Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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      Christina Wahldén

      Verschleppt

      Kriminalroman

      Aus dem Schwedischen von

      Marie-Sophie Kasten

      Saga

      »Polizisten sind das Beste, was ich kenne. Nach Rhabarbercreme.«

      Pippi Langstrumpf

      Vorwort

      Alle Ereignisse und Personen, die in diesem Buch vorkommen, sind frei erfunden. Auch die Stadt, in der sich der Roman abspielt, ist fiktiv. Aus dramaturgischen Gründen habe ich die tatsächlich existierende Regierungsstadt und die kleineren Ortschaften entlang der Grenze im Norden zu einer einzigen Stadt zusammengefasst.

      Ansonsten trägt die Geschichte reale Züge. Einzelne Umstände habe ich verschiedenen großen Zuhältereiprozessen entnommen, die 2003 aktuell waren. Das hier Erzählte hätte passieren können.

      Die Fakten sehen wie folgt aus: 2002 sowie beinahe im gesamten Jahr 2003 hat die Polizei im Bezirk Norrbotten keine einzige Untersuchung wegen Zuhälterei oder Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution eingeleitet. Die lokale Polizeidirektion findet an dieser Tatsache eigentlich nichts auszusetzen, da sie der Meinung ist, Prostitution stelle kein entscheidendes Problem dar, und es erfordere allzu große Ressourcen, umfassendere Fahndungen zu betreiben. Darüber habe ich als Kriminalreporterin eine Anzahl Artikel veröffentlicht.

      Der Polizeibeamte, dessen Aufgabe es war, den Sexhandel in Norrbotten zu erfassen, wurde versetzt. Die lokale Polizeidirektion kritisierte seine umfangreiche Grundlagenuntersuchung und behauptete, die Angaben seien übertrieben. Deshalb führte die Reichskriminalpolizei im Frühsommer 2003 eine eigene Ermittlung durch. Die zuständigen Beamten der Reichskripo zogen den Schluss, dass die früheren Berichte nicht übertrieben waren, sondern eher noch gemäßigt ausfielen. Daher beschloss der Chef der Reichskripo, dass die eigenen Beamten die Polizei in Norrbotten künftig kontinuierlich bei der weiteren Untersuchung von Sexualdelikten unterstützen und verstärken sollten.

      Verschiedene Ermittlungen deuten darauf hin, dass in Nordschweden minderjährige Mädchen zur Prostitution gezwungen werden. Die Abteilung für organisiertes Verbrechen bei der Staatsanwaltschaft Sundsvall leitete unmittelbar nach den Ermittlungen der Reichskripo eine Voruntersuchung wegen des Verdachts auf Zuhälterei ein, die von der Vermutung ausgeht, dass zwei 15- und 16-jährige russische Mädchen Opfer von Frauenhandel geworden sind.

      Die polizeilichen Ermittlungen dauern noch an, während dieses Buch geschrieben wird, und Polizei und Staatsanwaltschaft sind verschwiegen, was den Umfang der Untersuchung angeht.

      Nach Angaben der Reichskriminalpolizei werden jährlich zwischen zweihundert und dreihundert Frauen und Kinder Opfer des internationalen Menschenhandels in Schweden. Bis Ende des Jahres 2003 wurden lediglich zwei Personen wegen des Deliktes »Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution« verurteilt, das am 1. Juli 2002 in das Strafgesetz aufgenommen worden ist. Es handelt sich dabei um eine Frau und einen Mann, die 2003 vom Gericht in Göteborg verurteilt wurden, weil sie zwei jugendliche Mädchen, das jüngere davon sechzehn Jahre alt, getäuscht und zur Prostitution gezwungen hatten. Das Strafmaß für Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution beträgt mindestens zwei und höchstens zehn Jahre Haft.

      Im September 2003 versprach Justizminister Thomas Bodström, dass die Regierung in den nächsten drei Jahren zehn Millionen Kronen für die Bekämpfung von Menschenhandel einsetzen wolle. Das Geld solle der Reichspolizei zugeteilt werden, die dann frei darüber verfügen kann.

      Die Regierung sowie verschiedene freiwillige Organisationen betreiben gemeinsam mit Vertretern sämtlicher betroffener Länder diverse Projekte gegen den Frauenhandel in der Region um die Barentssee.

      Christina Wahldén

      1

      Kompakte Dunkelheit umgibt sie. Wie sehr sie auch die Augen aufreißt und starrt, sie sieht nichts. Es riecht nach frischem Holz. Sogar der Boden der Sauna, in die man sie gesperrt hat, besteht aus neuen Holzdielen. Sie fühlt ein Astloch an ihrer Wange. Einige Tropfen Harz sind aus der Planke gequollen, als die Temperatur vorhin bis zur Hundert-Grad-Marke anstieg. Die dumpfe Finsternis, die sie umschließt, ist ganz still.

      Unwillkürlich greift sie sich an den Hals, um das Kreuz zu berühren, um Kraft zu schöpfen. Da fällt ihr ein, dass sie es ihr schon vor langer Zeit weggerissen haben. Die Bewegung schmerzt, der ganze Körper tut weh.

      Sie hat Todesangst, aber kämpft dagegen an. Nicht, weil ihr Leben besonders viel wert wäre, sondern weil es das ihre ist.

      Eben deswegen muss sie, Irina Volkova, besonders viel Prügel einstecken. Und noch anderes, wofür ihr die Worte fehlen. Aber sie kann ihnen nicht nachgeben, nicht jetzt. Wenn sie es tut, ist es vorbei mit ihr.

      Irina weiß nicht, was schlimmer ist, das Haus oder die Männer. Das Haus ist ganz neu gebaut, es duftet gut nach frisch geschlagenem Holz, das dachte sie jedenfalls, als sie zum ersten Mal hierher kam. Oder was sie glaubt, gedacht zu haben. Sie erinnert sich nicht mehr so gut daran. Das hier geht schon zu lange.

      Es könnte also eigentlich ein gutes Haus sein. Aber der mannshohe Zaun um das große Grundstück deutet darauf hin, dass hier keine Güte wohnt. Die beiden Kampfhunde, die dort draußen hechelnd umherschleichen, wenn die Männer aus verschiedenen Gründen weggefahren sind, bestärken diesen Eindruck. Das Haus steht abgeschieden, geradezu einsam, umgeben von einem dichten Wald auf der einen Seite und einem braunroten Moor auf der anderen. Einmal hat sie in der Dämmerung einen Elch am Rande des Moors gesehen. Irina glaubte trotz der verschlossenen Fenster das Geräusch der enormen, auf das Wasser klatschenden Hufe zu hören, als das Tier langsam durch den Nebel schritt. Sie weiß nicht, wie es dort draußen riecht, aber sie stellt sich vor, dass es frisch und herb nach Gagel und Sumpfporst duftet.

      Die Männer. Einer von ihnen ist immer dabei. Sie hat begriffen, dass er es ist, der befiehlt. Sergej. Ein Mann aus Stahl und Eiseskälte, ganz in Leder und Gold gekleidet. Wo sein Gesicht sein sollte, befindet sich nur ein schwarzes Loch. Er hat Dinge mit ihr gemacht, für die sie keine Worte kennt, für die sie keine Worte haben will. Er droht und schlägt, bis selbst eine wie sie genau das tut, was Sergej sagt und will. Bis sie gehorcht.

      Oft hat er ein paar Freunde um sich. Besonders häufig einen Schatten, der Sergejs kleinstem Wink folgt, ein Mann, der ihn sich so mächtig fühlen lässt, wie er es gerne hätte. Das denkt Irina, wenn sie ab und zu im Keller, auf dem Boden der Sauna, hinwegdämmert. Sie versucht nicht daran zu denken, dass Sergej auf die Idee kommen könnte, die Sauna einzuheizen. Sie muss versuchen, von hier wegzukommen, bevor das geschieht. Sergej würde das sicher für einen glänzenden Einfall halten.

      Heute ist sie allein, jedenfalls in der Sauna. Manchmal hat Sergej neue Mädchen mitgebracht, eines oder zwei auf einmal. Sie sind dann einige Tage geblieben, vielleicht eine Woche, aber immer nur genauso lange, wie es dauerte, sie zu bezwingen. Ist ihr Widerstand gebrochen, müssen sie weiter, damit Sergej keine finanziellen Verluste macht. Aber bevor die Ware weiterbefördert wird, muss sie untersucht werden, um festzustellen, ob sie gut oder schlecht ist. Sergej handelt nur mit den besten Mädchen, nichts anderem. Und um zu wissen, ob sie wirklich die besten auf dem Markt sind, muss er sie zunächst selbst testen. Das versteht sich. Sergej probiert sie immer aus, ein oder mehrere Male. Manchmal sind seine Freunde dabei. Nicht selten werden mehrere Mädchen gleichzeitig von verschiedenen Männern im selben Raum getestet.

      Sie wusste, dass die Arbeit, die er ihr bot, die einer Stripteasetänzerin war. Allein das Wort ist für ein jugendliches Mädchen mit einem Kreuz um den Hals schwer in den Mund zu nehmen. Aber es gibt Gründe dafür, warum sie damals dachte, es sei gar kein so schlechter Gedanke, eher ein ganz interessanter. Sie könne es doch zumindest versuchen. Wenn es nicht gut liefe oder sie ihr dumm kämen, könne sie schließlich wieder nach Hause fahren. Wo auch immer sich ihr Zuhause befand.

      Es spannt um den Mund herum, als sie in der Dunkelheit leise lacht.

      Vielleicht ist sie dabei, verrückt zu werden. Wenn sie es nicht schon ist.

      Nicht grübeln.

      Sie


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