Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


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im Wald in wilden Schlägen sich ineinander verfangen konnten, drückte er zu, den glitzernd geweiteten Blick auf das schlafende Kind gerichtet. Er hörte das leise Krachen der zarten Knochen unter dem weichen Federkleid, und er fühlte heiße Feuchtigkeit zwischen seine Finger sich drängen, sammetweich schmiegte sich das Blut des Vogels in seine Hand, alles besänftigend. Sein Herz war ruhig. Weiß und engelgleich war sein Gesicht. Um ihn zu verbergen, ließ er den toten Vogel in den Schuh der kleinen Anna gleiten und ging so zur Treppe hinab, durch die Küche an seiner Mutter vorbei in den Garten. Unter dem Stamm eines Holunderbaumes grub er mit seinen Händen eine kleine Grube, ließ den Vogel, ohne ihn noch einmal zu berühren, ohne sich niederzubeugen, von der Höhe seiner Gestalt herab, aus dem Schuh in die Höhlung niederfallen, deckte Erde über ihn und stampfte sie mit den Füßen fest. Der Geruch der Erde, feucht und stark, das Erfühlen ihrer Krume, kühl, weich und ohne klopfendes Leben in seinen Händen, und die kleine, alles verbergende Ebene der Grube stimmte ihn leicht und fröhlich, leise sang er bei seiner Arbeit mit seiner sanften Stimme.

      Am nächsten Morgen glaubten alle, der Vogel sei durch die Unachtsamkeit des Kindes aus dem Käfig gekommen und entflogen. Das Kind weinte bitterlich um den Verlust und fragte Fritz täglich, ob der Vogel nicht wiedergeflogen komme. Fritz schüttelte stumm den Kopf und sah es an. Er ging aber und sägte von einem wilden Kirschbaum einen Ast ab und schnitzte unter vieler Mühe und Sorgfalt dem Kinde eine Puppe, mit einem schön ausgeführten Gesicht und wohlgestalteten Gliedern. Er erwies sich als sehr geschickt für alle diese Dinge und gab seiner Mutter auch genau an, wie sie die Kleider der Puppe nähen sollte. Das Kind liebte die Puppe nun ebenso, wie es den Vogel geliebt hatte, und ließ sie nicht aus seinen kleinen Armen.

      Zum Trost auch für den fortgeflogenen Vogel schenkte der Vater ihm und den Geschwistern ein Ponygespann, und nun fuhr Fritz unermüdlich die kleine Anna spazieren, ließ sie auf den Rücken der kleinen Pferde reiten, sie sorgsam und geschickt, wie eine Frau, haltend. Er lief geduldig nebenher, so lange das Lachen und Jauchzen des Kindes nur anhielt. Er ging nie mehr zum Teich, und durch den Wald nur bei wichtigen Wegen, er hielt dann den Blick fest vorwärts gerichtet und seine Hände in den Taschen vergraben. Hörte er das zarte Rufen der Brut in den Nestern, pfiff er laut vor sich hin, um es zu übertönen. Im Herbst grub er gern in dem Garten, warf die schwarze Erde auf und wendete sie. Er sammelte welke Blätter, um Lauberde zu gewinnen, vermischte sie mit Erdkrumen, häufte und wendete sie fleißig im Laufe des Winters, und es bereitete ihm eine tiefe, beruhigende Freude, zu beobachten, wie langsam das Laub zerfiel und bis zum Frühjahr in feine weiche Erde, der andern völlig gleich, sich verwandelt hatte. Doch wußte er nie, warum er alles so tat und so fühlte, und gab dem keinerlei Namen. Die nächsten Jahre vergingen auch für ihn noch gut.

      Es kam der Sommer mit dem vierten Geburtstag der kleinen Anna. Im Frühjahr war das Kind leicht erkrankt, hatte Fieber, und auf seiner kleinen, linken Brust, dicht über dem Herzen, entstand ein großes, bösartiges Geschwür. Die Mutter badete das Kind, legte heiße Umschläge und Salben auf die Wunde, und bald heilte sie auch, eine weiße, kreisrunde Narbe zurücklassend. In der Freude der Genesung überkam die Frau plötzlich das Verlangen nach einem Bild des Kindes, und sie beschloß, mit ihm zur Stadt zu fahren, um es photographieren zu lassen. Heimlich, zur Überraschung des Mannes sollte es geschehen. Das Kind trug ein weißes Kleidchen mit kurzen, wie kleine Flügel aufgestellten Ärmeln, Arme und Füße waren entblößt. Doch es weigerte sich, entgegen seinem sonst so großen Gehorsam, hartnäckig, vor den Apparat zu treten, und brach in schmerzliches Weinen aus, das seinem Kinderweinen nicht mehr glich. Dieses Weinen steigerte sich zu entsetzensvollen Schreien, als die Mutter, um es zu beruhigen, ihm erklärte, daß aus diesem schwarzen Apparat ein Bild hervorkomme, genau wie es selbst, mit Augen, Haaren, Füßen und Händen und den Kleidern, die es trüge. Die kleine Anna schlug in Verzweiflung die Händchen vor das Gesicht und wich bis in die äußerste Ecke des Raumes zurück. Um sie doch noch zu gewinnen, erzählte ihr die Mutter, daß das Bild dem lieben Vater zum Geschenk dienen sollte. Und nun gestand das Kind unter Schluchzen in seiner kindlichen Sprache die tiefe und sonderbare Angst seines Herzens, daß es nämlich glaubte, wenn ein Bild von ihm entstünde, genau wie es selbst, mit Augen, Haaren, Händen und Füßen und den Kleidern, die es trüge, es selbst dann vergangen wäre in dem Bild und nicht mehr da sei. Und es wolle lieber dableiben, im Leben, bei Vater und Mutter, bei der Puppe und den Pferdchen und bei allen Tieren, die es liebte und die es der Mutter alle einzeln aufzählte. Es bat und flehte rührend, kein Bild aus ihm zu machen, und die Mutter brauchte lange, um ihm zuzureden und es zu beruhigen. Langsam gewann nun das Kind seine Heiterkeit zurück, lachte wieder und begann dann, als es nochmals vor den Apparat geführt wurde, aus eigener Eingebung eine sonderbare, wenn auch bezaubernde Stellung einzunehmen, die es sehr still und lange festhielt. Es stand leichtfüßig da, als ob die nackten Füßchen den Boden kaum berührten, das linke Ärmchen hatte es hinter sein Köpfchen gehoben, das sich leicht zur Schulter niederneigte, das rechte Händchen aber hielt es erhoben bis zur Schulter, und da streckte es weisend seinen kleinen Zeigefinger empor. Ein süßes, zartes Lächeln lag um den Mund und auf den kleinen Zügen des Gesichts, während die großen Augen noch von Tränen, Furcht und Traurigkeit verschleiert waren. Das Bild, das so entstand, ergriff später alle, die es sahen, auf besondere Weise.

      Vier Wochen später, am dreiundzwanzigsten Juni, dem Tage vor Johannis, war der vierte Geburtstag des Kindes.

      Es war die schöne, festliche Zeit des Sommers. Die schwere Feldarbeit hatte noch nicht begonnen. Das Getreide auf den Feldern, kindeshoch und reich angesetzt im Korn, stand noch im Grün. Die Bäume hielten noch die schwellenden Früchte an den Zweigen, die Beeren ihre glühenden Trauben zwischen den Blättern ihrer Sträucher. Nur das Heu war schon gemäht, lag tot, mit schwerem Duft in der Sonne. Der Gesang der Vögel in den Nächten war verstummt, überall hingen schon die Nester mit der zart wispernden Brut. Auf den Weiden führten die Alten ihre Jungen zur Äsung: die Schafe ihre Lämmer, die mit den zierlichen Gelenken zitternd ihre Sprünge taten, die schweren Kühe hatten ihre milchduftenden Kälber um sich, die mit weichen Mäulern das Gras von der Erde saugten, und zwei Stuten trabten hinter dem übermütig blinden Lauf ihrer Fohlen sorgend mit erhobenen Köpfen einher. Von zwei kindlichen Hirtinnen bewacht, führten die Enten ihre Jungen lärmend zum Teich, und die Hennen riefen, warnten und lockten unermüdlich das Volk ihrer Kücken. Alles war in Ruhe, im Wachsen und Reifen. Die Tage waren strahlend in der noch milden Glut des Frühsommers, die Nächte durchsichtig blau, mit sternbesäten Himmeln, mit zart bewegter Luft. Ein Hauch von Frieden und Glück, von leichter Fröhlichkeit wehte aus der Natur die Menschen an, und man hörte viel Singen und Lachen auf dem Hof.

      Es war Sonntag. Nach dem Gottesdienst war die Schwester des Herrn gekommen und hatte der kleinen Anna Geschenke gebracht, eine große Tüte Bonbons, ein paar feine weiße Strümpfe mit roten Ringen, in deren Fußende je zwei Taler versteckt waren. Das Kind war fiebernd vor Freude und Erregung. Es lief von einem zum andern, um ihm sein Glück über die vielen Geschenke, die es erhalten hatte, zu erzählen. Es hob mit freudebebenden Händchen die Falten seines Röckchens auf, um jedem nahe und deutlich sein neues Kleidchen zu zeigen, aus schönem, rot- und grünkariertem Stoff, an dem Leibchen und an den Ärmeln mit einer dichten Reihe schillernder Knöpfe besetzt. Es hob, wie eine Tänzerin seine Arme ausstreckend, den kleinen Fuß empor, um die noch weißschimmernde Sohle seines neuen Stiefelchens zu zeigen. Es tobte und sprang und lachte sprudelnd, so daß es am Abend kaum zur Ruhe gebracht werden konnte, und es schien von einer so gewaltsam gesteigerten Lebensfreude erfüllt zu sein, daß es der Mutter schwerfiel, es in den Schlaf zu zwingen, so bestrickend, im tiefsten erfreuend waren seine Zärtlichkeiten, sein Liebreiz und sein Lachen an diesem Tag gewesen.

      Am späten Nachmittag war der Herr aufgebrochen, um seine Schwester heimzufahren. Seit der Geburt des jüngsten Kindes war sie, die alle Jahre vorher sich selbst in bitterer Einsamkeit gehalten hatte, um nicht die Qual fremden Glückes zu spüren, doch wieder in den Kreis menschlicher Gemeinsamkeit getreten, hatte oft des Bruders Haus besucht, um an der reichen, jedem offenen Lieblichkeit des Kindes auch Freude für ihr Herz zu gewinnen. An dem Bruder aber, als an dem Vater und Erzeuger, hing sie jetzt in einer fast ehrfürchtigen Liebe. Vor der breiten, stattlichen Auffahrt zum Wohnhaus ihres Gutes trennten sich die Geschwister, denn der Bruder wendete den Wagen gleich zurück. Die Schwester sah ihm nach. Der Himmel wölbte sich um ihn, während er in die Weite der Ebene hineinfuhr, die großen, leuchtenden


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