Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


Скачать книгу
können Sie leicht sagen! Hier kennen sich alle, und es sind ungeheuer ernste Beschuldigungen, mit denen Sie hier ankommen«, sagt der Kripochef Mats Julin.

      Åke spricht mit dem Mund voll Gebäck: »So etwas kann man schließlich nicht geheim halten, das verstehen Sie doch. In Kleinstädten wissen die Leute über ihre Nachbarn Bescheid. Es ließe sich nichts machen, ohne dass jemand etwas erführe.«

      »Aber wenn man auf einem abgelegenen Hof im Wald wohnt?«, fragt Rafael.

      »Vor der Abzweigung zum kleinen Schotterweg in den Wald ist eine Kreuzung. Wenn dort viel Verkehr herrscht, wissen die Leute darüber Bescheid«, sagt Åke und füllt sich Kaffee nach.

      »Und angenommen, sie wissen Bescheid, angenommen, alle wissen, was vor sich geht, könnte es dann sein, dass sie schweigen? Weil sie sich gegenseitig in der Hand haben, weil sie verwandt miteinander sind oder zusammen auf die Jagd gehen oder gemeinsam Schnaps brennen?«

      »Hören Sie mal, so etwas bildet ihr Stockholmer euch doch ein! Das ist völliger Unsinn! Weder jagen wir illegal, noch betreiben wir Schwarzbrennerei! Wenn Sie solche Vorurteile haben, können Sie gleich wieder nach Hause fahren.«

      »Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir einen Auftrag erhalten haben. Nicht von Ihnen, sondern von höherer Stelle. Es geht nicht darum, Sie zu überprüfen, um herauszufinden, ob Sie richtig oder falsch gehandelt haben. Das Einzige, was wir versuchen sollen, ist, einen Anhaltspunkt zu finden, um selbst beurteilen zu können, ob es sich nur um Gerüchte und unsinniges Gerede handelt, wie Sie behaupten. Wir werden unseren Auftrag ausführen, was auch immer Sie darüber denken mögen. Wir haben die Erlaubnis, auf eigene Faust zu handeln, wie Sie wissen«, sagt Rafael.

      Unter dem Konferenztisch gibt der Elchhund des Polizeidirektors einen geräuschvollen Furz von sich, der nach Trockenfutter stinkt.

      »Aber Lola«, sagt Åke und wedelt verärgert mit der Hand.

      Staatsanwalt Sture Holmlund zieht seine venezianische Rohseidenkrawatte zurecht und sagt: »Mir ist eigentlich nicht ganz klar, warum ich hier anwesend sein soll. Ich gehöre ja schließlich einer ganz anderen Behörde an. Die Polizei sollte ihre Probleme intern regeln.«

      Rafael erwidert: »Aber Sie tragen auch eine gewisse Verantwortung. Wenn Sie Kenntnisse über ein mutmaßliches Verbrechen haben und keine Untersuchung einleiten, begehen Sie selbst ein Verbrechen. Ihre Behörde hat landesweit den niedrigsten Prozentsatz an gerichtlichen Vorladungen wegen Sexualverbrechen und Gewalt gegen Frauen und Kinder. Wie erklären Sie sich das?«

      Der Staatsanwalt überlegt einen Moment, dann erhebt er sich, rückt den Stuhl zurecht und verlässt ohne ein Wort den Raum.

      Alle schauen auf Rafael, der sagt: »Tja, dann fangen wir wohl mit der Arbeit an.«

      »Warten Sie einen Moment.«

      Åke hebt die Hand.

      »Das war doch wohl unnötig. Und ich bin noch nicht fertig. Natürlich werden wir mit Ihnen zusammenarbeiten, damit Sie Ihren Auftrag ausführen können. Aber ich möchte Sie warnen, Sie werden mit Sicherheit enttäuscht werden. Hier gibt es nichts von dem, was Sie andeuten. Nichts! Keinen Menschenhandel, keine Prostitution. Gäbe es das, hätten wir dem bereits Einhalt geboten. Nun dachte ich daran, Ihnen einen eigenen Streifenwagen zuzuteilen, dann können Sie sich heute in den normalen Dienst eingliedern.«

      Hedvig und Rafael starren ihn an.

      »Auf die Art gewinnen Sie ein besseres Verständnis dafür, wie es bei uns hier oben zugeht. In Wirklichkeit. Damit Sie Ihren hochwohlgeborenen Chefs da unten in der königlichen Hauptstadt die Wahrheit erzählen können.«

      Hedvig gewinnt als Erste wieder die Fassung.

      »Natürlich. Selbstverständlich«, sagt sie.

      »Gut. Mats kümmert sich im kleinen Konferenzraum um die Einteilung«, sagt Åke.

      »Oh, nein! Da trifft sich doch die ›Lustige Truppe‹!«, wendet Stickan ein.

      »Müssen wir eben ausweichen«, antwortet Erik.

      Dann niest er so, dass Gebäckkrümel über den gesamten Konferenztisch fliegen.

      »Kommen Sie zunächst einmal noch mit zu mir, dann können wir etwas ungestörter miteinander reden. Ich möchte auf keinen Fall wie ein Bremser wirken oder den Eindruck erwecken, ich würde mich der Entscheidung, dass Sie hier sind, widersetzen. Selbstverständlich dürfen Sie völlig frei agieren, niemand von uns denkt daran, sich einzumischen. Hier entlang, mein Büro liegt dort vorne links«, sagt Åke und treibt Hedvig und Rafael vor sich den Gang entlang.

      »Aber Sie verstehen bestimmt, dass diese Angelegenheit starke Emotionen weckt. Die Leute hier im Haus, die lange an dieser Sache gearbeitet haben, fühlen sich ganz einfach übergangen und in Frage gestellt. Ich hoffe, Sie begreifen das?«

      Weder Rafael noch Hedvig antworten ihm, stattdessen setzen sie sich schweigend auf ein braunes Ledersofa, das dem breiten Schreibtisch, der voller Papiere ist, genau gegenübersteht. Åke folgt Hedvigs Blick, der an einer Fotografie auf dem Schreibtisch hängen geblieben ist. Er deutet mit dem Kopf darauf: »Das ist Birgitta, meine Gattin. Eine wirklich talentierte Frau. Sie ist Ärztin. Kümmert sich um diejenigen, die es schwer haben. Ich bin so stolz auf sie«, sagt er beinahe schüchtern.

      Die Frau auf dem Bild sieht apart aus.

      Hedvig nickt, weil sie den Eindruck hat, es sei angebracht.

      »Ich liebe sie über alles auf der Welt, wirklich.«

      Einen Augenblick lang ist es still, dann sagt Rafael: »Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist denn diese ›Lustige Truppe‹?«

      Åke fährt sich mit der Hand in den Hemdkragen, bevor er antwortet: »Es ist ein Versuch, die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu erhöhen, könnte man sagen. Als ich diese Stelle antrat, gab es viele Klagen von Seiten der Gewerkschaft, darüber, dass die Leute sich aufreiben, ohne jemals etwas Freundliches zurückzubekommen. Dieser Job ist schließlich nicht immer besonders spaßig oder schön, wenn man so will. Deshalb wurde die ›Lustige Truppe‹ gegründet, und im Moment ist sie gerade dabei, einen Ausflug ins Polizeimuseum nach Stockholm zu organisieren, glaube ich. Dort soll es viele interessante Mordwerkzeuge geben, die man studieren kann. Und abends ist ein Theaterbesuch geplant, irgendetwas mit einer Mausefalle, habe ich gehört. Man könnte das Ganze als Studienreise bezeichnen, ja als Fortbildung geradezu«, sagt Åke.

      »In dem Stück spielt ein Polizist eine entscheidende Rolle«, erwidert Hedvig.

      »Aha, ist das so? Wie nett«, meint Åke.

      »Wir dachten daran, uns ein wenig umzuschauen«, sagt Hedvig und steht auf. Sie will keine Sekunde länger hier sitzen und bei zwanghafter Konversation Wurzeln schlagen.

      Åke nickt und seufzt: »Ja. Natürlich, tun Sie das. Aber wie gesagt, hier gibt es nichts zu entdecken. Sie werden unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren müssen.«

      Später, nachdem sie ihren ersten Arbeitstag absolviert haben und bei diversen Routineeinsätzen mehr Kilometer gefahren sind, als Hedvig jemals für möglich gehalten hätte, gehen sie und Rafael in den Fitnessraum der Polizeiwache hinunter und trainieren eine Runde, um den Kopf freizubekommen. Beide konzentrieren sich ganz auf ihren eigenen Körper, darauf, die Bewegungen korrekt auszuführen und so lange wie möglich durchzuhalten. Rafael weiß, dass Hedvig gut trainiert ist, dennoch staunt er darüber, wie eine so kleine Frau wie sie so viele Gewichte heben und stemmen kann. An der einen Wand sind Spiegel angebracht. Hedvig sieht verbissen aus, um nicht zu sagen wütend. Rafael lacht heimlich.

      Hedvig schließt die Augen und fährt fort, bis ihre Muskeln vor Übersäuerung brennen. Ihr Kopf entspannt sich, ihre Wut erhält eine Richtung: noch einmal, noch einmal ... Wenn sie kurz davor ist aufzugeben, denkt sie an Anders, und dadurch schafft sie immer noch einmal. Seinetwegen.

      Dann dehnt sie sich. Straffe Muskeln und viel Kraft. So will sie sein. Sie brilliert vor Rafael, indem sie in den Spagat geht. Aber Rafael lacht nur.

      4


Скачать книгу