Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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es so wäre, müsste ich eben damit leben. Es gibt schließlich keinen, der mich beerben wird, also kann niemand anderes böse darüber sein, dass ich mein eigenes Geld hergebe.

      Viola schiebt die Scheine in einen neuen Umschlag und schreibt mit zittriger Handschrift »Für dich« darauf. Sie weiß noch nicht einmal, wie das Mädchen heißt. Dann kramt sie in ihrem Schmuckfach im Sekretär und findet schließlich das Gewünschte. Sie nimmt eine blaue Samtschachtel und stellt sie zusammen mit dem Umschlag auf den Nachttisch neben das tief schlafende Mädchen. Dann verlässt sie das Schlafzimmer, macht die Tür zu, zieht einen Mantel an und setzt ihren besten Hut auf, den flauschigen. Sie schließt die Haustür ab, geht hinaus und setzt sich wieder auf ihr Fahrrad. Die mit Pilzen und Beeren gefüllten Körbe hängen noch immer am Lenker, sie wird sich später darum kümmern.

      Es dämmert, als sie denselben Weg zurückfährt, den sie und das Mädchen vorhin gekommen sind. Sie ist entschlossen und verbissen. Sie wird Sergej Björkman die Leviten lesen, diesem Tunichtgut und Nichtsnutz. Sie fand schon immer, dass Sergej Björkman untauglich ist. Groß im Reden, armselig im Handeln. Als Kind wurde er von seinen Eltern, der schönen Olga aus Murmansk und dem kränklichen Sven Björkman, streng erzogen. Im Namen von Zucht und Ordnung wurde er jede Woche zur Sonntagsschule geschleift. Aber gebracht hat es wenig. Sergej hat sicher nicht mehr den Fuß in eine Kirche gesetzt, seit er konfirmiert wurde und seine Geschenke bekam. Geheiratet hat er nur standesamtlich, schon allein das!

      Die Umstände haben ihn zweisprachig werden lassen. Als der Vater starb, zog Olga zurück in die Heimat und bekam von einem neuen Mann einen zweiten Sohn, Vladimir. Aber Sergej blieb zurück, so verwurzelt, wie er in Schweden war. Olga starb vor ein paar Jahren, und es heißt, Vladimir käme manchmal hierher, um seinen Bruder zu besuchen. Viola hat die Brüder ein paar seltene Male zusammen gesehen, sie findet, dass sie beide wie Lumpen aussehen.

      Sie radelt zurück in den Wald, zurück zum Moor. Viola sieht nicht wie sonst die Schönheiten der Natur um sich herum, so aufgewühlt ist sie. Sie glaubt nicht an die Möglichkeit, dass Sergej bei sich zu Hause sein könnte, auf dem Hof außerhalb der Stadt, den er mit seiner Frau bewohnt. Irgendetwas macht Viola ganz sicher, dass sie Sergej in genau diesem neuen Haus am Moor finden wird, von dem alle behaupten, es nicht zu kennen. Denn es war sein Name, den das Mädchen nannte. Das zerschundene, verängstigte Kind. Innerlich kocht es in Viola, wenn sie an die Wunden denkt, die sie soeben gereinigt und verbunden hat. Nichts macht eine Krankenschwester so wütend wie unnötig zugefügter Schaden. Unfälle sind eine Sache, sie lassen sich nicht vorhersagen und sind etwas, in das sich auch ein Christ fügen muss. Aber reine Gewalt – das ist nicht zu akzeptieren. Das ist Sünde und ein Werk des Teufels.

      Als Viola das Haus erreicht, ist es fast dunkel. Der Wind frischt auf und fährt durch die Baumkronen über ihr. Ein Geruch nach Fäulnis und Brackwasser weht vom Moor zu ihr herüber. Oberhalb der Treppe brennt Licht am Haus. Das Tor steht offen, Hunde sind nicht zu sehen. Sie spricht leise ein kurzes Gebet, stellt das Rad ab und steigt die Treppe hinauf. Es gibt weder eine Klingel noch einen Klopfer.

      Entschlossen pocht sie an die Tür. Keine Reaktion. Sie klopft noch einmal.

      »Sergej!«, ruft sie, so laut sie kann.

      Der Wind scheint ihre Stimme einzufangen und weit über das Moor zu tragen.

      »Sergej! Ich will mit dir sprechen!«

      Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Zwei misstrauische Augen blicken sie an.

      »Ich möchte mit Sergej sprechen«, sagt Viola so freundlich wie möglich.

      Die Tür will sich sofort wieder schließen, aber Viola greift nach der Klinke und sagt mit ihrer lang vergessenen, entschlossensten Krankenschwesterstimme: »Ich will Sergej sprechen. Jetzt. Holen Sie ihn her. Ich weiß, dass er hier ist.«

      Dennoch denkt sie: Vielleicht ist er gar nicht hier, vielleicht irre ich mich vollständig?

      Da steht er vor ihr. In einem blauen Seidenhemd mit offen stehenden Knöpfen und einer Lederhose. Er grinst von einem Ohr zum anderen. Er war es selbst, der die Tür geöffnet hat, sie hat ihn nur nicht gleich erkannt.

      »Guten Tag, Sergej«, sagt Viola.

      Er lacht nur. Am liebsten würde sie diesem Nichtsnutz den Kopf waschen. Er braucht nicht zu glauben, dass er so davonkommt.

      »Hast du vergessen, was du in der Sonntagsschule gelernt hast, Sergej?«

      Er grinst noch immer.

      »Dass Gott und Jesus alles sehen und alles hören. Hast du das vergessen?«

      »Scher dich zum Teufel, Alte«, sagt Sergej und versucht, die Tür zu schließen.

      Es gelingt ihr, einen Fuß dazwischenzuschieben.

      »Ich glaube gewiss, dass dir heute Abend ein Mädchen abhanden gekommen ist, Sergej.«

      Sein Blick verfinstert sich.

      »Hast du all deine Schäfchen gezählt, Sergej?«

      »Zum Teufel! Was ...«

      »Hör mir zu, Sergej. Hör mir gut zu.«

      »Was soll denn der Blödsinn, verdammt!«

      »Hör zu! Ich weiß, was du treibst. Du brauchst nicht zu glauben, ich wüsste es nicht. Und ich bin nicht so alt, dass ich nicht eins und eins zusammenzählen kann, auch wenn es sich um eine private Angelegenheit handelt. Das, was du tust, ist sündig, Sergej. Gott sieht dich.«

      »Verschwinde von hier!«

      »Nein, hör mir jetzt zu, ich bin noch nicht fertig. Du hast die Wahl, Sergej. Jeder Mensch kann frei wählen. Deswegen hat das Böse einen Platz in der Welt, daran erinnerst du dich doch noch aus der Sonntagsschule? Mach die Tür nicht zu!«

      Sie schiebt den Fuß noch ein Stück weiter zwischen Tür und Schwelle.

      »Der freie Wille erlaubt es dem Bösen zu wachsen. Du hast die Wahl, mit dem, was du tust, aufzuhören. Du kannst deine Türen aufsperren und die Mädchen, die Kinder, die du hier festhältst, freilassen.«

      »Zur Hölle!«

      »Du solltest nicht mit mir über die Hölle sprechen, Sergej. Hörst du? Dort wirst du nämlich enden, wenn du so weitermachst. In der Hölle, Sergej, denk daran! Der Teufel selbst wird kommen und dich zu sich in die Hölle holen.«

      Der Mann vor ihr schrumpft zusammen, wird wieder zu einem unsicheren Kind. Ängstlich, eingenässt, verwundbar und weinerlich. Gott sieht dich, Sergej.

      »Verdammtes Weib, scher dich zum Teufel!«, sagt er heiser, aber kraftlos.

      »Du hast die freie Wahl, Sergej. Das Mädchen, das nicht mehr hier ist, befindet sich in Sicherheit. Du wirst es nie mehr sehen. Nie mehr, hörst du? Die anderen werden auch bald frei sein. Denn du bist kein böser Mensch, Sergej, oder? Zeige Gott, dass du kein böser Mensch bist«, sagt Viola ganz leise.

      Sie stehen noch immer auf dem Treppenabsatz, Viola draußen im Sturm, Sergej hinter der Türschwelle.

      Sie lächelt ihn an und sagt: »Gott segne dich, Sergej.«

      Ohne eine Reaktion abzuwarten, zieht die alte Frau ihren Fuß aus der Türöffnung zurück, dreht sich um und steigt die Treppe hinab. Plötzlich ist sie sehr müde. Mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren erscheint unmöglich, aber es muss sein. Um des Mädchens willen, das in ihrem Bett schläft.

      Mühsam schiebt sie das Fahrrad neben sich her, rückt die Körbe zurecht. Sie darf nicht vergessen, die Beeren und Pilze mit in die Wohnung zu nehmen und sie zu waschen, sonst gehen sie kaputt. Sie setzt sich auf das Rad und strampelt langsam davon.

      Fanny Olsson stützt sich in der Biologischen Abteilung des Staatlichen Kriminaltechnischen Labors gegen die Tischplatte und streckt sich. Lange hat sie jedes einzelne Kleidungsstück gedreht und gewendet, um mögliche Spuren zu finden. Das Blut am Kragen stammt wahrscheinlich vom Opfer, vermutet sie. Ansonsten gibt es keine weiteren Anzeichen für Gewalt, keine Risse oder andere Schäden an den Kleidern.

      Als


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