Die Politik Jesu. John Howard Yoder
die sich unvermeidlich daraus ergeben, dass eine historische Person als die Inkarnation Gottes betrachtet wird, besteht immer noch eine merkwürdige Abneigung, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Jesus könnte politische Ansichten gehabt haben“, Brandon (1967), S. 24. Unter Neutestamentlern ist Brandon ein Außenseiter. Eine noch treffendere Beschreibung der zeitgenössischen neutestamentlichen Forschung hätte sich wohl ergeben, wenn er gesagt hätte, in einzelnen Texten seien die Fachleute sehr wohl bereit, die politische Dimension des Wirkens Jesu anzuerkennen, aber es bestehe eine Abneigung, die Beobachtungen zu verbinden. Vgl. den Kommentar von Etienne Trocmé (S. 60, Anm. 94).
4 In nuce wurde dieses Material schon vorgetragen auf der zweiten „Puidoux“-Konferenz über Kirche und Frieden in Iserlohn im Juli 1957, und etwas ausführlicher in Yoder (1964a), S. 3–7ff. Seine jetzige Gestalt verdankt es einer streng neutestamentlichen Studie, die am 27. April 1968 vor der Chicago Society for Biblical Research vorgetragen und in dieser erweiterten Form zur Veröffentlichung in BR freigegeben wurde. Die Vorbereitung profitierte von zahlreichen Vorschlägen von William Klassen und John E. Toews.
5 Allgemein sichtbar war das Problem, das in diesem Buch behandelt wird, spätestens seit den Schriften der Brüder Niebuhr in den 1930er Jahren; doch ein neuer Höhepunkt intensiven Interesses zeigt sich im Zuge des ökumenischen Nachdenkens über politische Ethik, besonders in Lateinamerika, was starken Ausdruck fand auf der Genfer Konferenz über Kirche und Gesellschaft im Juli 1966. Hier wird „Revolution“ zum Schlüsselbegriff (z. B. Richard Shaul, [1967], S. 91ff). In diesem Kontext wird Jesus oft als revolutionäre und politische Figur dargestellt; doch geschieht dies eher formal, schlagwortartig. Es geht nicht einher mit einem inhaltlichen Interesse an der Art von Politik, die Jesus verkörperte. Manchmal wird die Relevanz der konkreten Führung Jesu sogar ausdrücklich zurückgewiesen und doch weiter behauptet, in seinem Auftrag zu handeln. Eine solche Haltung ist daher gerade durch die Abwesenheit der Belange gekennzeichnet, denen sich dieses Buch widmet. Anm. 2 weist auf andere mehr journalistische Versuche hin, die sich der Thematik „Jesus als Agitator“ widmen, sich jedoch weder ernsthaft mit den Fragen biblischer Hermeneutik noch zeitgenössischer systematischer Sozialethik beschäftigen, die es brauchen würde, ernsthafter Kritik an dieser Parallelisierung standzuhalten.
6 Auch heute, 1993, halte ich das noch für eine angemessene „Laiensicht“ auf die akademische Landschaft der 1960er Jahre. Die Kommentare zu den folgenden Kapiteln zeigen auf, dass sich inzwischen einiges zum Positiven verändert hat.
7 Die fortdauernde Legitimität theologischen Rückbezugs auf den ganzen Text des Evangeliums in seiner überlieferten Form wurde von Filson (1966) überzeugend vertreten; und ähnlich von Wedel (1963), S. 17ff. Conzelmann (1954) argumentiert ebenso S. 4ff: Obwohl es Teil der Arbeit des Wissenschaftlers sei, die Dokumente zu werten und die Ereignisse dahinter zu rekonstruieren, müsse das Interesse jeglicher Textlektüre darin liegen, die Intention des Autors zu erfassen. Indem er das von Lukas sagt, zitiert Conzelmann ein ähnliches Argument von Dibelius über die Apostelgeschichte. Wir konzentrieren uns für den gegenwärtigen Zweck auf den Text, wie er uns vorliegt; das konzediert jedoch in keiner Weise, dass die tiefer schürfende Forschung nach den Ereignissen hinter dem Text unsere Ergebnisse schwächen würde; vgl. S. 19, 51 (Anm. 77), 116. In meinem Vorwort (S. 3) finden sich einige klärende Bemerkungen bezüglich des Etiketts „biblischer Realismus“.
8 Sheldons (2009) Klassiker des populären Protestantismus der Jahrhundertwende ist kein ernstzunehmendes Muster der Vision von Jüngerschaft, wie wir sie hier beschreiben. Die Werte, an die der Held des Buches, Henry Maxwell, gebunden ist, haben keinen materiellen Bezug zu Jesus. „Tun, was Jesus tun würde“, heißt für Sheldon einfach: „Tu, was recht ist; koste es, was es wolle.“ Doch was recht ist, kann man nach Sheldon auch ohne Jesus wissen. Sheldon ist eher ein Befürworter der hier beschriebenen Betrachtungsweise, die die wesentlichen Normen der Ethik woanders als in den Evangelien findet. Um Modelle zu finden, die ernst machen mit Jesu Vorbildhaftigkeit für die Sozialethik, müssen wir zurückgehen zu den Franziskanern, den Böhmischen Brüdern oder den Täufern. Anfänge einer modernen Neuformulierung dieses Anspruchs finden sich in MacGregor (1955). Vgl. auch C. H. Dodd, S. 109, Anm. 173.
9 Im Kommentar bringe ich noch einige weitere Dimensionen dieser Behauptung.
10 Die klassische amerikanische Formulierung der Abhängigkeit der Ethik Jesu von seiner Erwartung eines baldigen Endes der Geschichte ist Niebuhrs (1935); ihr folgen Paul Ramsey und viele andere.
11 „Jesus behandelt nur die einfachste moralische Situation … den Fall einer Person in Beziehung zu nur einer anderen. Er unternimmt es nicht, zu erklären, wie Menschen, die (für sich selbst) keinerlei Widerstand leisten sollen …, wenn sie allein die Schläge erhalten, in komplizierteren Fällen handeln sollen.“ Ramsey (1950), S. 167 ff. Ein Vertreter der Tendenz, die Lehre Jesu zu enthistorisieren, gerade in der Absicht, sie ernst zu nehmen, ist Colwell (1963). Obwohl Colwells Buch dahin zielt, die grundsätzliche historische Zuverlässigkeit der Evangelienberichte neu zu bestätigen, meint er, dies dürfe nicht dahingehend verstanden werden, dass damit soziale Konkretheit eingeschlossen sei. Die Versuchungslegende (S. 47) ist ein dramatisches Gleichnis der Demut, keine Versuchung. Die Häufigkeit wirtschaftlicher Motive in Gleichnissen und ethischer Lehre sollte nicht als Anzeichen einer bestimmten Einstellung zu Reichtum und Arbeit angesehen werden (S. 60). Habsucht ist falsch, nicht weil sie dem Bruder das Brot wegnimmt, sondern weil sie in geistlicher Hinsicht verderblich ist.
12 Eine Standardformulierung dieser Auffassung findet sich bei Mehl (1966), S. 44ff. Nach Mehl war Jesu Anliegen ausschließlich auf das Individuum bezogen. Er verhielt sich indifferent gegenüber sozialen oder politischen Angelegenheiten, und er stand dem Anliegen der Zeloten fern. Es ist daher eine Neuerung (nach Mehl eine heilsame), dass die christliche Ethik sich erst in moderner Zeit und als Antwort auf die Herausforderung des Sozialismus mit Fragen der Sozialstruktur beschäftigt. Es könnte ausführlicher gezeigt werden, wie dieses Denkmuster sich durchhält, sogar unter dem Deckmantel einer Sprache, die anscheinend ziemlich genau das Gegenteil meint. Wenn z. B. von Jesus als demjenigen gesprochen wird, der „wahre Menschlichkeit enthüllt“, oder wenn von der Menschwerdung als Offenbarung gesprochen wird, so könnte das durchaus heißen, wir könnten oder sollten zu dem Menschen Jesus in all seiner möglichen Menschlichkeit gehen, um zu sehen, wie Gott den Menschen will. Doch in der tatsächlichen Praxis der zeitgenössischen „Inkarnationstheologie“ dient diese Sprache im Normalfall als Präambel oder als Bekräftigung einer Definition wesentlicher oder allgemeiner Menschlichkeit, die aus ganz anderen Quellen abgeleitet wird.
13 Dies ist das zentrale Anliegen H. Richard Niebuhrs schon in Niebuhr (1951), besonders S. 234ff, und weiter in Niebuhr (1960) und in Niebuhr (1963).
14 Dass diese Quelle der Ethik „eine andere als Jesus“ ist, braucht natürlich nicht zu bedeuten, dass sie keinen Bezug hat zur Offenbarung. Man kann sehr gut von ihr sprechen als der Ordnung, die Gott der Vater geschaffen hat, oder als einem Imperativ, der in der jeweiligen Situation durch das Wirken des Heiligen Geistes erkannt wird, oder als dem „kosmischen Christus“ oder „Gottes Wirken in der Geschichte“. All diese populären Ausdrücke, wie sie gegenwärtig in der ethischen Diskussion gebraucht werden, führen uns weg von der Konkretheit Jesu zu einer anderen Quelle von Normen. Weitere Beispiele des Standpunktes, der Jesus im Namen der „Offenbarung“ relativiert, weiter unten, S. 114ff.