätigungen und die Zärtlichkeiten des Kindes bereiteten, wurde zu der großen einzigen Erwartung, die sie dem Leben gegenüber hegte. Sie wuchs auf zu einer schönen bräutlichen Jungfrau, groß und kraftvoll war ihre Gestalt, licht wie die reifen Weizenfelder ihrer Heimat umgab ihr Haar in einem Scheitel ihr Gesicht, der Ausdruck ihrer klaren, scharfblickenden Augen war zugleich voller Unschuld und voller Wissen von dem, was sie als ihr höchstes weibliches Glück erkannt hatte. Sie erwählte sich den Gatten in dem bewußten Verlangen, Kinder zu gebären, mütterliche Liebe zu verschenken und kindliche Zärtlichkeiten zu empfangen, alle jene Wonnen wieder zu empfinden, die der Bruder, als sie selbst noch Kind war, schon in ihr erweckt hatte. Sie heiratete früh den Gutsbesitzer und Baron von G., den einzigen Sohn seiner Eltern, einen Mann, größer und stärker noch als alle anderen,


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