Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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Sand. Dorthin wollte sie anschließend fahren. Wenn sie überlebt hatte. Denn überleben würde sie.

      Vorsichtig fährt sie mit der Zunge über die Zähne am Oberkiefer. Hoffentlich hat er ihr wenigstens keinen Zahn ausgeschlagen, als er ihr mit der Schöpfkelle, die im Eimer in der Sauna liegt, einen Schlag versetzte. Die Kelle ist dabei mittendurch gebrochen, und es fühlt sich an, als sei mit ihrem Gesicht dasselbe passiert.

      »You must do as I say!«, brüllte er. Zum wievielten Mal weiß sie nicht.

      In der Dunkelheit der Sauna kann niemand erkennen, dass sie rot wird. Und niemand kann ihre Tränen sehen. Natürlich wusste Irina, dass man nur mit Hilfe des Mundes Liebe machen konnte. Sie konnte sich nicht richtig vorstellen, wie es sich wohl anfühlte, aber sie glaubte, dass es sanft und weich und feucht sein müsste. Ruhig und behutsam. Sie hatte nicht gedacht, dass sie einen nach Urin stinkenden Penis, dick wie ein Telefonmast, in den Rachen geschoben bekommen würde. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass ein Mann sie festhalten könnte, während ein anderer sie erniedrigte und ein dritter dabei zuschaute. Sie hätte nie geglaubt, dass zwei andere Mädchen zur gleichen Zeit, im selben Raum, Opfer solcher Übergriffe sein würden. Nicht in ihren kühnsten Phantasien hätte sie sich ausmalen können, dass sie gezwungen werden sollte, sich nackt auf zwei anderen verschreckten Schulmädchen aus demselben Wohnviertel herumzuschlängeln, während zwei Männer mit glasigem Blick ihren Samen über sie spritzten.

      Niemals hätte sie gedacht, dass sie zuerst anal vergewaltigt werden würde, um direkt im Anschluss zu Oralsex mit einem erigierten Penis gezwungen zu werden, der nicht nur nach Pisse stank, sondern auch von ihren eigenen Exkrementen verunreinigt war. Und all das wurde ihr tief in den Hals gesteckt. Wieder und wieder.

      Irina Volkova erbrach sich heftig.

      Sergej Björkman, kreativer Unternehmer, in verschiedenen Erwerbszweigen tätig, lachte. Der Mann ohne Gesicht.

      Und hier liegt sie nun. Die Hände tasten vorsichtig nach dem Hals. Das Kruzifix ist unwiederbringlich verschwunden.

      Sie hört eine Tür zuschlagen, setzt sich abrupt auf, legt sich aber wieder hin, als das Pochen im Gesicht zu stark wird. Sie spitzt die Ohren, fühlt die Angst in der Magengrube. Kommt Sergej? Ist er allein? Hat er einen Mann oder ein neues Mädchen bei sich? Fängt es wieder von vorne an? Ihr Puls rast, ihr Atem geht keuchend.

      »Ich, Irina Volkova, werde aus diesem Haus herauskommen. Lebend«, zischt sie leise.

      Sie muss mit sich selbst laut reden, sonst wird sie wirklich verrückt. Sie hat trotz allem einen Namen. Irina versucht, eine schöne Erinnerung wachzurufen, aber es gibt so wenige davon: Großmutters Hände, das blanke, unbenutzte Zeichenpapier und die beinahe neue Kreide, die die Großmutter auf dem Markt erstanden hatte.

      Es ist ein Glück, dass Großmutter tot ist, denkt sie und erschrickt über sich selbst. Nach all dem könnte sie nie wieder ihrem Blick begegnen, ohne vor Scham und Schuldgefühl in der Erde zu versinken. Vor sich sieht sie den gesenkten Kopf der Großmutter in dem blumigen Schal, eine gelbe Wachskerze in den Händen, in ein stilles Gebet vor der Ikone vertieft.

      Herr, erbarme dich meiner.

      Irina wird von grellem Licht geblendet, als die Tür zur Sauna aufgerissen wird. Dort draußen steht ein Mann, den sie noch nie gesehen hat. Er lächelt aufreizend. Sie schleudert ihm den Holzeimer entgegen, und einen Moment lang sieht er erstaunt aus. Es knallt ordentlich, und er greift sich an die Stirn. Dann sieht er sie an und lacht laut.

      2

      Sie steuern den rostbedeckten Wagen die ganze Nacht über Richtung Norden. Zunächst wird der Wald im Herbstregen immer dichter, die Espen leuchten feuerrot. Viel später erheben sich bläuliche Berge aus der Dunkelheit des Waldes, als schwebten sie darüber, auf halbem Weg in den Himmel. Wie enorme gestrandete Wale wirft die Erde sich auf. Dann lichtet es sich, sowohl die Bäume als auch die Autos werden spärlicher. Eine schmale, gerade Straße, umgeben von meilenweitem stramm stehenden Kiefernwald. Kilometer für Kilometer.

      Anfangs ist der Ton zwischen ihnen scherzhaft, beinahe albern, wie sie da zwischen Bergen von Gepäck zusammengepfercht sitzen. Keiner von beiden weiß, wie lange sie dort oben bleiben werden. Am besten, man ist auf alles vorbereitet. Sie hat neue Daunenhausschuhe und drei Flanellpyjamas eingepackt. Kälte ist für sie das Schlimmste, was es gibt. Er hat fünfzig seiner besten CDs mitgenommen und die tragbare Stereoanlage.

      Sie bittet darum, als Erste fahren zu dürfen, obwohl der schäbige Wagen sein Privatauto ist. Das Einzige, was darin gut funktioniert, sind der CD-Player und das Radio. Sie haben sich für das Auto und gegen das Fliegen entschieden, um zu ihrem Auftrag auf unbestimmte Zeit mehr Sachen mitnehmen zu können. Und sie fahren nachts anstatt tagsüber, um Zeit zu sparen und weil sie dachten, es sei dann weniger Verkehr. Aber die Lastwagen donnern weiterhin durch die Dunkelheit. Hedvig fährt konstant hundertfünfundzwanzig. Sowohl Rafael als auch das Auto knarren, als er versucht, eine für seinen beeindruckenden Körperbau bequeme Position zu finden. Seine Knie stoßen gegen das Handschuhfach und der Kopf gegen das Dach.

      »Zweihundertsechs Zentimeter, falls es dich interessiert.« Das ist das Erste, was er sagt, bevor sie überhaupt dazu kommt nachzufragen. Sie überlegt, ob seine Uniform wohl eine Spezialanfertigung ist. So große Größen gibt es bestimmt nicht von der Stange.

      Er schließt die Augen und schläft die ersten dreihundert Kilometer über. Dann erwacht er mit einem Ruck und teilt ihr mit, dass er pinkeln muss. Sie halten an einem Gasthaus, aber nur sie benutzt dort die Toilette, er selbst verschwindet im Gebüsch hinter dem Parkplatz und kehrt sichtbar erleichtert, seinen Reißverschluss hochziehend, zurück. Sie essen beide ein Beefsteak mit Zwiebeln, und er trinkt drei Tassen schwarzen Kaffee. Er fragt nicht erst, sondern geht direkt auf die Fahrerseite des Wagens zu. Sie wirft ihm die Schlüssel hinüber und gleitet auf den Beifahrersitz. Es dauert eine Weile, bis sie losfahren können, da er den Sitz maximal nach hinten schieben muss, was bedeutet, dass drei Taschen beiseite gerückt werden müssen. Er dreht die Stereoanlage voll auf. Discomusik für eine neue Generation von Bullen. Keine langweilige Schlagerband oder, noch schlimmer, Oper. Die Bässe vibrieren.

      I am not a sinner, nor a saint

      not that I will loose my head and faint

      Sie starrt verärgert durch das Fenster. Muss sie das noch tausend Kilometer lang ertragen?

      »Du, Rafael. Worauf haben wir uns verdammt noch einmal eingelassen?«

      Er wirft einen schnellen Blick in den Rückspiegel auf einen Lastwagen, der ein unsinniges Überholmanöver an einem Hang ohne jede Sicht plant. Er betätigt die Bremse und lässt den Lkw mit polnischem Nummernschild vorbeifahren, bevor er auf hundertdreißig beschleunigt. Er muss immer der Beste sein.

      »Ein Kamikazeauftrag. Kann lustig werden. Ärger ist garantiert. Diese faulen Penner werden uns hassen«, sagt er munter.

      Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Ohne viel Erfolg. Es hat angefangen zu regnen, und sie friert. Er murrt nicht, als sie ihn bittet, die Heizung höher zu stellen. Er hat beschlossen, eine Weile großzügig zu sein.

      Hedvig Ek weiß nicht viel über ihren neuen Kollegen. Sie sind schon eine Zeit lang in derselben Abteilung, aber haben noch nie zusammengearbeitet. Sie kennt die äußeren Fakten über Rafael, dass er aus Lateinamerika stammt und deshalb von der Polizeibehörde gerne als Vorzeigeexemplar benutzt wird, wenn es um ihr Bestreben geht, mehr Leute aus Einwanderungsländern in den Polizeiberuf zu locken. Und er ist geradezu ein Musterbeispiel. Gilt als extrem sprachbegabt und schlau. Aber wie er sich in das Straßenbild im Norden einfügen und verdächtige Personen beobachten soll, ohne sofort aufzufallen, ist ihr ein Rätsel. Wenn man ihn einmal gesehen hat, vergisst man ihn nicht mehr. Er sticht hervor. Rafael Flores Alba, wie sein vollständiger, imponierender Name lautet, spricht manchmal von seiner Mutter Mercedes, aber viel mehr weiß Hedvig nicht über sein Privatleben. Vermutlich wirft er Damen um wie Bowlingkegel. Wenn ihm danach ist. Er ist immer sehr gut gekleidet, wenn er in Zivil ist, kennt sich mit den neuesten Modetrends aus und besitzt wahrscheinlich mehr Paar Schuhe als sie. Ein auf den ersten Blick eitler Mensch mit einer Vorliebe für dicke Goldketten.


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