Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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den Schreibtisch und das dürftige Bett vor die neue, starke Kieferntür zu schieben. Er steht davor und trommelt eine Weile dagegen, schreit und flucht fürchterlich. Verängstigt versucht sie ein Fenster aufzubekommen, aber sie sind verriegelt und lassen sich nicht öffnen, so dass sie nicht entkommen kann.

      Gerade als sie bereit ist aufzugeben, sich ihrem Henker auszuliefern, hört das Wummern an der Tür auf.

      »Ich hole Sergej«, ruft der Mann mit einer tiefen Stimme wie aus der Unterwelt.

      Das einzige Wort, das Irina versteht, ist der verhasste Name: Sergej. Sergej kommt. Jetzt wird er mich umbringen.

      Sie hört den Mann mit wütenden, trampelnden Schritten, die durch das ganze Haus hallen, die Treppe hinuntergehen. Die Flüche sind immer undeutlicher zu hören, dann schlägt die Haustür zu. Es knackt im elektronischen Schloss, das nur Sergej und seine Männer mit Hilfe eines Codes öffnen können. Durch die Haustür kommt sie niemals hinaus. Seit das Auto abgefahren ist, steht sie unbeweglich in der Stille.

      Wieder sucht die Hand am Hals nach dem Kreuz, das nicht mehr dort hängt. Dann handelt sie. Mit zitternden Händen schiebt Irina das Bett und den Schreibtisch beiseite, bis ein Spalt entsteht, der groß genug ist, um hindurchzuschlüpfen. Wenn er es sich nun anders überlegt und sofort kehrtmacht? Die Beine tragen sie kaum, als sie auf bloßen Füßen die Treppe hinunter in die Küche eilt. Sie öffnet den Kühlschrank.

      Das Steak, das gestern übrig war, wo ist es? Wo? Sie reißt, zerrt, eine Packung Milch kippt um, und der Inhalt fließt über ihre Hände auf den Boden. Sie muss es finden. Da! Sie nimmt das in Frischhaltefolie eingewickelte Paket und sieht sich um. Ein Wachhund bellt und starrt sie mit gesträubtem Fell durch das Küchenfenster an. Sie schluckt, aber ihr Mund bleibt trocken.

      Heilige Mutter Gottes, steh mir bei. Führe mich von hier fort.

      Irina wickelt die rechte Hand in ein Küchentuch und greift nach einem steinernen Kerzenhalter. Sie denkt, dass sie den Moment, da ihre Flucht entdeckt wird, so lange wie möglich hinausschieben muss, daher geht sie in das Schlafzimmer, das im Erdgeschoss auf der Rückseite des Hauses liegt. Gerade als sie den schweren Kerzenhalter gegen die Scheibe schlägt, durchzuckt sie der Gedanke, dass das Fenster vielleicht mit einem Alarm gesichert ist. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Umso größere Eile ist geboten.

      Das Fensterglas gibt einen dumpfen Laut von sich, aber es lässt sich weniger leicht einschlagen, als sie vermutet hatte. Sie fühlt Panik in sich aufsteigen, legt ihre ganze Kraft in den nächsten Schlag, und das Fenster zersplittert. Falls sie sich verletzt, spürt sie es nicht. Schnell bricht sie alle Splitter heraus. Im Gras unter dem Fenster bellt der Hund wie verrückt. Sie greift nach einem Kissen und legt es auf den Fensterrahmen, um sich nicht zu schneiden.

      Das Fleisch, wo ist das Fleisch? Ihre Hände zittern so sehr, dass sie es kaum schafft, das Paket zu öffnen. Sie nimmt das große Fleischstück und wirft es so weit, wie sie kann. Der Hund springt hinterher und stürzt sich darauf. Ein weiterer borstiger Hund kommt herbeigerannt, und sie beginnen, um das Fleisch zu kämpfen.

      Sie fällt eher, als dass sie aus dem Fenster springt. Sieht sich nicht nach den Hunden um. Rennt, rennt, rennt auf den enormen Zaun zu. Nicht daran denken, dass es nicht klappen könnte, ich muss darüber, bevor die Hunde etwas merken, muss es schaffen. Ihre Geschwindigkeit hilft ihr, ein gutes Stück den grobmaschigen Draht hinaufzugelangen. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie barfuß ist, aber vielleicht ist es gut so, die Füße finden ohne Schuhsohlen zwischen sich und dem Metallnetz einen besseren Halt. Sie klettert, zieht sich empor, sieht den Stacheldraht ganz oben, nicht zurückschrecken jetzt, Jesus, hilf mir! Die Hunde haben ihren Fluchtversuch bemerkt, sie springen und schnappen nach ihr, und es scheint, als hebe sie der Schreck das letzte Stück über den Zaun hinüber. Einmal auf der Außenseite, stürzt sie beinahe senkrecht hinunter. Die Füße gehorchen nicht, die Beine wollen sie nicht tragen. Ganz in der Nähe die rasenden Hunde. Nur ein dünnes Gitter trennt sie von ihnen. Verwundert blickt sie in die rosaroten, geifernden Mäuler.

      Irina steht auf, wankt. Und jetzt? Wohin, und wie weiter? Sie können jeden Augenblick kommen, der wütende Mann wird bald zurück sein, und dann hat er Sergej bei sich. Sie werden die Hunde loslassen. Diese Erkenntnis bringt sie in Bewegung. Sie hinkt eilig den Sumpf entlang. Mit einem Bein scheint etwas nicht in Ordnung zu sein, aber sie hat jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern. Die Jeans ist zerrissen, und ihre Hand wird blutig, als sie sich an den Schenkel fasst.

      Halb in dem sumpfigen Boden versinkend rennt sie am Rande des Moors entlang, wo es unter den Bäumen rotgolden leuchtet. Noch nie zuvor hat sie so viele Preiselbeeren gesehen. Sie geht so weit ins Wasser hinein, wie sie es sich traut, damit die Hunde verwirrt werden und ihre Spur verlieren. Zum Schluss wankt sie zurück in den Wald, geht weiter und weiter, im halben Laufschritt, geduckt. Ein schmerzhaftes Pochen macht sich langsam bemerkbar, sowohl im Gesicht als auch im Bein. Sie beißt die Zähne zusammen, zwingt sich weiterzugehen. Sie gelangt an einen Schotterweg, biegt aber wieder in den Wald ab, entdeckt einen weichen, mit Baumnadeln bedeckten Pfad, folgt ihm und hofft, dass er sie zugleich fort und nach Hause führt. Sie bleibt stehen und lauscht keuchend. Alles ist still. Dann hört sie aus der Ferne Hundegebell. Holt tief Luft. Fällt auf die Knie.

      Sie zwingt sich, wieder aufzustehen. Es ist zu früh, um zu danken. Sie ist noch nicht in Sicherheit. Wenn sie ihr nun folgen und sie zurückbringen.

      Viola Uusitalo hat sich nie als Privatdetektivin verstanden. Sie ist nicht der Typ, der herumspioniert, findet sie zumindest selbst. Dennoch ist es eine Art Beschattung, die sie vornimmt, als sie so nahe, wie sie sich heranwagt, unweit des neuen Hauses im Moor, hinter einem großen, bemoosten Stein hockt. Stig Rönnlund traut sie keine Sekunde. Schon als Kind war er ein hoffnungsloser Fall. Heulte bei der geringsten Kleinigkeit und hing seiner Mutter am Rockzipfel.

      Das Haus ist auf einer kleinen Anhöhe unmittelbar neben dem Moor errichtet. Es müssten doch noch andere außer ihr bemerkt haben, dass Holz hierher transportiert wurde, oder geschah es nachts? Die vielen Mücken und Bremsen müssen eine wahre Plage sein, wenn die Zeit kommt. Und warum brauchen sie einen so hohen Zaun? Mit Stacheldraht obendrauf? Das hier ist kein gewöhnliches Wohnhaus. Es ist nicht normal.

      Sie hält die Luft an, als die Haustür auffliegt und ein großer Kerl, den sie noch nie gesehen hat, herausstürzt. Er schreit und flucht, wirft sich in den Wagen, lässt den Motor aufheulen, fährt durch das Tor, muss aber noch einmal aussteigen, um hinter sich abzuschließen. Dann lässt er zwei große Hunde frei. Sind es Wachhunde? Viola steht ganz still da, als der rote Wagen wie ein Pfeil den Schotterweg entlangschießt.

      Nun ja, sie sollte jetzt wohl doch lieber verschwinden. Es könnten gefährliche Dinge sein, die hier vor sich gehen. Vielleicht sollte sie zurück zur Polizei fahren und darum bitten, mit Stigs Chef sprechen zu dürfen.

      Gerade hat sie die Thermoskanne mit dem schwarzen Kaffee in den zerschlissenen, ausgebleichten grünen Baumwollrucksack gepackt, als sie ein dumpfes, klopfendes Geräusch hört, das in ein Klirren übergeht. Etwas fliegt durch das zerbrochene Fenster. Die Hunde schlagen sich wie wild darum, was auch immer es sein mag. Dann sieht Viola etwas aus dem Fenster springen und in Richtung Zaun rennen. Es muss ein Mensch sein. Er macht sich daran, den Zaun hinaufzuklettern. Violas Puls fängt an zu rasen, sie wusste doch, dass hier seltsame Dinge geschehen. Es scheint sich um ein junges Mädchen zu handeln. Nein, jetzt bemerken die Hunde es! Viola weiß nicht, wohin sie sich wenden soll, es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor, bis das arme Mädchen an der Außenseite des Zauns hinunterfällt und liegen bleibt. Viola ist nahe daran, sich auf den Weg zu ihm zu machen, als das Mädchen aufsteht und davonhinkt, geradewegs auf das Moor zu.

      »Das kann nicht gut gehen«, denkt Viola, aber folgt dem Mädchen in einiger Entfernung.

      Sie muss sich beeilen, um zu sehen, welchen Weg das hinkende Mädchen ohne Schuhe einschlägt. Eine ganze Weile laufen sie tiefer in den Wald hinein, und als Viola gerade denkt, dass es nicht viel länger durchhalten wird, bricht das Mädchen zusammen. Es zittert am ganzen Körper, und Viola eilt zu ihm.

      »Fürchte dich nicht«, sagt sie und streicht ihm vorsichtig über das Haar.

      Das Mädchen fährt zusammen und schaut sie panisch an. Es ist


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