Das verlorene Kind. Rahel Sanzara

Das verlorene Kind - Rahel Sanzara


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Erde. Er erinnerte sich jener Fahrt, im Winter, mit Martha, seiner Braut. Damals war es kalt gewesen, die schneebedeckte Erde hellstrahlend, der Himmel aber dunkel und verborgen, und das schwarze, weitgeöffnete Auge der Frau war wie Finsternis um seine Gestalt gewesen. Jetzt war es warm, die Luft noch durchhaucht von der Sonne des Tages, der nachtblaue Himmel groß, sichtbar, schimmernd wie Glas. Die Gestirne prunkten. Die Erde aber war dunkel, verschwiegen, trächtig in sommerlicher Fülle. Er dachte an seine Frau, und plötzlich erzitterte er. Ihr gesenktes Auge fiel ihm ein, ihr nachtdunkler Blick, nicht mehr mit ihren Armen zugleich fordernd um ihn geschlungen, sondern nur noch auf das Kind. Er trieb die Pferde an und fuhr schneller, von plötzlicher Sehnsucht nach dem Kinde ergriffen.

      Aber als er ankam, war schon alles zur Ruhe gegangen. Schweigend und verlassen, in Sauberkeit und Ordnung lag der schöne große Hof da, der Brunnen raunte leise, gedämpfter Tierlaut kam aus den Ställen, die schon geschlossen waren. Nur die große, weite Scheune Numero vier, nahe dem Wohnhaus gelegen, hatte die Riesenflügel ihres Tores weit in den Angeln zurückgeschlagen, und ihr tiefer, fensterloser Raum stand in scharf abgegrenzter, schwarzer Finsternis in der durchsichtigen Nacht. Die Sterne schwebten groß, nah und gewaltig leuchtend auch über ihrem Dach, doch nichts von ihrem Widerschein konnte in das Innere dringen.

      Christian, als er die Pferde ausspannte, stand eine Weile gebannt durch diesen Anblick, er erschrak, als plötzlich die Frau ihm entgegentrat, die auf der Bank vor dem Haus ihn erwartet hatte. Doch er reichte ihr schnell die Hand und zog sie neben sich auf die Bank zu einer Rast noch nieder. Sie schwiegen. Die Natur war voll tiefster Stille, nur der Glanz der Sterne war so groß, daß er zu tönen schien.

      Endlich sagte Christian, den Blick fest gerichtet auf die geöffneten Tore der finsteren Scheune: »Ist Güse für morgen bestellt?« Das war der Dachdecker, der das Strohdach der Scheune vier ausbessern sollte, ehe sie mit dem diesjährigen Korn eingescheuert werden sollte. Christian fühlte das Tönen der Sterne verstummen, die finstere Scheune rückte ferner seinem Blick, und er hörte die Stimme der Frau, die ihm antwortete: »Ja, er kommt morgen mittag.« Er sprach weiter: »Fritz kann früh gleich zum Teich gehen, die Weiden schneiden und einweichen.«

      »Ja«, sagte die Frau.

      »In Wiesenschlag sieben mähen wir. Nachmittags holt Plachmann das Schlachtvieh, es muß pünktlich gemolken werden.«

      »Ja«, sagte die Frau.

      »Ich bin mit den Jungen oben im Wald, wir wollen fällen.«

      »Ja.«

      »Es wird schon gehen«, sagte der Mann.

      Die Frau griff nach seiner starken, zuversichtlichen Hand, und sie schwiegen noch eine Weile. Dann erhob sich der Mann, und die Frau folgte ihm ins Haus. Sie gingen die Treppe empor und traten in das Schlafzimmer ein. Im Dunkeln vernahmen sie den zarten, reinen, hauchenden Atem des Kindes. Im Dunkeln kleideten sie sich leise aus. Die Frau stand am Bettchen des Kindes, hell schimmerten ihre Schultern und die weichgeformten Arme im Widerschein der sternendurchglänzten Nacht. Sie zögerte noch, aber plötzlich wandte sie sich um, war nahe dem Mann, ihr leises, strömendes Lachen tönte, sie umschlang ihn mit den Armen, tauchte die schwarzglänzende Nacht ihrer Augen in seinen Blick und zog ihn zu sich.

      Das Kind erwachte und rief. Die Frau riß sich los, wich fort von dem Mann in der Dunkelheit. Als der Mann Licht angezündet hatte, stand sie, ohne sich zu rühren, am Fußende des Kinderbettes, den Kopf tief gesenkt, das Gesicht von ihrem schwarzen Haar verborgen.

      Das Kind aber stand aufrecht im Bettchen, heiß vom Schlaf, in erregter, unnatürlicher Munterkeit lachte und sprach es, bettelte und wollte sein Geburtstagsgeschenk, sein neues, buntes Kleidchen sehen.

      »Du mußt jetzt schlafen«, sagte der Vater sanft und versuchte, das Kind niederzulegen. Es begann zu weinen, und die Mutter neigte sich demütig und stumm und reichte ihm das Kleidchen hin. Das Kind nahm es in die Arme, streichelte es, dann verlangte es noch, die neuen Schuhe zu sehen. Die Mutter reichte auch diese ihm hin. Das Kind strich zärtlich mit den kleinen Fingerchen über die noch unberührten weißen Stellen der Sohlen und über ihre scharfen, noch glänzenden Kanten hin. Es begann zu plaudern und zu lachen. Der Vater hob es auf und bettete es zwischen sich und die Frau. Schelmisch begann es ihm zu schmeicheln, haschte nach seiner Hand, die es festhielt und in die es sein kleines Gesichtchen schmiegte. Dann entdeckte es den breiten, goldenen Ring an seinem Finger, versuchte ihn abzuziehen, und der Vater, selbst glücklich in diesem Spiel, kämpfte mit dem Kind, ballte die Hand zusammen und nahm sein kleines Händchen darin gefangen. Jedesmal, wenn er das tat, lachte das Kind in langen, weichtönenden Zügen, rollte die kleine Kehle, und seine wie ein Blumenblatt zarten Lippen feuchteten sich. Still, mit gesenkten Blicken sah die Mutter, an des Kindes anderer Seite liegend, dem Spiel zu. Endlich ermüdete das Kind und schlief wieder ein. Der Vater verlöschte das Licht. Doch nur im ersten Augenblick umgab ihn Finsternis. Die helle, von Sternenschein durchlichtete Nacht schwebte bald vor seinen Blicken auf, er erkannte, ihm zur Seite liegend, das weißschimmernde Gesicht der Frau, die lichten Lider über die Nacht ihrer Augen gesenkt, er sah, an sein Herz geschmiegt, das am Tage goldfarbene Haar des Kindes jetzt silbern aufleuchten, und im tiefsten Frieden und Glück schlief er ein.

      Doch noch einmal erwachte er, das Kind weinte im Schlafe laut und schmerzlich auf, es war kein Kinderweinen, sondern das Schluchzen einer verzweifelten Kreatur.

      Er erschrak, dachte an Krankheiten, mit Sorgen wachte er die Stunden der Nacht hindurch über dem Schlaf des Kindes und trennte sich schwer von seinem Anblick, als er als erster am Morgen das Lager verlassen mußte. Das Kind aber erwachte später fröhlich wie immer, nur bestand es mit hartnäckigen Bitten darauf, daß es wieder sein neues Kleidchen und seine neuen Schuhe angezogen bekomme. Die Mutter willfahrte ihm, kleidete es in sein neues Festgewand, kämmte sorgfältig die lichten, duftigen Locken seines kleinen Hauptes und küßte mit wollüstiger Zärtlichkeit seine zarten, weichen Glieder und hielt das Kind den ganzen Vormittag in ihrer Nähe.

      Es war der vierundzwanzigste Juni, der längste Tag, die kürzeste Nacht im Jahr. Der Tag hatte begonnen in wunderbarer Schönheit. Die Morgenröte schoß feurig auf, der Tau der Nacht, kaum erst gefallen, verging unter den ersten heißen Strahlen einer klar und freudig am weißen Himmel herrschenden Sonne, der sich die Erde entgegenbot, offen in weiter Ebene, stolz und prangend in herrlicher Fruchtbarkeit. Von der Erde auf zum flirrenden Äther stießen die Lerchen mit bebendem Schwung. Die Früchte reiften, die Tiere wuchsen, die Menschen fühlten ihre Kräfte, die Arbeit war heiter.

      Auf dem Hofe begann das Leben früh. Der Herr hatte die Arbeiten verteilt. Zuletzt rief er Fritz.

      »Du hilfst beim Dach«, sagte er, »auf Scheune vier wird Güse neu decken. Schneide Weiden beim Teich, doch nur mittelstarke, von denen soll Güse doppelte Lage nehmen. Wässere sie gut ein, zum Mittag müssen sie weich sein. Friederike und Minna können dir helfen.«

      »Ich soll zum Teich?« sagte Fritz und erschrak. Doch sofort fügte er gehorsam hinzu: »Ja, Herr«, senkte den Kopf und ging.

      Der Herr machte sich mit den Söhnen auf den Weg zum Wald, wo er ihnen die fälligen Stämme, die zu schlagen waren, bezeichnen wollte. Blank, der Wirtschafter, führte einen Teil des Gesindes zum Mähen in Schlag sieben. Auf dem Hofe wurde in großen Holzkübeln Schweinefutter gebrüht und gestampft, die Wagen gewaschen und Pferde getränkt, die Kuhherde war zusammengetrieben, und die Melkerinnen schleppten die großen Milchtröge ins Haus, überwacht von Emma, die alles maß und zählte. Die Hirten jagten die Hammelherde vor sich her, dem Waldrand zu, Kühe und Pferde folgten den Zügen auf die Weide, der Hof war bald wieder leer. Im Garten sammelte die Frau mit zwei Mägden die roten Trauben der Beeren, umspielt von der kleinen Anna.

      Fritz war nach dem Befehl des Herrn zum Teich gegangen, den er bisher immer gemieden hatte. Mit zögernden Schritten näherte er sich ihm, vorsichtig trat er durch das Weidengebüsch zum Ufer. Doch das Wasser war nicht so, wie er es einmal geflohen hatte, dunkel glänzend in winzigen, treibenden Wellen bewegt, sondern es war jetzt unsichtbar, ausgelöscht vom Glast der Sonne, die auf ihm brütete. Unbeweglich, fremd, wie eine blendende Schicht aus gleißendem Metall, lag der Teich vor ihm. Kein Plätschern und Glucksen weicher, hüpfender Tiere war zu hören, nirgends ihre pulsdurchzuckten Leiber zu sehen.


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