Manchmal gehört mir die ganze Welt. Mecka Lind

Manchmal gehört mir die ganze Welt - Mecka Lind


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du vielleicht, er ist taub? Nein, nein, er hat sich bestimmt unter der Decke verkrochen und ins Bett gemacht aus purer Angst, daß dein Trunkenbold kommt und ihn auch zusammenschlägt. Ich weiß es; in seinem Alter ging es mir genauso, wenn ich mal die Ehre hatte, zu Hause wohnen zu dürfen. Und das nennst du ›für deine Kinder sorgen‹!« Die Mutter leert das Glas in einem Zug. Sie hat ein ganz rotes Gesicht, jetzt aber nicht vom Wein oder den Schlägen, sondern vor Wut.

      »Es reicht!« schreit sie verzweifelt. »Hau ab! Du kommst nur her und machst alles kaputt. Raus hier! Geh doch in den Untergrund! Mach doch verdammt noch mal, was du willst, wenn du bloß verschwindest!«

      Der Krach hat offenbar den Typen im Schlafzimmer geweckt, er schlägt an die Tür und brüllt und schreit solche Schimpfwörter, daß sogar Sanne beeindruckt ist.

      »Hast du ihn etwa eingeschlossen?« stöhnt ihre Mutter.

      »Du bist wirklich noch schlimmer, als ich gedacht habe.«

      »Und du willst natürlich aufmachen und dich noch mal verprügeln lassen«, sagt Sanne höhnisch. Ihre Mutter antwortet nicht. Sie ist schon unterwegs. Sanne steht auf und geht zur Hintertür. Sie bleibt einen Moment stehen und fährt sich nervös mit der Hand durch ihr halblanges, mausfarbenes, strähniges Haar. Sie ist sehr dünn, aber trotzdem hübsch, dank ihres lieben kleinen Gesichts mit den großen, ausdrucksvollen Augen.

      Sie ist vorbereitet, als er kommt. Sie kennt diese Typen in- und auswendig, und sie weiß, daß er zurückschlagen muß, um sein Gesicht zu wahren. Aber sie ist neugierig und will wissen, was er vorhat.

      »Du ... du Satansbraten!« zischt er, als er sie bemerkt. »Ich werde dir eine Lektion erteilen, die du nicht vergißt.«

      Erst jetzt sieht sie das Messer in seiner Hand, und ihrer Mutter geht es offenbar genauso, denn sie schreit plötzlich wieder los. Sie hat gute Lust, ihr eigenes Messer zu ziehen und es ihm zu zeigen. Aber sie tut es nicht. Sie weiß nicht, warum. Vielleicht wegen Mama. Statt dessen wartet sie, bis er nahe genug herangekommen ist, dann schlüpft sie blitzschnell aus der Tür und schlägt sie zu, und er kracht mit voller Wucht dagegen.

      »Viel Glück in deinem neuen Leben, Mama!« ruft sie so laut wie möglich und verschwindet in der Nacht.

      2

      Sie geht mit festen Schritten in Richtung Hauptbahnhof. Wenn sie sich beeilt, schafft sie es, bevor sie zumachen, und vielleicht ist dort jemand, den sie kennt und bei dem sie übernachten kann.

      Als sie die riesige Bahnhofshalle betritt, ist es dort ungewöhnlich ruhig. Man hört fast nur das Geräusch der Kehrmaschine, die den letzten Schmutz auffegt. Ein paar Penner sitzen in einer Ecke, und ein paar andere liegen auf dem Steinboden und schlafen. Sie sind darauf angewiesen, noch die letzten Minuten Wärme auszunützen. Einer von ihnen ruft Sanne etwas zu, aber sie tut so, als höre sie nichts. Sie weiß nicht, warum, aber es graust sie immer vor diesen versoffenen, heimatlosen Verlierern.

      »Nein«, sagt sie leise zu sich selbst. »Hier ist heute nichts zu holen.«

      Sie dreht sich rasch um und geht wieder auf den Ausgang zu. Zuerst läuft sie aufs Geratewohl im Vesterbro-viertel in der Nähe des Bahnhofs herum. Es tut dem Chaos von Gedanken in ihrem Kopf gut, in der Kälte herumzulaufen. Aber sie wird ständig von Männern angemacht, die allein durch die Gegend fahren und Liebe suchen. Sie trifft auch ein paar jüngere Penner, die handgreiflich versuchen, sie zum Mitkommen zu überreden. Bei solchen Gelegenheiten kann sie gebrauchen, was sie im »Heim« gelernt hat.

      Schließlich hat sie alles satt, außerdem friert sie so, daß sie am ganzen Körper steif wie ein Stock ist. Als sie vor einem Hauseingang steht, der nicht abgeschlossen ist, nimmt sie die Gelegenheit wahr und geht hinein.

      Sie wartet regungslos in der Dunkelheit und lauscht. Als sie ganz sicher ist, daß sie auch nicht das leiseste Husten oder Schnarchen hört, niemanden, der flüstert, nicht einmal ein verdächtiges Atmen, nur das Knacken, das zu solch alten Häusern gehört, tastet sie sich vorsichtig am Handlauf der Treppe entlang nach oben. Sie bleibt erst stehen, als sie auf dem letzten Treppenabsatz angekommen ist. Dort legt sie sich zusammengekauert auf den Holzboden und deckt sich mit ihrer Jacke zu.

      Aber es dauert lange, bis sie einschlafen kann. Die Gedanken drehen sich im Kreis und werden bei jeder Runde, die sie in ihrem Kopf machen, schwärzer.

      Ich muß halt noch mal nach Hause und mit meiner Mutter reden, morgen, wenn der Typ gegangen ist, dann wird bestimmt alles wieder gut, denkt sie. Vielleicht kann ich im Laden an der Ecke auch ein paar Bier klauen und sie die erst trinken lassen, damit sie bessere Laune bekommt.

      So tröstet Sanne sich, wie sie da allein im Dunkeln liegt. Und allmählich entspannt sie sich so weit, daß sie einschläft. Aber erst gegen Morgen fällt sie in einen tieferen Schlaf.

      Ein gezielter Tritt weckt sie unsanft. Der Mann, der sich neben ihr aufgebaut hat, trägt Gabardinehosen mit Bügelfalten, einen großen, warmen Lammfellmantel, und er hat kurzgeschnittene Haare.

      »Was zum Teufel machst du hier?« fragt er unwirsch.

      »Ich versuche zu schlafen«, antwortet Sanne, und erst jetzt sieht sie die Wäsche, die über ihrem Kopf hängt. »Ich werde Ihre Wäsche nicht anrühren«, versichert sie.

      »Ich will bloß schlafen.«

      »Mach, daß du wegkommst, sonst rufe ich die Polizei!« »Daß wir auch immer noch keine Tür mit Klingel und Drücker bekommen haben«, mault eine Frauenstimme hinter ihm. »Wir werden das Elend so ja nie los.«

      Sanne versteht sehr wohl, daß mit »Elend« sie gemeint ist. Zumindest im Augenblick.

      »Ja, ja. Ich geh ja schon«, stöhnt sie und steht auf.

      Da wird die Tür nebenan geöffnet, und eine ältere Dame mit Wicklern im silbergrauen Haar und einem rosa Morgenrock um ihren hageren, alten Frauenkörper kommt heraus.

      »Aber so laßt die arme Kleine doch schlafen!« sagt sie. »Wenn sie nur die Finger von meiner Wäsche läßt.«

      »Frau Olsen!« protestiert der Lammfellmantel scharf. »Das Treppenhaus ist doch wohl kein Hotel, verdammt noch mal!«

      Sanne ist schon auf dem Weg nach unten, gefolgt von Andeutungen darüber, was man mit Leuten machen sollte, die sich die Freiheit nehmen, die Nacht vor anderer Leute Türe zu verbringen. Und das sind nicht gerade angenehme Dinge.

      »Aber sie war doch noch ein Kind«, seufzt die alte Frau. Das Schlimmste für Sanne ist, so wie eben hinausgeworfen zu werden. Da fühlt sie sich wie eine Tüte Müll.

      Aber draußen in dem diesigen, immer noch kalten Morgen muß sie über andere Dinge nachdenken. Zuerst muß sie nach Hause. Nicht, um mit ihrer Mutter zu reden. Die tröstlichen Gedanken der Nacht halten dem hellen Licht des Tages nicht stand. Nein, sie muß nach Hause, um ein paar Sachen zu holen. Den dicksten Pulli zum Beispiel, und den Walkman mit ein paar guten Kassetten, und ein paar Unterhosen und Socken. Aber vor allem muß sie Geld klauen.

      »Wenn man seine Tochter ohne einen Pfennig in der Tasche auf die Straße jagt, dann ist man selber schuld«, brummt sie beim Gehen halblaut vor sich hin.

      Wenn ihre Mutter um die Tageszeit bereits wach ist, was nicht oft vorkommt, dann bringt sie schon mal Jörgen in die Schule, weil das besser aussieht. Und sie hat auch allen Grund dazu, findet Sanne, denn einerseits ist sie arbeitslos und hat sonst nichts zu tun, und andererseits geht Jörgen gerade in die erste Klasse.

      Sanne bleibt im Hauseingang des Hauses stehen, das genau dem gegenüber liegt, in dem sie »wohnt«. Die Uhr im Friseurladen zeigt ordentlich auf zehn vor acht. Schlag acht muß Jörgen in der Schule sein. Die Minuten hüpfen vorwärts, ohne daß jemand zu sehen ist. Um halb neun beschließt Sanne, dennoch einen Versuch zu wagen. Vielleicht sind sie ja schon weggegangen, bevor sie kam. Wenn nicht ... ja, dann muß sie eben besonders vorsichtig sein.

      Sie steckt den Schlüssel in das Schloß und öffnet die Tür so leise wie möglich. Schon im Flur hört sie das durchdringende Schnarchen ihrer Mutter. Sie schleicht zum Schlafzimmer


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