Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


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die beiden jungen Hirtinnen, Minna und Friederike, die die lange Schar der Enten vor sich hertrieben. Die Tiere stießen unter lautem Geschrei sofort in den Teich, und es war, als ob die unbeweglich gleißende Fläche sich nur schwer unter den Ruderschlägen der Tiere teilen könne, und die Wassertropfen, die bei ihrem Tauchen und Schwimmen gläsern aufsprühten, schienen aus einer anderen Tiefe als der des Teiches hervorgezaubert zu sein.

      Die Sonne stieg. Fritz schnitt die Weiden, die beiden Hirtinnen banden sie in kleine Bündel und verankerten sie mit Steinen im Wasser. Sie waren vierzehn Jahre alt, ihre Röcke waren noch kurz über den nackten braunen Beinen, ihre blonden Zöpfe, am Ende ihres Geflechtes mit einem roten Wollfaden zusammengebunden, fielen unter den weißen, leinenen Kopftüchern hervor und schwangen mit im Übermut ihrer kindlichen Bewegungen. Ihre Gesichter waren einander völlig gleich, gesund und braun, mit Sommersprossen bedeckt, und wenn die Mädchen lachten, zeigten sie herrlich weiße Zähne. Sie versuchten, Fritz zu necken, stachen kichernd mit den Enden der Weidenruten nach seinen Ohren, doch wenn er sich umwandte, liefen sie angstvoll kreischend davon. Merkten sie aber, daß er ihnen nicht folgte, blieben sie in der Entfernung stehen, höhnten ihn, streckten ihm ihre Zungen entgegen und schnitten ihm Grimassen. Er sah sie wohl an, sah ihre Röcke von den nackten braunen Beinen auffliegen, sah ihre aufgerissenen Münder, die ihn reizten, zuzuschlagen, aber er hielt sich, er folgte ihnen nicht, arbeitete ununterbrochen weiter. Doch nach und nach, in der Umhüllung der in Sommerglut steigenden Sonne, befiel ihn eine mehr und mehr wachsende, rauschartige Erregung. Er fühlte sein Blut, wie es leise, fast kosend und schmeichelnd von seinem Herzen kam, wie es durch die Glieder trieb, wie es von weichen Schlägen emporgehoben wurde zum Kopf und in die Schläfen, bis in die feinen Adern der Augenlider hinein; sein Körper ward ihm leicht, er fühlte sich nicht mehr auf den Füßen stehen, er schien schwebend über der Erde gehalten. Er begann zu singen mit seiner unendlich sanften, hohen und schönen Stimme, langgezogene Töne eines Chorals. In seltsamer Verklärung trat die engelgleiche Bildung seines Gesichtes hervor.

      Dann hatte er sich plötzlich in dem kraftlosen Zittern seiner Hände eine tiefe Wunde in den Ballen der linken Hand geschnitten. Er fühlte keinen Schmerz, sah nur sein Blut fließen. Er hielt die Wunde dicht vor seine Augen. In großen, vom Sonnenlicht leuchtend umflossenen Perlen rollte das Blut nieder, die letzte Last und Schwere seines Körpers entwich, der letzte Druck seiner Kräfte verging, das Hämmern und Pochen der Pulse verstummte, wie ein leeres, reines Gefäß schwebte er in Rausch und Traum in der Freude des sommerlichen Tages.

      Doch es blieb nicht so. Der Tag wanderte weiter, die reine Minute verging in ihm. Die beiden jungen Hirtinnen kamen herbei, und als sie seine blutende Hand sahen, schöpften sie mitleidig Wasser mit ihren hohlen Händen aus dem Teich, suchten auf der Wiese Kräuter, die, mit dem großen Blatt einer Wasserrose auf die Wunde gebunden, das Blut bald stillten. Fritz besann sich auf die Arbeit, es war Mittag geworden, und er hatte noch Arbeit in den Ställen zu verrichten. Er lief zum Hof zurück. Noch immer spürte er seine Füße nicht, im Flug wurden seine Schritte vorwärtsgehoben. Mittags aß er viel und hastig, doch fühlte er keine Sättigung von dem schweren Mahle. Nach dem Essen wurde er sofort in den Wald geschickt, beladen mit einem großen Korb, der das Essen für die Holzfäller, die draußen geblieben waren, enthielt. Doch mußte er sich eilen, zurückzukommen, denn die Arbeit an dem Dach der Scheune vier, bei der er helfen sollte, begann um drei Uhr. Er setzte in langen, federnden, in den Knien immer noch zitternden Schritten durch den Wald, der kühl und dämmrig zur Besinnung mahnte. Auf dem Rückweg aber stolperte er plötzlich, fiel nieder und schlug hart mit dem Kopf auf eine Baumwurzel auf. Er erhob sich langsam, völlig verwirrt; in seiner leeren Brust stieg wie ein furchtbarer Kitzel Lachen auf, schon öffnete sich sein Mund, doch er stieß noch schnell den Kopf vor und begann von neuem in langen Sätzen heimwärts zu rasen. Als er ankam, war es schon einhalb vier Uhr. Durst quälte ihn, und er ging in die Küche, um zu trinken. Doch es war noch nicht gemolken, und die Milch vom Morgen war verbraucht. Am Herd stand Emma, seine Mutter, und überwachte das Kochen der Beeren, die am Vormittag geerntet worden waren. Er sah ihr zu, wie sie mit einem großen Hackmesser Stücke von einem riesigen Zuckerhut abhieb und sie in die kochenden Beeren versenkte. Er sah, wie die weißen Gebirge des Zuckers in dem roten, träge glucksenden, kochenden Blut des Beerensaftes standen, dann langsam sich rot verfärbten und endlich untergingen; es blieb die leise bewegte, glucksende Fläche von glühendem Rot. Die Hitze des Herdes, die weich auf- und niederzuckenden Blasen des kochenden Saftes reizten ihn von neuem. Das Lachen aus seiner Brust stieß drängend zur Kehle. Er wandte sich um, lief mit ausgedörrtem, vor Durst schmerzendem Munde am Brunnen im Hofe vorbei, weiter, zurück zum Teich, zu den Weiden, er floh zur Arbeit und Ordnung.

      Vor der Tür des Hauses saß die Frau. Neben ihr spielte die kleine Anna. Das Kind sah mit seinem leuchtenden Blick Fritz nach, als er über den Hof zum Teiche lief. Einen Augenblick lang ward ihr Gesichtchen plötzlich von Ernst und Nachdenken überzogen. Sie wandte sich zur Mutter und sagte mit seltsam leiser Stimme:

      »Ich muß zum Teich, ich muß noch die Enten füttern.« Denn dies hatte sie zu ihrer Freude täglich tun dürfen, seit die jungen Enten des Jahres ausgekrochen waren.

      »Nein«, sagte die Mutter, »heute gehe nicht zum Teich, bleibe bei der Mutter.«

      »Aber sie haben Hunger«, fuhr das Kind mit Ernst fort, »ich habe ihnen heute noch kein Brot gegeben.«

      »Aber die Entlein haben doch auch eine Mutter, und die hat sie heute schon gefüttert. Bleibe nur da.«

      »Aber die Mutter von den Entlein kann doch kein Brot abschneiden«, beharrte das Kind in unerschütterlichem Ernst, »ich muß doch schnell zum Teich laufen und ihnen Brot bringen«, und da es sich besann, daß die Mutter das Brot in der Speisekammer abschneiden mußte, begann es plötzlich zärtlich zu werden, zu schmeicheln, mit Bitten sie zu bestürmen, bis die Mutter aufstand und mit ihm in die Küche ging. Hier versuchte sie noch einmal, das Kind von seinem Vorhaben abzubringen, doch dieses begann nun mit seinem ganzen reizenden Übermut, sie zu bedrängen. Es schlang die Ärmchen fest um die Knie der Mutter, so daß diese, gefangen in der Umschlingung, ohne Gewalt sich nicht mehr bewegen konnte, es preßte sein rundes, schelmisches Gesichtchen durch die Falten der Röcke fest an die Beine der Mutter, und unter ihrem sprudelnden Kinderlachen rief es immer wieder, daß es die Enten füttern wolle. Die Mutter versuchte sich loszumachen, doch sie vermochte nicht, gewaltsam das Kind von sich zu lösen. Vorgebeugt, sah sie die blonden Locken des kleinen Hauptes zwischen den dunklen Falten ihres Rockes wehen, sie fühlte durch ihre Kleider hindurch voll Zärtlichkeit den heißen Atem des kleinen lachenden Mundes an ihren Schenkeln leise zum Leib aufsteigen. Erregt von der Freude des Kindes, angesteckt von seinem Lachen, lachte sie mit, in langen strömenden Zügen, wie sie bisher nur die Freuden der Nacht aus ihrer Brust hervorgelockt hatten, und nun entquoll derselbe weiche Ton, tief und lockend bei der Mutter, hell und zwitschernd bei dem Kind, in innigster Vermischung beider Kehlen. Nun losgelassen, mittreibend im Übermut des Kindes, preßte es die Mutter noch fester an sich, packte es unter den zarten Schultern und begann sich selbst tanzend im Kreise zu drehen, so daß das Kind, an den Ärmchen gehalten, mit den Beinchen aber in der Luft schwebend, in weitem Bogen mit ihr kreiste. Der ganze Raum der Küche war erfüllt von dem jubelnden Gelächter der beiden. Doch mitten im drehenden Schwung des Spieles sah die Frau plötzlich den Mann mit dem Viehhändler von den Ställen kommen, dem Haus sich nähern. Sie hielt verwirrt und erschöpft inne.

      Der Mann blickte durchs Fenster und sah das lichte Haupt des Kindes an die Mutter geschmiegt und ihren dunklen Scheitel tief zu ihm niedergebeugt. Er lächelte und schritt weiter. Aber während der ganzen geschäftlichen Verhandlung, die er im Wohnzimmer mit dem Viehhändler hatte, schwebte dieser Anblick vor seinen Augen, und er fühlte in seinem Herzen eine tiefe Bewegung.

      In der Küche hielten Mutter und Kind, nur schwer innehaltend in ihren kreisenden Bewegungen und schwer den erregten Atem ausatmend, sich noch immer umschlungen. Doch das Kind vergaß nicht. In unermüdlichem Lachen und in hartnäckigen Schmeicheleien wiederholte es seine Bitte.

      Die Mutter aber, erschöpft von Spiel und Lachen, konnte nun nicht mehr widerstehen. Sie ging in die Speisekammer, schnitt Brot ab und zerteilte es in kleine Würfel, während das Kind mit seinem Körbchen herbeieilte und sie mit seinen kleinen Händen hineinfüllte. Obenauf legte die Mutter noch einige Scheiben von dem Kuchen,


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