Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


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Ernten, die Herden gediehen, die Menschen lebten in Eintracht, die Kinder wuchsen auf, gesund, gut und schön. Der Lohn war gerecht, das Mahl reichlich, die Feiertage voll friedlicher Freuden. Der Mann und die Frau lebten noch immer in dem Glück ihrer ersten Tage. An den Tagen die Arbeit, die Sorgen und Mühen, die Ernten, der Gewinn, das Gedeihen der Kinder, alles diente ihnen nur, sie täglich neu zu verbünden und die Nächte hochzeitlich zu erwarten, in denen die Frau ihren Kuß auf die Lippen des Mannes schmiegte, übermütig ihr Lachen aus der jungen, vollen Brust strömen ließ. Am Tage saß sie bei den Mahlzeiten an der Tafel ihm zur Seite, seine Magd, wie die anderen auch, gehorchend seinem klugen Blick, seinem guten Wort, wie die anderen auch. Aller Augen hingen stets an ihm, denn mit seinen Sorgen trug er die Sorgen aller, mit seinen Freuden empfingen sie die ihren.

      Der Herr war jetzt siebenunddreißig Jahre alt. Groß die Gestalt, mit breiten Schultern, licht das Haupt über einer reinen, sehr hohen, leicht gewölbten Stirn, licht der Bart, der das energische Kinn bedeckte, den schmalen frommen Mund beschützte, von Adern durchzogen sah man die schmalen Schläfen und Hände; doch am stärksten ruhte die stille und gütige Macht, die von ihm ausstrahlte, in dem klugen, herrschenden Blick seiner klaren Augen, die tief in ihre Höhlen gebettet waren, von schweren Lidern keusch verhangen. Er sprach nicht viel, ohne Befehl fast geschah alles nach seinem vorsorgenden Willen. Er arbeitete von früh bis spät und ruhte nicht mehr und nicht früher, als alle ruhen durften. Er lebte unter dem Gesinde, und das Gesinde lebte im Vertrauen auf ihn. Er achtete bis zum Tagelöhner auf alle Menschen, die ihn umgaben, und hatte sie sich gut erwählt.

      Als erster stand ihm Blank, der Wirtschafter, zur Seite, ergraut in Alter und reicher Erfahrung, doch gefügig und treu dem Willen seines jungen Herrn. Weiter hatte er um sich geschart den Fischer Andres, der den großen Teich am Gutshof und die kleinen Seen der Gemarkung bewachte, die schweren Teichfische fing, die kleinen Dämme und Wehre errichtete, die die Bewässerung der Wiesen speisten und regulierten, denn ein Fluß durchzog die Gegend nicht. Dann den Schmied, der die Wagen und Pflüge baute und im Stande hielt, die Pferde beschlug, Schlösser und Gitter errichtete, wo sie gebraucht wurden, dann den Tischler und Zimmermann, den Dachdecker und die große Zahl der Knechte, Mägde und Feldarbeiter. Die Katenwohnungen, die in weitem Bogen das Gehöft umstanden, hatte er wohnlich herstellen lassen, denn die Handwerker hausten drinnen mit Frauen und Kindern, die verheirateten Feldarbeiter und Knechte. Die kleinen Häuser waren jedes umzogen von einem schmalen Streifen Garten, in dem Gemüse wuchs und Blumen blühten. Denn alle Nahrung, Mehl, Kartoffeln, Fleisch, die Wäsche und Kleidung für Sommer und Winter, erhielten sie von dem Gute. So kam es, daß sie nur für ihren Herrn arbeiteten, reine Feierstunden genossen und doch den Lohn für Not und Alter sparen konnten. Die übrigen, Knechte, Hirten, Pferdefütterer und Dienstboten, zwanzig an der Zahl, wohnten in dem großen, geräumigen Gesindehaus, die Mägde in den hellen Kammern des neuen Wohnhauses.

      Zwischen beiden nun, zwischen dem Kreis der kleinen Hütten und den stattlichen Gebäuden des Gutes, lag wie ein Wahrzeichen ein großer Teich, sanft eingesenkt in ein kleines Wiesental, mit einer hellen, im Wind leicht sich kräuselnden Wasserfläche und weit im Rund geschwungenen Ufern, die dicht bestanden waren von Weiden, in deren Gebüsch im Frühling Nachtigallen sich lockten und Frösche knarrten, während an den Sommertagen die Enten mit ihren Jungen auf der sanft bewegten Wasserfläche schwammen und tauchten. Hier war der Lieblingsaufenthalt der Kinder, die an seinen Ufern spielten und zusahen, wenn die Enten gefüttert wurden, die Stätte der fröhlichen Zusammenkunft der Erwachsenen an den sommerlichen Abenden und den Nachmittagen des Sonntags und das heimliche Versteck der Liebenden.

      Das Gehöft nun selbst erhob sich in der Ebene der riesigen Felder ungefähr hundert Meter weit vom Teich entfernt, mit seinem stattlichen Wohnhaus, vor dessen Vorderfront der große, mit Quadersteinen sauber gepflasterte Hof lag, mit einem Brunnen in der Mitte, während es mit seiner Rückenfront in einen ebenfalls großen Garten blickte, dessen schwere schwarze Erde mit Gemüsen und Beerensträuchern aller Art bepflanzt war, und der wiederum umgrenzt wurde von einer Hecke wilder Rosen, zwischen denen große, reichlaubige Holunder- und Nußbäume aufragten. Zwischen den Hecken eingebaut lagen die Bienenkörbe, und in einer Ecke stand eine schöngezimmerte Laube, von Blattwerk umrankt. Rechts und links des Wohnhauses standen in reichlicher Zahl die Gebäude der Ställe, des Gesindehauses, der Scheunen und Schuppen, alle gut gefügt und erhalten. Ein nicht allzu breiter Weg mit Obstbäumen auf beiden Seiten führte vom Hofe durch die Felder, dann ein Stück die Wiesen entlang, dann durch einen Tannenwald (der mitsamt dem Jagdbestand, der sich in ihm befand, der Pacht zugehörte und das Gehöft auf eine schöne natürliche Weise nach dieser Seite abgrenzte) auf die große Landstraße nach S., dem Marktflecken. Das Gut lag also abgeschlossen, ein Dorf, eine Welt für sich. Um nach S. zur Kirche, Schule oder zum Markt zu kommen, waren es zu Fuß drei Stunden Weges. Zweimal in der Woche wurden also in dem großen, selbstgebauten Leiterwagen, bespannt mit den kräftigen, schön gestriegelten Pferden, die man schon von weitem als die Treuener erkannte, die Milchprodukte, die Eier, das Geflügel und Gemüse zum Markt oder zur Poststation zum Versand gebracht.

      Mit zwei Wagen aber, sauber gewaschen und geputzt, über die an Regentagen schützende Planen aufgezogen und die im Winter bei Schnee auf Schlittenkufen gesetzt wurden, fuhr man, von schön aufgezäumten Pferden gezogen, dicht aneinandergedrängt auf den die Wagenwände entlang aufgestellten Bänken, an jedem Sonntag von Treuen nach S. zur Kirche. Abwechselnd miteinander fuhr so das ganze Gesinde zum Gottesdienst und zurück; es waren heitere Fahrten, und keiner versäumte sie.

      Vorauf rollte der Herrschaftswagen, eine Kutsche mit vier Sitzen, gefedert und mit einem zusammenfaltbaren Lederdach überdeckt, bespannt mit zwei goldbraunen Füchsen, den schönsten Pferden vom Hof. Diese Fahrten glichen einem kleinen festlichen Zug, und sie erregten Neid und auch Spott, von denen Christian B.s bescheidenes Leben sonst verschont war. Doch Christian B. liebte diese Fahrten mit ihrer kleinen Pracht, und sie erfüllten ihn mit Stolz. Er arbeitete für den fremden Besitz, als ob es der seine wäre, denn er arbeitete nicht um des Gewinnes willen, den er, da er trotzdem sich bot, selbst in bestimmten Grenzen hielt; er wollte nicht mehr gewinnen als ein Vermögen für seine Kinder, das ihnen einmal eine gleiche Existenz ermöglichen sollte wie die seine, und den Notgroschen für Alter und Krankheit. Was ihn erfreute und trieb, war der Wunsch, zu schaffen, für andere zu sorgen, ihnen Vorsehung, Halt und Heimat zu sein, sie leben zu lassen durch ihn. Mit einer zeugenden Kraft und einem väterlichen Gefühl umfaßte er die Welt und sein eigenes Dasein. Und alle Erfüllung sah er sich gegeben, wenn er die Seinen in heiterer Fahrt, gut genährt und sonntäglich gekleidet, zum Gottesdienst führte. Seine Andacht ging nicht mit der allgemeinen, in der die Worte der Schrift und die Predigten des Pfarrers vernommen wurden, sondern Gott schien sich ihm näher zu offenbaren, er glaubte Gottes Willen, sein Angesicht, ahnend zu erkennen, wenn er nach seinen gerechten und guten Worten und Gesetzen gerecht und gut zu leben bestrebt war. Und er vergaß nie, Gott zu danken und die Menschen zu lieben.

      Zur letzten Vollendung seines Glückes aber, zur Bestätigung seines Daseins, wie er es begriff, wurde ihm nach fünfzehnjähriger Ehe die Geburt einer Tochter, die zu einem bezaubernden Kinde aufwuchs. Als es vier Jahre alt war, war es der Liebling aller, die es nur einmal erblickten. Es war ein immer heiteres, strahlendes Kind; es trug die Züge des Vaters, verklärt von der sieghaften Lebensseligkeit der Mutter, es blickte aus des Vaters blauen Augen, doch sie waren weit geöffnet wie die der Mutter, in rührendem Vertrauen zur Welt, es hatte des Vaters reine Stirn, die ergreifend sein frisches, rundes Kindergesichtchen krönte, und es trug des Vaters lichte Haare, die in weichen, flaumigen Locken sein Köpfchen umschwebten. Seine Gestalt war zart, es hatte die tänzerische, freudige Anmut der Mutter in den Bewegungen und ihr leises, strömendes Lachen, weich wie Taubenlaut, unter dem seine kleine Kehle tanzte. Es hieß Anna.

      Christian liebte das Kind mit einer noch nie gefühlten, tiefen Innigkeit. Er war ergriffen von seinen Anblick, von seinen Zügen, die ihm selbst so glichen, von seinen Augen, seinen Bewegungen und seinem Lachen, von denen jedes der Mutter Wesen widerspiegelte und ihm das Geheimnis ihrer tiefsten Vereinigung zu offenbaren schien. In dem Kind liebte er zum ersten Male sich selbst, in ihm liebte er sich, die Mutter und das Kind zugleich.

      Auch die Frau war seit der Geburt des Kindes verändert. Annas Bettchen stand zu Füßen des Ehebettes an Stelle der Truhe. Nie mehr umarmte sie den Mann in der Dunkelheit mit ihrem lockenden Lachen,


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