Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


Скачать книгу
die Ehe blieb kinderlos. Als sie jetzt vor dem Bruder stand, war sie eine Frau, nicht jung, nicht alt, mit traurigen und strengen Augen, den schmalen Mund umkränzt von kleinen Falten der Verzweiflung, und die schöne Blüte ihrer Gestalt schien erstarrt in der Freudlosigkeit einer kinderlosen Mutter. Sie blickte die beiden an, die in einer aufrührerischen Wolke von Jugend und Glück vor ihr standen, und ein Schein milder Traurigkeit und weicher Rührung verdunkelte den allzu klaren Blick ihrer Augen. Christian nahm Marthas Hand und führte sie so der Schwester zu.

      »Du weißt, sie hat keine Mutter«, sagte er einfach.

      »Aber sie wird Kinder haben«, erwiderte die Schwester und richtete den Blick lange auf den Bruder, weckte die Erinnerung der Liebe, des Glückes der Kindheit in der eigenen Brust auf, und plötzlich schlang sie ihre Arme um ihn in einer seltsamen sehnsüchtigen Umarmung. Verwirrt, neugeweckt nahm sie dann die Braut an der Hand und führt sie ins Haus.

      In einem geheimnisvollen Doppelspiel des Gefühles hielt sie in Zukunft Martha bei sich, half ihr bei der Zurüstung zur Hochzeit, bei der Beschaffung der kleinen Aussteuer, die die Braut aus ihrem Vermögen sich herstellen konnte, lehrte sie ihre reichen und guten Erfahrungen in Küche und Haus, beriet mit ihr die zarten Fragen der Zukunft, doch alles wie in einem Traum von eigenem Glück, alles voll eigener bräutlicher Freude und Erwartung, alles in dem Verlangen, selbst dem Bruder, dem Bräutigam und künftigen Gatten in einer Gestalt zu dienen und ihn zu erfreuen. Sie umdachte ihn mit den Sorgen und Wünschen einer wissenden Braut, die sie in Martha, der wirklichen Braut, versenkte wie in ein lebendiges Gefäß.

      Martha aber fühlte nichts von dem und lebte in unbekümmerter Freude an ihrem Glück. Christian und sie sahen sich nur an den Sonntagen und nie allein, und doch war zwischen ihnen alles klar, ohne Worte waren sie sich vertraut, strömten sie einer dem andern das tiefste Glück zu. Im März, als alles fertig bereitet, das schöne neue Haus in Treuen gefüllt war mit dem Hausrat und den Möbeln, Stoffen und Gardinen und allen den Zeichen einer künftigen Hausfrau, fand die Hochzeit statt. Sie wurde fast ohne Gäste gefeiert, da die Braut eine Fremde war und der Herr nur sein Gesinde einlud und bewirtete. Nur die Schwester und der Pfarrer führten nach dem Gottesdienst die Braut ins Haus. Aber es war eine vor Glück und stolzer Zuversicht leuchtende Braut. Ihre dunklen Augen strahlten, ihr Mund lächelte, und ihr Gang schien schwebend.

      Der Hochzeitstag war ein Sonntag, es war Schneeschmelze. Mit hartem, hellem Licht schien gierig die junge Sonne des Jahres, der Frühlingswind stürmte und jagte die dünnen, lichtdurchtränkten Wolken am seidig blauen Himmel, die schwarze Erde, durchrieselt von warm zerfließendem Eis und Schnee, knisterte im Sprossen ihrer tief verborgenen Keime. Der Abend kam früh, das Fest war kurz. Die Schwester war davongefahren, der Mann und die Frau blieben bald allein zurück. Die junge Frau, wie im Einklang mit der frühlingshaft erregten Natur schwingend in lebensfreudiger Kraft, in glückseliger Erwartung, eilte bald die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Kerzen brannten überall. Es war ein schöner, großer Raum in genauem Viereck, mit hell gestrichenen Wänden, mit zarten, weißen, fein gefalteten Gardinen vor den Fenstern. Es duftete nach Holz und Leim der neuen Möbel. Seitlich der Fenster, von der Mitte der Wand abstehend, ragten die beiden neugebauten Ehebetten, fest zusammengerückt, daß sie ein Ganzes bildeten, ins Zimmer. Sie waren aus hellem Holz gefugt und mit blendend weiß überzogenen Kissen, mit Decken und Leinen aufgebahrt. An der Türwand standen zwei große Schränke aus gleichem Holz, eine Truhe vor dem Fußende der Betten, und alles, Betten, Schränke und Truhe, war mit kleinen, rosafarbenen Blüten bemalt.

      Die junge Frau ließ ihre Blicke auf und nieder schweifen, sie neigte sich und öffnete die Truhe. Sie war leer. Die junge Frau lächelte. Sie griff in ihre dunklen, glänzenden Haare, löste sich selbst leicht und schnell Kranz und Schleier ab und legte sie auf den Boden der Truhe nieder. Sie öffnete das schwarze seidene Kleid, zog es aus, faltete es gut zusammen, tat es zu Kranz und Schleier und schloß die Truhe. Sie legte ihr einfaches graues Kleid an, das sie als Mädchen schon getragen hatte, wenn sie im Laden bediente, band eine der neuen Schürzen darauf, löschte die Kerze aus und ging hinab in die Küche.

      Die Küche war riesengroß, durch die Hälfte der Breite und durch die ganze Tiefe des Hauses gezogen. Durch zwei Fensterfronten strömte das Licht ein am Tage; ein schöner großer Herd stand im Hintergrund, hohe Regale mit blitzenden Töpfen und Geschirren verkleideten die rückwärtige Wand, während vor den Fenstern der Hofseite, die die Vorderseite des Hauses bildete, die viele Meter lange, weißgescheuerte Tafel stand, umgeben von Bänken und schweren, hölzernen Stühlen, an der alle, Herr und Gesinde, die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen. Eine schmale Tür im Hintergrund führte über einen engen, steinernen Gang in die Vorratskammer, in der die Tröge mit Mehl standen, abgeteilt in Futtermehl, Brotmehl und feines Mehl, wo das geräucherte Fleisch, von weißen Leinensäckchen umhüllt, an der Decke hing und auf Stroh gebreitet Eier und Früchte lagen. Eine Falltür in der Mitte des Bodens führte über eine Treppe in den unter ihm liegenden Milchkeller. Da standen die Kübel mit frischer Milch, gegorener Milch, abgezogener Milch und voll süßer und saurer Sahne, in irdenen Schüsseln lagerten die Massen der Butter. Es war alles auf das beste eingerichtet. Die junge Frau sah es wohl, und ohne Zögern ergriff sie davon Besitz, als wäre es ein ihr dargebrachtes Geschenk. Von der Wirtschafterin forderte sie die Schlüssel und das Wirtschaftsbuch. Sie maß mit ihr die Rationen ab, die für den nächsten Morgen zum Füttern des Viehs und zum Bereiten des Frühstücks gebraucht wurden. Sie überwachte zwei junge Mägde, die das Geschirr des Festmahles reinigten, und merkte sich, wieviel es war und an welche Plätze es gestellt wurde. Nichts erschien ihr fremd oder neu. Ein Teil des Gesindes umlagerte noch im Schein der Lampe, die von der Decke herniederhing, die Tafel in festlicher Trägheit. Die Frauen hatten die Hände in den Schoß gelegt und hielten sie dort unbeweglich still, die Männer stützten die Arme schwer auf den Tisch, und alle sahen mit ernsten Blicken auf die junge Frau. Sie ging lächelnd an ihnen vorüber, verließ die Küche und trat in das Wohnzimmer ein, um auf den Mann zu warten, der wegen des windigen Wetters die Ställe selbst mit schloß. Das Wohnzimmer lag, durch den Hausflur getrennt, der Küche gegenüber. Es enthielt Christians Möbel, seinen Schrank mit Büchern, seinen hohen Schreibsekretär aus poliertem Eichenholz, Sofa, Tisch und Stühle. Es war das Zimmer, in dem er gearbeitet und seine einsamen Feierstunden gehalten hatte. Von der Decke herab hing eine brennende Lampe, mit weißem, sanft strahlendem Schirm, welche die purpurrote Decke des Tisches unter ihr flammend erleuchtete. Eine Uhr tickte mit weitausschwingendem Pendel an der Wand. Der Duft des Festes schwebte in der Luft.

      Die junge Frau setzte sich auf das Sofa, um zu warten. Ihr schwarzes Haar glänzte tief im Schein der Lampe, in ihrem weißen Gesicht leuchteten ihre lächelnd geöffneten Lippen, ihre leicht ineinandergelegten, vollen Hände ruhten in ihrem Schoß. Sie hörte den Frühlingswind in wilden Sprüngen um das Haus wehen, in Stößen den schweren Frühlingsregen an die Fenster klirren, und dazwischen hörte sie, weit von fern, Schritte bei den Ställen. Sie hörte das Gesinde die Küche nach und nach verlassen und über den Hof in das Gesindehaus gehen, die Uhr ticken an der Wand und dann endlich hochklopfenden Herzens zwischen Regen und Wind die Schritte des Mannes, der zum Hause kam. Sie hörte ihn in die Küche gehen. Sie lächelte und wartete.

      Endlich trat er ein. Er blieb an der Tür stehen und sah sie an. Weiß leuchtete ihr Gesicht im milden Schein der Lampe, aus ihrem zärtlichen Blick aber umwehte ihn die weite Finsternis ihrer Augen, die Finsternis, die er fürchtete. Endlich aber sah er auch ihr Lächeln. Er rief sie bei ihrem Namen, zum erstenmal.

      »Martha«, sagte er leise.

      »Christian«, erwiderte sie.

      »Ich wünsche dir Gutes zum Willkommen.«

      »Wir werden glücklich sein«, sagte sie und stand auf.

      Er trat zu ihr und ergriff ihre Hand. Die Frau nahm sie, hob sie empor und preßte sie fest gegen ihre junge Brust. Seinem zu ihr niedergesenkten Blick lächelte sie entgegen, mit der freien Hand zog sie die Lampe zu sich und verlöschte sie. Im Dunkeln gingen sie Hand in Hand aus dem Zimmer, die Treppe empor, und traten in das Schlafzimmer ein. Im Dunkeln entkleideten sie sich, verhüllt und unsichtbar einander durch die Finsternis einer sternenlosen Nacht.

      Der Mann stand am Fenster. Im aufklopfenden Herzen fühlte er die Finsternis


Скачать книгу