Die Politik Jesu. John Howard Yoder
jeder jeden kennt und als Person behandelt. Das schlichte „Von-Angesicht-zu-Angesicht-Modell“ der sozialen Beziehung ist das einzige, das ihn beschäftigte. Es gibt also in der Ethik Jesu keine Intention, Wesentliches zu den Problemen komplexer Organisation, zu Institutionen und Ämtern, über Cliquen, Macht und Massen zu sagen.
3. Jesus und seine ersten Nachfolger lebten in einer Welt, auf die sie keinen Einfluss hatten. Es ist daher ganz einleuchtend, dass sie sich keine andere Art sozialer Verantwortung vorstellen konnten als die, einfach eine gläubige, bezeugende Minderheit zu sein. Nun hat jedoch die Christenheit in der Geschichte große Fortschritte gemacht, was sich symbolisch in der Bekehrung Konstantins und praktisch in den „jüdisch-christlichen“ Voraussetzungen manifestiert hat, die unserer ganzen westlichen Kultur zugrunde liegen. Daher müssen Christen Fragen beantworten, die sich Jesus seinerzeit nicht gestellt haben. Als einzelne oder gemeinsam müssen Christen Verantwortlichkeiten akzeptieren, die in Jesu Situation unvorstellbar waren.11
4. Das Wesen der Botschaft Jesu ist ahistorisch per Definition. Sie handelt von geistlichen, nicht von gesellschaftlichen Angelegenheiten, von Existenziellem, nicht von Konkretem. Er verkündete keinen sozialen Wandel, sondern ein neues Selbstverständnis, nicht Gehorsam, sondern Sühne. Was immer er auch von sozialer und ethischer Bedeutung sagte oder tat, darf nicht für sich selbst betrachtet werden, es muss vielmehr als die symbolische oder mythische Einkleidung seiner geistlichen Botschaft verstanden werden.12 Wenn auch die Texte der Evangelien in diesem Punkt nicht klar genug sind, so erhalten wir doch definitive Aufklärung in den späteren apostolischen Briefen. Besonders Paulus entfernt uns von der letzten Spur eines allzu sozialen Missverstehens Jesu und bringt uns die Innerlichkeit des Glaubens nahe.
5. Oder, um es ein wenig anders zu sagen: Jesus war ein radikaler Monotheist. Er führte die Menschen weg von den irdischen und zeitlichen Werten, denen sie ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatten, und verkündete die Herrschaft des Einzigen, der würdig war, angebetet zu werden. Die Wucht dieser radikalen Diskontinuität zwischen Gott und Mensch, zwischen der Welt Gottes und menschlichen Wertvorstellungen, soll alle menschlichen Wertvorstellungen relativieren. Der Wille Gottes kann nicht mit einer bestimmten ethischen Antwort oder einer gegebenen menschlichen Wertvorstellung in gedankliche Übereinstimmung gebracht werden, da diese alle endlich sind. Praktisch bedeutet diese Relativierung für das Wesen der Ethik jedoch, dass diese Werte sich verselbständigt haben. Denn das Einzige, was nun über ihnen steht, ist das Unendliche.13
6. Oder der Grund ist im Ton „dogmatischer“. Jesus kam doch wohl, sein Leben für die Sünden der Menschen zu geben. Das Werk der Versöhnung oder das Geschenk der Rechtfertigung, wodurch Gott den Menschen befähigt, wieder Gemeinschaft mit ihm zu haben, ist ein gerichtlicher Akt, eine Gnadengabe. Römische Katholiken mögen diesen Rechtfertigungsakt im Zusammenhang mit den Sakramenten sehen und Protestanten im Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis, in der Antwort auf das verkündigte Wort; doch nie wird er mit der Ethik in Verbindung gebracht. Genauso wie Schuld nicht heißt, sündige Handlungen begangen zu haben, so hat auch Rechtfertigung nichts mit richtigem Verhalten zu tun. Wie der Tod Jesu unsere Rechtfertigung bewirkt, ist ein göttliches Wunder und Geheimnis; wie Jesus starb, oder wie sein Leben aussah, das zu diesem Tod führte, ist daher für die Ethik nicht von Belang.
Aus dieser Ansicht des Denkens und der Lehre Jesu folgt, dass es nicht seine Absicht gewesen sein kann – oder wir können zumindest nicht sagen, dass es sein Verdienst gewesen sei –, präzise Richtlinien auf ethischem Gebiet bereitzustellen. Seine apokalyptische Tendenz und sein Monotheismus können uns lehren, bescheiden zu sein; sein Personalismus kann uns lehren, die Werte der persönlichen Beziehung zu schätzen; aber wenn es darum geht, wie wir Entscheidungen treffen sollen, müssen wir uns anderswo nach Hilfe umsehen.
Gibt es eine andere Norm?
Die zweite grundsätzliche Behauptung des vorherrschenden ethischen Konsenses folgt aus der ersten. Wie wir gesehen haben, ist Jesus selbst (sowohl seine Lehre als auch sein Verhalten) letztlich nicht ethisch normativ. Es muss also so etwas wie eine Brücke oder einen Übergang in eine andere Denkweise oder Gedankenwelt geben, sobald wir anfangen, über Ethik nachzudenken. Und zwar nicht nur eine Brücke vom ersten Jahrhundert in die Gegenwart, sondern auch von der Theologie zur Ethik oder vom Existenziellen zum Institutionellen. Eine gewisse, recht bescheidene Fracht lässt sich über diese Brücke befördern: vielleicht ein Konzept der absoluten Liebe und Demut, Glaube oder Freiheit. Aber die Fundamente der Ethik müssen auf unserer Seite der Brücke rekonstruiert werden.
Drittens: Die Rekonstruktion einer Sozialethik auf dieser Seite des Übergangs wird darum ihre Richtung vom gesunden Menschenverstand und der Natur der Dinge erhalten. Wir wägen ab, was „passend“ und „adäquat“ ist; was „relevant“ und „effektiv“. Wir sind „realistisch“ und „verantwortlich“. Alle diese Leitsätze verweisen auf eine Erkenntnistheorie mit dem klassischen Etikett natürliche Theologie. Die Natur der Dinge meint man in ihrer bloßen Gegebenheit angemessen zu erfassen. Recht ist, was das wesentlich Gegebene respektiert oder seine Verwirklichung fördert. Ob man dieser Ethik in der reformatorischen Form begegnet, wo sie als Ethik der „Berufung“ oder des „Standes“ bezeichnet wird, oder in der augenblicklich populären Form der „Situationsethik“, oder in den älteren katholischen Formen, wo „Natur“ in anderer Weise auftaucht – immer ist es der Struktur nach das gleiche Argument: durch die Beobachtung der Realitäten um uns herum, nicht durch das Hören einer Verkündigung Gottes, erkennen wir, was recht ist.14
Hat man diese Annahmen über die Quellen relevanter Sozialethik und über die geistliche Natur von Jesu Botschaft einmal akzeptiert, so kann man eine negative Rückkopplung bezüglich der Interpretation des Neuen Testaments selbst beobachten. Wir kennen nun die Behauptung, Jesu habe keine relevante Sozialethik praktizieren oder lehren können. Dann müssen die jüdischen und römischen Machthaber, die dachten, dass er gerade das täte, und ihn dafür verurteilten, ihn sehr missverstanden haben. Das ist ein Beweis der Verhärtung ihrer Herzen. Auch Matthäus, der die Lehren Jesu so anordnete und interpretierte, als wolle er daraus einen einfachen ethischen Katechismus machen, hat Jesus missverstanden. Aus seinem Missverständnis entwickelte sich das bedauerliche Phänomen, das protestantische Historiker „Frühkatholizismus“ nennen.15
Glücklicherweise, so fährt die Erklärung fort, wurden die Dinge bald durch den Apostel Paulus richtiggestellt. Er korrigierte die Tendenz zum Neo-Judaismus oder zum Frühkatholizismus durch die Betonung der Priorität der Gnade und der sekundären Bedeutung der Werke, so dass ethische Belange nicht mehr zu ernst genommen werden konnten.
… wer eine Frau hat, [soll] sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht.
1Kor 7,29ff (Einheitsübersetzung)
Die zweite paulinische Korrektur klärte die soziale Radikalität von Jesus selbst (nicht nur die judaisierende Fehlinterpretation Jesu) und rückte sie zurecht.16 Positive Achtung vor den Institutionen der Gesellschaft, sogar vor der Unterordnung der Frauen und vor der Sklaverei; Anerkennung der göttlich sanktionierten Legitimation der römischen Regierung; Anleihen bei stoischen Konzeptionen der Naturethik – das sind einige Elemente der paulinischen Richtigstellung; so dass die Kirche nun in der Lage war, eine Ethik zu konstruieren, zu welcher Person und Charakter Jesu – und besonders sein Lebensweg – keinen besonderen oder entscheidenden Beitrag mehr darstellten.
Angesichts dieses hastig skizzierten Musters der vorherrschenden Strukturen ethischen Denkens wird die systematische und die historische Theologie einige sorgfältige Fragen stellen müssen. Da ist die Frage nach der Autorität dieser hermeneutischen Annahmen.17 Wenn die Bedeutung Jesu so vom Verständnis seiner Jünger und seiner Feinde in Palästina abweicht, wenn diese einfachen Verständnisse erst durch einen hermeneutischen Filter gepresst und durch eine Ethik sozialen Überlebens und der Verantwortlichkeit ersetzt werden müssen, was ist dann aus dem Konzept der Offenbarung geworden? Gibt es überhaupt so etwas