Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


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die Liebe der Jugend füreinander noch fühlten, eine neue keusche Zärtlichkeit, die sie mit sanftem Zwang auseinanderhielt, wie die vergangene sie zusammengeführt hatte. Hatten sie nebeneinander geruht, vereinigt nur in ihren Herzen, hob die Frau am Morgen das Kind aus dem Bett und reichte es dem Mann. Sie reichte es ihm, als schenke sie so sich ihm selbst, aber das schönste, ihr selbst verborgene Teil ihres Wesens, als schenke sie ihm ihre Jugend, jünger als die, die er gekannt, ihre Schönheit, schöner als die, die ihn bezaubert hatte, und ein Glück, herrlicher als das tiefste Glück, das sie ihm je bereitet. Und er nahm es entgegen und erwartete des Kindes unschuldiges Lächeln, mit dem es aufwachte. Er fühlte sein Glück und nie mehr die Furcht und Mahnung nächtlicher Dunkelheit.

      Um des Kindes Liebe, sein Zutrauen, ja nur sein Lächeln, bewarben sich alle.

      Emma sah mit eifersüchtiger Trauer, daß es an der Brust der Mutter genährt wurde und daß es im Zimmer der Eltern schlief und sie es nicht, wie die anderen Kinder früher, Tag und Nacht bewachen und pflegen konnte. Sie strickte wenigstens seine Strümpfchen und nähte seine Kleider, sie entzückte sich an seinem Anblick.

      Die Brüder, im wildesten Knabenalter stehend, liebkosten es scheu und sahen mit hilfloser Zärtlichkeit zu ihm herab.

      Vor der Wiege des neugeborenen Kindes hatte auch Fritz gestanden. Er war dreizehn Jahre alt, groß und stark, seine Glieder mit einer zarten Fülle von Fleisch schön überformt, das volle, weiße Gesicht durchleuchtet von dem Glanz seiner großen blauen Augen, über der runden Stirne das üppige lichte Haar, rosig gefärbt Mund, Kinn und Wangen. Er beugte sich lächelnd zu dem friedlich ruhenden Kinde herab. Er hob langsam, von einem sonderbaren Begehren gezogen, seine volle, kräftige Hand und legte sie auf das weiche, winzige Köpfchen des Kindes nieder. Er fühlte den kleinen, noch knochenlosen, von feuchter Wärme umdunsteten Schädel in seiner Hand, er fühlte feines, zartes Pochen von schwachen Pulsen, und es ergriff ihn etwas Furchtbares. Von den weich und warm gegen das Innere seiner Hand anpochenden Schlägen, von dem lauen Strömen der kleinen Pulse angetrieben, fühlte er plötzlich sein eigenes Blut aufjagen, seine eigenen Pulse aufhämmern und sein Herz in Stößen schlagend die Kehle ihm zusammenpressen; ein Zittern, wohlig und schrecklich zugleich, schüttelte seinen Körper, schwarze Röte überflutete sein Gesicht, der Mund fiel auseinander, zischend entfuhr ihm lautloses Lachen. In würgendem Krampf zuckten seine Hände, aber er riß sie los von dem weichen, warmen Haupt des Kindes, er schlug die Nägel in das eigene Fleisch, er floh aus dem Zimmer, rannte über den Hof, suchte nach Arbeit und ergriff endlich eine Axt, um mit wilden, weit ausholenden Schlägen einen Stamm Holz zu spalten, und ließ das lautlose Lachen aus der aufgewühlten Brust über die weit auseinander geöffneten Lippen nach und nach ganz entweichen. Als er ruhig und müde wurde, spürte er Durst. Er ging zum Brunnen und trank, fing das Wasser in die gehöhlten Hände auf, fühlte wollüstig die Kühlung erst da und dann in der heißen trockenen Höhle seines Mundes, in der er jeden Schluck erst lange hin und her bewegte, ehe er ihn in die Kehle rinnen ließ.

      Von diesem Ereignis an begann er völlig scheu zu werden und alle menschliche Gesellschaft zu meiden. Da die drei Knaben nun von der Amme getrennt wurden und die Söhne eine eigene Kammer bezogen, bat er, von nun an im Gesindehaus und allein schlafen zu dürfen, da er doch ja nun bald zu den Knechten gehöre. Seine Mutter freute sich über seine Bescheidenheit und setzte die Erfüllung seiner Bitte durch, obwohl der Herr es gern hatte, den Knaben wie einen seiner Söhne zu halten.

      Nachdem so Fritz ein kleines Gelaß mit einem Bett im Gesindehaus bezogen hatte, konnte er sich völlig versteckt halten. Die anderen sahen ihn nur noch bei der Arbeit und bei den Mahlzeiten. In den Feierstunden lief er allein durch die Felder in den Wald, streifte umher, sang mit seiner hohen, sanften Stimme vor sich hin. In der Dämmerung verkroch er sich oft in das Weidengebüsch des Teiches und lauschte dem Treiben der Frösche, von den weichen, hüpfenden Tieren seltsam angezogen. Er horchte auf ihre schnarrenden Rufe, auf das Glucksen und hohle Plätschern ihrer Sprünge, nach und nach erkannte er auch ihre Gestalten in der Dämmerung, sah sie auf den Blättern der Sumpfgewächse hocken, unbeweglich still, in den weichknochigen Leibern zuckte klopfend der Hammer der Pulse, wie Pulse klopfend bewegten sich auch die vor- und zurückspringenden Hügel der Augen. Einmal beugte er sich nieder und fing ein Tier in seine hohl aneinander geschlossenen Hände. Weich und kühl und doch von Herzschlägen durchbebt, zuckte es leise gegen die Flächen seiner Hände. Vom sanften Pulsschlag des Tieres erweckt und aufgetrieben, strömte sein Blut auf, antwortete im geheimnisvollen, gleichen Takt der harte Schlag seines Herzens jenen kühlen, weichen Schlägen, die an das Innere seiner Hände rührten, und krampften sich seine Hände zusammen, um das Tier, um die lockenden Herzschläge zu ersticken, so ward im gleichen Maße seine Kehle zusammengepreßt, er mußte den Mund öffnen, tief nach Luft seufzen, sein Kopf sank tief in den Nacken, über das zurückgeneigte, engelhafte Gesicht goß sich in Wellen schwarze Röte, die Augen, weit geöffnet und mit glitzerndem Schein überzogen, starrten in den sanft verschleierten Himmel der Dämmerung, und sein starker Körper ward von lautlosem Lachen furchtbar erschüttert. Es drängte ihn, die Hände ganz ineinander zu pressen, in tiefster Vereinigung den Herzschlag dort und den Herzschlag in der eigenen Brust zu ersticken, die Kehle dort und die eigene Kehle ganz zu erwürgen; doch er riß sie noch im letzten Augenblick auseinander und tötete nicht völlig das Tier, das zur Erde niederfiel und mit lahmen Sprüngen in das Gebüsch sich rettete. Nun versank in Ruhe sein Herz und in Müdigkeit sein Blut. In haltloser Leichtigkeit flatterten seine Hände. Er barg sie in den Taschen seines Rockes und ging mit langsamen, erschöpften Schritten zum Haus. Er floh von diesem Tage ab den Teich und seine Nähe.

      Ein Jahr später, wieder im Sommer, sah er, durch den Wald wandernd, einen jungen, aus dem Nest gefallenen Vogel am Boden liegen. Es war ein Rotkehlchen; seine winzigen, schwarzen Augen blinkten, der kleine Schnabel öffnete und schloß sich lautlos klagend. Er hob ihn auf und nahm ihn zwischen seine Hände. Das Herz des geängstigten Tieres, das rasend gegen seine Hände schlug, jagte ihn auf; sein Blut, das in wilden Strömen von ihm zu dem Vogel und von dem Vogel zu ihm zurück in geheimnisvoller Verbundenheit kreiste, sein Herz, das zu furchtbaren Doppelschlägen angefeuert wurde vom Takt des rasend in Angst schlagenden Tierherzens, es jagte ihn auf, zur Flucht. Die Hand um den Vogel gepreßt, die eigene Kehle umwürgt, flog er in hastigen Sätzen dahin, gepeitscht durch die Stöße seines Herzens, Schweiß auf seiner heiß geröteten Stirn, mit weit geöffnetem Mund, der zischend aus der engen Kehle den emporgekeuchten Atem ausstieß. Aber er erreichte das Haus noch, solange der Vogel lebte.

      Er eilte in seine Kammer und ließ den Vogel aus seinen Händen in eine Mütze gleiten, hielt die Innenflächen seiner Hände aufrecht und ausgebreitet in die Luft, bis in der Kühlung seines Blutes aller Aufruhr in ihm verging. Er begann dann, das Tierchen zu füttern, und es gelang ihm auch, es mit vieler Mühe großzuziehen und es zu zähmen. Es erkannte seinen Pfiff, mit dem er es rief, flog herbei und setzte sich auf seine Schulter und fraß aus seiner Hand. Er schnitzte ihm einen schönen geräumigen Käfig. Nur einen Namen fand er nicht für das Tier, obwohl er oft in seiner Kammer in einfachen, langgedehnten Lauten seiner weichen Stimme mit ihm sprach.

      Im Frühjahr, das nun folgte, flog ihm der Vogel, wenn sein Käfig geöffnet war, aus dem Fenster seiner Kammer bis auf den Hof entgegen. Da erblickte ihn zum erstenmal die kleine Anna und streckte in kindlicher Freude und Verlangen ihre Ärmchen nach ihm aus. Sofort holte Fritz den Käfig, lockte den Vogel hinein und brachte ihn dem Kinde als Geschenk. Die Frau wollte ihm zur Belohnung ein Geldstück schenken, doch er nahm es nicht. Das Kind aber war so erfreut über den Vogel, daß es ihn den ganzen Tag, neben ihm sitzend, betrachtete, mit kindlicher Sprache zu ihm redete und sein glückliches Lachen ihm entgegensprudelte. Am Abend, als es schlafen sollte, ruhte es nicht eher, als bis der Käfig auf einem Stuhl neben sein Bettchen gestellt wurde. Fritz, der wie früher noch die Kleider und Schuhe der Herrschaftskinder sammelte, um sie zu reinigen, kam an der offenen Tür des Schlafzimmers vorbei. Er sah das schlafende Kind und neben ihm den Käfig mit dem schlafenden Vogel auf der Stange. Er trat ein, ging leise zum Bettchen des Kindes und sah es in der noch lichten Dämmerung des Frühlingsabends an. Er hob die freie linke Hand und senkte sie dem Köpfchen des Kindes entgegen, den zarten Flaum seiner duftigen Lokken fühlte er schon warm ihn berühren, feines, stechendes Klopfen regte sich schon im Innern seiner Hand, da schreckte ihn das leise Flattern der schlafesschweren Flügel des kleinen Vogels auf.


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