Manchmal gehört mir die ganze Welt. Mecka Lind

Manchmal gehört mir die ganze Welt - Mecka Lind


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sie hören, daß sie es ist. Andere sagen giftig: »So, so, ist es mal wieder soweit, nein, uns reicht es« ... oder »Hier ist kein Hotel mehr.« Schließlich hat sie genug, klappt das Buch zu und stürzt sich in das Leben von Kopenhagen.

      Es ist bewölkt und naßkalt und nicht besonders lustig, allein durch die Straßen zu laufen. In den letzten Wochen war sie mit Lisbeth zusammen gewesen. Wenn man zu zweit ist, können lauter spannende Sachen passieren, und wenn nichts passiert, langweilt man sich wenigstens nicht alleine. Lisbeth war prima, weil sie immer viel Geld hatte und deshalb auch viele Freunde. Aber dann ist gestern die Bombe geplatzt. Jemand hatte ihren Eltern gepetzt, daß sie längere Zeit nicht in der Schule gewesen war, und das gab natürlich ein schreckliches Theater. Deshalb durfte Sanne auch letzte Nacht nicht dort schlafen.

      Sie geht über den Rathausplatz und hinunter in die kleinen Gassen um den Ströget herum. Hier hat sie plötzlich eine Idee. Hinterher weiß sie genau, wie es geschah. Sie stand vor einem Schaufenster und schaute auf ein Plakat mit einem superroten Häuschen, das im supergrünen Wald am superblauen See stand. Als sie lange genug darauf gestarrt hatte, ging sie weiter, als ob nichts passiert wäre, und plötzlich, boing!, hatte sie die Idee: Tante Kirstens Schrebergartenhäuschen! Es ist zwar braun und hat die besten Tage schon hinter sich, und nach dem See sucht man vergeblich und um diese Jahreszeit auch nach dem grünen Wald. Aber es ist ein Häuschen! Und es steht hundertprozentig sicher völlig leer. Denn wer setzt sich schon im Februar in einen Schrebergarten? Ihre Tante Kirsten auf jeden Fall nicht. Sie arbeitet rund um die Uhr und verdient harte Währung in ihrem Pornoladen in der Istedgade, wo sie widerliche Heftchen und anderen Schweinekram an liebeskranke Kerle verkauft. Mama hilft manchmal dort aus. Dorthin läuft auch Jörgen, wenn Mama es mit ihm nicht mehr aushält, weil die Nerven knallen. Also, der braucht mal keinen Sexualunterricht in der Schule.

      Tante Kirstens Schrebergarten liegt draußen in Amager. Sanne ist schon unterwegs zur Bushaltestelle.

      Zwei Stunden später flucht sie zu Himmel und Hölle. Sie ist um die ganze Schrebergartenanlage herumgelaufen und hat den Zaun genauestens untersucht und nicht das kleinste Loch gefunden. Und außer ihrem Messer hat sie auch kein Werkzeug dabei, und das Messer nützt hier nichts.

      Aber wie sie so da steht und auf den Bus wartet, um zurückzufahren, passiert etwas. Sie schaut abwesend einer Gruppe kleiner Jungen zu, die Ball spielen. Einer kickt so fest, daß der Ball in die Schrebergartenanlage fliegt. Sie kann ihn noch nicht einmal bedauern, so schnell ist der Junge in einem Gebüsch am Zaun verschwunden. Als er wieder auftaucht, hat er den Ball in der Hand!

      Jetzt dauert es nicht lange, bis sie das Loch gefunden hat, und es ist groß. Zumindest so groß, daß sie sich ohne Mühe hindurchzwängen kann. Der Schlüssel zur Hütte liegt wie immer auf seinem Platz unter dem dritten Stein im Tulpenbeet. Es ist drinnen natürlich kalt und klamm, aber es ist noch Petroleum da. Sowohl im Ofen als auch im Kanister daneben. Sie macht zuerst Feuer, dann holt sie Decken heraus und breitet sie aus, damit sie warm werden. Sie stößt einen Freudenschrei aus, als sie feststellt, daß der Gaskocher noch funktioniert, und einen weiteren, als sie im Schrank jede Menge Konserven findet.

      »Ihr blödes Erziehungsheim können sie sich an den Hut stecken!« jubelt sie. »Sanne Larsen kommt allein zurecht! Hier kann ich bis Ende März wohnen, vorher setzt Tante Kirsten nicht einen Fuß hierher. Dazu ist die viel zu verfroren.«

      Sie holt eine Dose weiße Bohnen in Tomatensoße aus dem Schrank und eine, die Hackfleischsoße enthalten soll. Dann rührt sie beides in einem Topf zu einer klebrigen Masse zusammen, wärmt das Ganze auf und verzehrt es mit großem Genuß. Hinterher ist sie viel zu satt und wird wahnsinnig müde. Das Bettzeug ist zwar noch nicht warm, aber was macht das schon. Das hier ist das reinste Luxushotel, verglichen mit einem Treppenhaus. Sie liegt noch nicht richtig auf dem Bett, da ist sie auch schon eingeschlafen.

      4

      Als sie wieder aufwacht, hat sie zuerst keine Ahnung, wo sie ist. Aber dann fällt es ihr wieder ein, und sie wird ruhiger. Solange, bis sie sich wieder daran erinnert, daß sie von einem Geräusch aufgewacht ist. Und es war nicht der Regen, der jetzt wie verrückt aufs Dach trommelt. Es war ein mehr menschliches Geräusch.

      Obwohl ... vielleicht hat sie es auch nur geträumt.

      Sie muß den ganzen Tag geschlafen haben, draußen ist es nämlich stockdunkel. Sie hat auch keine Uhr. Und da ist das Geräusch wieder! Das sind ja Schritte ... jemand geht auf dem Kiesweg draußen vorbei! Und es sind mehrere, denn jetzt hört sie auch Stimmen. Sie bleibt ganz still liegen. Ihr Herz klopft furchtbar wild. Sie hat Angst. Denn wer schleicht Ende Februar in Regen und Kälte durch die Schrebergärten? Bestimmt niemand, der Blumen pflanzen will. Wohnt hier vielleicht noch jemand, obwohl es nicht erlaubt ist? Oder sind es Einbrecher?

      Sie liegt stocksteif da, aber schließlich zwingt sie sich dazu aufzustehen, um aus dem Fenster zu schauen. Sie sieht natürlich gar nichts. Sie tastet im Dunkeln herum, und es gelingt ihr, eine Decke vor das Fenster zu hängen. Dann endlich traut sie sich, die Taschenlampe anzuknipsen, die sie gottlob schon vorher zwischen Tante Kirstens Sachen gefunden hatte.

      Gerade hat sie sich noch sicher und geborgen gefühlt. Und jetzt ist sie wieder nur noch ein kleines ängstliches Mädchen. Sie hatte schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, aber damit muß man zu leben lernen, wenn man wie sie an dunklen Orten schlafen muß.

      »Also nimm dich zusammen und leg dich wieder hin«, sagt sie barsch zu sich selber. »Du kannst ja genausogut im Liegen Schiß haben wie im Stehen oder Sitzen.«

      Aber sie bleibt hellwach, bis die Morgendämmerung kommt und alle Schatten vertreibt. Dann erst schläft sie wieder ein.

      Als ein Sonnenstrahl sie im Gesicht kitzelt, der einzige, der es schafft, sich zwischen Decke und Fenster durchzustehlen, wacht sie auf.

      Als sie die Tür zu dem kleinen Garten öffnet, scheint die Nacht weit weg zu sein. Und sie hat auch überhaupt keine Angst mehr. Nicht jetzt bei Tageslicht. Sie traut sich sogar, hinauszugehen und sich umzuschauen. Im Lehmmatsch sind deutliche Fußspuren zu sehen. Sie folgt ihnen bis zu einem Gartenhäuschen ein Stück weiter weg, und natürlich ist hier eingebrochen worden!

      »Aber sie kommen bestimmt nicht zwei Nächte hintereinander«, tröstet sie sich. »So bescheuert sind sie auf keinen Fall!«

      Das Schrebergartengelände ist wirklich genauso einsam und verlassen, wie sie es erwartet hat. Das ist an und für sich nicht schlecht, denn so kann sie hier wohnen, ohne entdeckt zu werden. Aber schon der Gedanke, daß sie allein auf mehreren Quadratkilometern ist, läßt sie schaudern und sich nach Menschen sehnen, oder wenigstens nach ihrem Walkman. Ein bißchen Musik würde vielleicht helfen.

      Auf dem Hauptbahnhof tobt das Leben. Sie holt ihre Tasche und setzt sich hin, um zu sehen, was passiert. Eine Gruppe von Jungen albert in ihrer Nähe herum. Einer von ihnen ist richtig süß. Er hat die blauesten Augen der Welt und ein goldiges Grübchen im Kinn. Seine halblangen Haare sind genauso mausgrau und strähnig wie ihre eigenen und hängen auf seine mageren Schultern herab. Er merkt, daß sie ihn anschaut, lacht zurück, und plötzlich setzt er sich neben sie und bietet ihr eine Zigarette an. So sitzen sie eine Weile da und reden über alles und nichts. Dann steht er auf und übergibt ihr eine Hundeleine. Sie bemerkt erst jetzt, daß er einen Hund dabei hat.

      »Paß auf meinen Hund auf!« sagt er kurz.

      Der Hund hat große angstvolle Augen und setzt sich folgsam neben sie. Es ist eine Labradormischung. Er hätte richtig schön sein können, wenn er nicht so mager gewesen wäre.

      Aber Sanne ärgert sich nicht über den Hund. Sie mag es bloß nicht, wenn man ihr etwas befiehlt. Deshalb schnaubt sie böse: »Was heißt hier aufpassen! Ich hab keinen Bock, den ganzen Tag hier herumzusitzen!«

      Der Typ stöhnt und drückt ihr eine sehr oft benützte Plastiktüte in die Hand. »Da ist eine nagelneue Lederjacke drin«, sagt er. »Und wenn du mir nicht glaubst, daß ich zurückkomme, um den Hund zu holen, dann aber ganz bestimmt, um die Jacke zu holen, kapiert?«

      Er ist schon so gut wie weg.

      »Wie heißt die Töle denn?« ruft sie ihm nach.


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