Abseits. Johanna Constantini

Abseits - Johanna Constantini


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oder beim Würstelbraten vor dem Lagerfeuer verbrachten, in der Mama uns in den Stall zu unseren Reitstunden begleitete, in der wir Bäche aufstauten, um Frösche zu fangen, und Kräuter-Bündel banden oder Zwetschgen pflückten, um sie in der Nachbarschaft verkaufen zu können. Ausgerüstet mit einem alten Leiterwagen und voller Zuversicht, ein paar Schillinge unseres eigenen Geldes verdienen zu können. Dass dieses privilegierte Leben keine Selbstverständlichkeit ist, war unseren Eltern immer wichtig zu vermitteln. Vor allem meinem Papa, der gemeinsam mit drei Brüdern aufgewachsen war und sich zwischenzeitlich das einzige Badezimmer der Zwei-Zimmer-Wohnung nicht nur mit Eltern und Brüdern, sondern auch mit einem ständig wechselnden Untermieter teilen musste. Und obwohl auch seinen Eltern Bescheidenheit nicht nur ein großes Anliegen, sondern auch eine Notwendigkeit gewesen ist, so wusste vor allem mein Opa Walter seinen Söhnen trotz geringer finanzieller Möglichkeiten das ein oder andere Abenteuer zu bieten. Opa war zunächst selbstständiger Frächter gewesen, um sich nach einer diabetesbedingten Netzhautablösung und der daraus folgenden einseitigen Erblindung als Platzwart seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu verdienen. Viel weiß ich nicht von ihm – er ist leider noch vor meiner Geburt verstorben –, doch erzählt Papa bis heute gerne von den damals illegalen Brennerfahrten, die ihm, seinem Bruder Germar und seinem Papa nur durch dessen LKW-Fahrer-Freund ermöglicht wurden. Dieser holte die drei wagemutigen Constantinis meist spätnachts aus der Innsbrucker Gumppstraße ab, um sie am frühen Morgen jenseits der Grenze in Italien ein paar Stunden Süden genießen zu lassen. Diese Stunden verbrachte mein Papa mit Opa Walter und seinem Bruder mit tollen Spaziergängen und Wanderungen, bevor die drei meist nach Einbruch der Dunkelheit wieder an einer Straße warten mussten, um – wieder im Laderaum des LKWs – die Rückfahrt nach Innsbruck antreten zu können. „Passt auf, da sind ganz viele Schlangen!“, hatte mein Opa den beiden Buben immer weisgemacht, bevor sie das Feld in Richtung der Hauptstraße überquerten. Worauf Germar und Dietmar, hysterisch hüpfend versuchten, schleunigst wieder Asphalt unter ihren kleinen Füßen zu spüren. Glücklicherweise ohne dabei jemals von den giftigen italienischen Schlangen gebissen worden zu sein.

      In diesen Momenten in der Klinik fühlte ich mich so verloren, wie sich Papa auf dem Feld mit den eingebildeten Schlangen verloren gefühlt haben musste.

      Nach einer Ewigkeit, in der ich meine Mama einfach nicht entdecken konnte, drehte ich mich um, ließ die Schiebetür sich – ein zweites Mal viel zu langsam – wieder vor mir öffnen und ging nach draußen. Schnell und mit dem für mich typischen Aktionismus zückte ich mein Handy und wollte gerade Mamas Nummer wählen, als mich ein älterer Herr hinter mir mit einem lauten „Hallo, hier lang, bitte!“ unterbrach. Lautlos, mit einem zögerlichen Lächeln folgte ich ihm. Woher wusste der, wo ich hinmusste? Wer ich war? Der Mann führte mich vorbei an all den betrübt wirkenden Menschen, die vor den mit Schiebetüren verschlossenen Behandlungsräumen der Notaufnahme warten mussten. Vorbei an zahlreichen leeren Warteraum-Sitzen und hinein in einen abgetrennten Bereich.

      Eine weitere Schiebetüre entfernt sah ich sie endlich: meine geliebte Mama. Sie saß auf einem der Plastikstühle. Sie wirkte geschockt, traurig, aber unheimlich stark zugleich.

      „Das ist die andere Familie. Ihr Sohn war einer der Fahrer“, murmelte sie leise und zeigte mit der geöffneten Hand und einem verhaltenen Lächeln in Richtung der drei anderen Wartenden.

      „Hallo.“

      „Hallo.“

      „Wie geht’s ihm?“

      „Wir wissen nicht viel, wir sind gleichzeitig gekommen.“

      An viel mehr als diesen Dialog kann ich mich nicht erinnern, bevor sich ein letztes Mal die Schiebetüre viel zu langsam öffnete. Durch den Spalt konnte ich Matthias erkennen, der den Raum betrat. Seine Umarmung gab mir jetzt noch mehr Kraft als sein erster tröstender Blick an diesem Nachmittag im Auto.

      „Die Raupe, ich muss die Raupe rausbringen“, sagte ich leise, kaum hörbar, und heute weiß ich nicht, ob diese Botschaft an irgendjemanden außer mir – und vielleicht noch an die Raupe – gerichtet war. Inzwischen hatte neben uns und der anderen Familie auch ein Paar mittleren Alters Platz genommen. Ihr Sohn war offenbar ohne Führerschein gefahren und hatte dabei einen Unfall verursacht. Das war zumindest aus einem Gespräch der beiden herauszuhören, ganz genau konnte und wollte ich den Unfallhergang gar nicht erfahren. Lieber ließ ich mich in diesem Moment von der kleinen, friedlichen Raupe ablenken. Meine Gedanken schweiften zurück zu meinem so abrupt beendeten Waldlauf. Zurück zu den Stunden der Unbekümmertheit, wie ich sie lange nicht gekannt hatte. Unbekümmerte Zeiten durfte ich glücklicherweise in meiner Kindheit viele genießen. Aber über die Jahre meines Erwachsenwerdens hatte ich mehr und mehr Verantwortung übernommen. Mich schon sehr früh durch den aufwendigen Reitsport (Pferde, Pferde, Pferde) und die Adoption meines ägyptischen Strandhundes an Pflichten gebunden. Noch dazu bin ich jemand, der immer für sehr viele Dinge einstehen möchte. Manchmal mit zu viel Einsatz. Dabei verliere ich zwar nie meinen Optimismus, vergesse aber oft, auf meine Ressourcen zu achten. Dieser Aktionismus wurde mir wohl bereits in die Wiege gelegt – immerhin entstamme ich einer überaus aktiven Familie –, vor allem durch meinen Vaters, dessen schier unbändiger Ehrgeiz ihm Zeit seines Lebens eine berufliche Topstation nach der nächsten sicherte. Der gern gesehene, strahlende „Sunnyboy“, wie er bis heute vielfach bezeichnet wird, durfte während seiner aktiven Karriere schließlich so ziemlich jede österreichische Fußballmannschaft unter seine Fittiche nehmen. Und nicht nur das. Obwohl er – wie er von sich immer behauptet – „nie der Schnellste“ gewesen ist, spielte Papa auch selbst bei so mancher Mannschaft im In- und Ausland auf hohem Niveau. Zu verdanken hatte er jene Chancen nicht zuletzt seinem Kampfgeist und der Bereitschaft, stets an seine Grenzen zu gehen.

      Dabei hatte seine Karriere relativ unspektakulär begonnen. Als einer von vielen kickte er am Innsbrucker Tivoli, wohin er seinen Vater, der damals dort Platzwart war, schon sehr früh auf den Rasen begleiten durfte. Opa Walter, in Bozen geboren und aufgewachsen, war nach Kriegsende von Italien nach Tirol gekommen und hatte dort meine Oma Johanna, geborene Angerer, kennengelernt. Johanna war zum damaligen Zeitpunkt bereits verwitwet, nachdem sie ein knappes Jahrzehnt vergeblich auf die Rückkehr ihres ersten Mannes aus dem Zweiten Weltkrieg gewartet hatte. Opa Walter konnte sie schließlich dank seiner charmanten Art erobern. Fußball, Kartenspielen und „Paschen“ („Würfelpoker“) sowie gesellige Abende mit Freunden bildeten die Leidenschaften der beiden. Die teilten später auch die vier Söhne, denen Johanna, „Hanni“, und Walter, „Goggl“, nach und nach das Leben schenkten: Nach dem Ältesten, Germar, kam mein Vater im Jahr 1955 auf die Welt, gefolgt von Oskar und Elmar.

      Kaum konnte Papa laufen, nahm ihn Walter bereits mit auf den Rasen, sodass die beiden viele der insgesamt 25 Platzwart-Jahre meines Opas gemeinsam verbrachten. Opa Walter zählte stets zu Papas größten Fans und förderte Papas Leidenschaft für das runde Leder von Beginn an.

      Trotz jener fehlenden Schnelligkeit schaffte Papa es, dank der familiären Unterstützung und seines unbändigen Ehrgeizes, nach einigen erfolgreichen Einsätzen in Tirols Jugend- und Juniorenauswahl 1975 im Alter von 20 Jahren als Vorstopper, Libero und Mittelfeldspieler in den FC Wacker Innsbruck – und damit in die damalige Profiliga.

      „Ich möchte kündigen“, eröffnete er zu jener Zeit seinem Chef in der Innsbrucker Druckerei, wo er eine Lehre als Lithograf absolviert hatte. Als dieser fragte „Warum?“, meinte Papa selbstbewusst, er würde lieber Fußballprofi werden.

      Um diesen Traum tatsächlich auch verwirklichen zu können, lief er immer und immer wieder die Bergiselschanze hinauf, erzählt Papa. Die Höhenmeter bis ganz nach oben nahm er oft mehrere Male pro Tag in Angriff. Und das nur, um fitter und schneller werden zu können als vermeintlich talentiertere Spielerkollegen. Sein Fleiß sollte sich lohnen. Bald bildete der Fußball tatsächlich seinen absoluten Lebensmittelpunkt.

      In den folgenden vier Jahren, von 1975 bis 1979, spielte er bei FC Wacker Innsbruck in der Profiliga. Während dieser Zeit wurde der „Durchschnittskicker“, wie er sich selbst charakterisierte, mit dem FC Wacker zweimal Meister und hatte im legendären UEFA-Europacup-Spiel vom 2. November 1977 sogar den starken Gegner Celtic Glasgow 3:0 besiegt. Trotzdem zog es ihn nach diesen vier Jahren aus seiner Heimatstadt Innsbruck weg, und er


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