Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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in irgendeiner Scheune vor sich hin brodelt. Danach werde ich mich an einem freien Tag einmal umsehen.«

      Ihr Haus liegt einige hundert Meter oberhalb von Gunnars Hof. Es war das Einzige, was sich außer einem Hotel so kurzfristig auftreiben ließ. Sowohl Hedvig als auch Rafael waren gegen ein Hotel, da sie meinten, es sei besser, so wenig wie möglich aus der Menge hervorzustechen, um ihren Auftrag hier oben ausführen zu können. So kamen sie zu dieser Bruchbude, einer baufälligen Altenteilhütte am Waldrand, bei der die rote Farbe abblättert und der Garten verwuchert ist. Das lange, nasse, strohige Gras liegt in großen unordentlichen Büscheln da. Hinter dem Haus fängt unmittelbar der Wald an. Wie viele arme, dürre Bäume gibt es in diesem Land? Aber setzt man sich auf die feuchte Vortreppe, hat man einen einzigartigen Blick. Man sieht weit über die Felder, ein Stück dahinter kann man einen See erahnen, und auf der anderen Seite erhebt sich hinter dem Wald ein Berg. Es ist still. Absolut still. Der Gedanke daran, dass sie nicht wissen, wie lange sie hier bleiben werden, erscheint ihnen ein wenig unwirklich.

      Hedvig schließt die wettergegerbte Tür auf und tritt ein. Ihr Atem hängt ihnen beiden wie eine dunstige Wolke vor dem Mund, und Hedvig fragt sich, ob Gunnar tatsächlich geheizt hat. Die Küche ist die schmutzigste und schäbigste, die sie je gesehen hat. Niemand hat darin auch nur einen Finger gerührt, seit sie vor bestenfalls fünfzig Jahren renoviert wurde.

      Die ganze Baracke scheint in Braun gehalten zu sein. Brauner Kunststoffboden, braune Tapeten, braune, flickenbesetzte Sitzmöbel mit ungewissem Innenleben. Das ist wahrscheinlich der einzige Vorteil der Kälte im Haus: dass die eine oder andere Milbe hoffentlich draufgegangen ist.

      Rafael schlängelt sich die steile Treppe in den oberen Stock hinauf, und sie hört ihn mit schweren Tritten herumschlurfen, dass es in den Wänden und im Boden knackt. Er ruft nach ihr, und sie folgt ihm. Dort oben befinden sich ein Schlafzimmer und ein altmodisches Badezimmer mit einer Badewanne, die auf Füßen steht. Außerdem gibt es eine Dachkammer, die bis zum Dachfirst hinaufreicht. Durch das Fenster im Giebel hat man Blick auf das ganze Tal. Sie bleiben schweigend stehen.

      Rafael schaut auf sein Handy. Dann lässt er es wieder sinken und sieht Hedvig an.

      »Kein Empfang. Wenn die Geschäfte öffnen, fahren wir in die Stadt und kaufen etwas Farbe. Hier können wir sonst nicht wohnen, verdammt. Wir würden vor lauter Hässlichkeit sterben«, sagt er, und in dem alten, müden Holz ächzt es, als er in zwei Sätzen die Treppe hinabspringt.

      Sie hieven das meiste Gepäck aus dem Wagen und werfen es in die Diele. Dann fahren sie den Hügel hinunter, und Rafael steckt noch einmal den Kopf in die Scheune, um die Erlaubnis einzuholen, alles weiß zu streichen. Gunnar scheint verwundert, dass sich jemand darüber Gedanken macht. Er selbst hat das nie getan. Sich um nichts gekümmert. Aber natürlich dürfen sie streichen. Er denkt, dass es für ihn so wenigstens umsonst ist.

      Hedvig fährt in die Stadt. Dort gibt es das, was man in kleineren Städten üblicherweise findet: ein Rathaus am einen Ende einer protzig breiten Allee und ein Theater von der letzten Jahrhundertwende am anderen. Eine Fußgängerzone entlang eines offenbar renovierten Marktplatzes, wo unter anderem ein paar Warenhäuser und ein Kino stehen. In den Straßen rundum befinden sich kleine Geschäfte, die Geschenke und Kunsthandwerk aus der Region verkaufen, ein paar kleine Restaurants, eine Bank mitsamt Geldautomat und eine Apotheke. Am Marktplatz, der laut Straßenschild Stora torget heißt, liegt unter anderem ein Konsum-Supermarkt. Direkt gegenüber befindet sich im Übrigen das Polizeirevier, in das sie am Montag gehen sollen, aber jetzt ist nicht der passende Moment, um vorbeizuschauen und Hallo zu sagen.

      Sie frühstücken in einem Hamburgerlokal, das morgens geöffnet hat, während sie darauf warten, dass es neun Uhr wird. Die Zeit kriecht voran, aber schließlich sind alle Minuten vergangen.

      Der Konsum ist kein besonders großer Laden, aber dennoch scheint das meiste vorhanden zu sein. Alle Waren sind ordentlich gestapelt, und die Preise sind sowohl in Kronen als auch in Euro ausgewiesen, obwohl formal gesehen keine Währungsunion existiert. Zu kommen und nach fünfzig Litern weißer Wandfarbe, matt, zu fragen, scheint nicht im Geringsten seltsam. Pinsel, Farbeimer und Rollen gibt es auch. Lasse, wie der Filialleiter heißt, ist äußerst freundlich und hilfsbereit in seiner grün karierten Weste aus hundert Prozent Polyester, die alle Angestellten während der Arbeit zu tragen haben.

      In Gunnars Küche brennt Licht, als sie eine Weile später an seinem Haus vorbeifahren. Sie tragen ihre neu erstandenen Malerutensilien hinein und schieben alle Möbel in der Mitte des Raumes zusammen. Darüber breiten sie ein paar alte Laken aus. Sie beschließen, mit dem Erdgeschoss zu beginnen und mit dem oberen Stockwerk zu enden. Die Farbe hält hoffentlich so lange, wie sie hier sein werden. Wenn sie also mit dem Untergrund pfuschen, wird es sie vermutlich nicht mehr selbst treffen.

      Rafael hat angeboten, in dem kleinen Wohnzimmer im unteren Stock zu schlafen, da es weniger Abgeschiedenheit erlaubt.

      »Ich will mal versuchen, Gentleman zu sein«, sagt er.

      Nicht, dass sie viel Besuch erwarten. Beide hoffen, dass ihr Auftrag schnell erledigt sein wird, damit sie wieder nach Hause fahren können.

      Rafael kann ohne Leiter die Decke streichen, daher darf er das machen. Eine neue Disco-CD schmettert los, und Hedvig muss sich selbst eingestehen, dass es das Ganze ein wenig unterhaltsamer gestaltet. Sie streicht die Wände. Die alten Tapeten saugen mehr Farbe auf, als sie zunächst angenommen hatten, aber das Ergebnis ist ganz zufriedenstellend. Sie legen eine kurze Mittagspause ein und wärmen das Essen in der Mikrowelle auf, die Rafael schlau genug war mitzunehmen. Er nimmt zwei Portionen, sie eine.

      Sie machen im Obergeschoss weiter. Das Streichen geht beinahe von selbst. Hedvig putzt die Küche, und dann machen sie eine zweite Tour zu den Geschäften in der Stadt. Ein paar Elektroöfen, Gardinen, Blumentöpfe und Überwürfe später sieht das Haus ganz wohnlich aus. Die schlimmsten geflickten Möbel tragen sie in einen Anbau hinaus, der eine Mischung aus Vorratskammer, Holzschuppen und Hühnerhaus ohne Hühner ist. Die anderen Möbel bekommen einfache Bezüge und werden so ganz akzeptabel.

      »Jetzt reicht es aber mit dem Gemütlichmachen. Man darf es auch nicht übertreiben«, sagt Rafael. »Jetzt tun wir das, wofür wir hergekommen sind.«

      Sie ziehen sich um und fahren noch einmal mit dem Auto in die Stadt. Neben der Polizeiwache, gegenüber vom Konsum am Marktplatz, gibt es einen Pub, in den sie hineingehen.

      Rafael bestellt ein Malzbier. Hedvig bietet an zurückzufahren und nimmt einen Moosbeerensaft. Sie sehen sich um. Entweder ist es zu früh am Abend, oder sie sind am ganz falschen Ort, denn in dem dunklen Lokal ist es beinahe leer. An einem Tisch hängen zwei pickelige Jugendliche, die vielleicht gerade einmal achtzehn sind. An einem anderen sitzt ein fetter Kerl in einem orangefarbenen Helly-Hansen-Pullover und spricht laut in sein Handy:

      »Ja, aber verdammt, Sergej, hör jetzt zu! Donnerstagnachmittag, drei Uhr an der OK-Tankstelle. Das haben wir doch die ganze Zeit schon gesagt. Beruhige dich!«

      Weiter hinten in dem schwach beleuchteten Lokal hocken ein paar einsame Männer über ihr Bier gebeugt. Leise Musik ist zu hören. Weine mir keine Tränen nach ...

      »Was sollen wir morgen denn für eine Taktik einschlagen?«, fragt sie.

      »Wir machen es so wie ursprünglich besprochen. Überhaupt keine Taktik. Gleich zur Sache kommen. Ihnen ein wenig Angst einjagen.«

      Er zeigt ein breites Grinsen und schiebt sich eine gewaltige Prise Tabak in den Mund.

      »Nimmst du Kautabak?«

      »Man muss die landesüblichen Gewohnheiten annehmen«, sagt er und streckt ihr die Dose entgegen.

      Sie schüttelt den Kopf und trinkt einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas.

      »Das hier wird keine einfache Sache werden.«

      »Für sie vielleicht nicht, für uns schon. Entspann dich mal, Hedvig. Es ist alles in Ordnung.«

      Ein rothaariger Mann mit wässrigen blauen Augen und einer beinahe durchsichtigen, mit Sommersprossen bedeckten Haut drängt sich an ihnen vorbei nach draußen. Warum auch immer er ihnen so nahe


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