Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


Скачать книгу
kann. »Fürchte dich nicht, Kleines.«

      Tränen steigen in den Augen des Mädchens auf, das süß aussieht, aber sehr schmutzig und mager. Es ist noch ein Kind. Ein Strom russischer Wörter fließt aus seinem Mund, es ist sehr aufgeregt. Von all den Worten versteht Viola nur ein einziges. Es fällt wieder und wieder.

      Sergej. Sergej. Sergej.

      Viola nimmt das Kind in den Arm und wiegt es hin und her.

      »Beruhige dich, beruhige dich.«

      Aber das Mädchen steht auf, es ist unruhig, zeigt mit den Händen, dass jemand – Sergej – hinter ihnen her ist und jeden Moment kommen kann.

      »Wir nehmen mein Fahrrad«, sagt Viola und führt das Mädchen bei der Hand.

      Sie leitet es durch den Preiselbeerwald, an ihren besten Pilz- und Beerenstellen vorbei. Sie versteht, dass Eile geboten ist, auf eine Art und Weise, wie sie sie nie zuvor erlebt hat. Während sie gehen, denkt Viola darüber nach, welchen Weg sie einschlagen könnten, um zu ihrer Wohnung zu gelangen, ohne die Hauptstraße zu passieren.

      Das Fahrrad steht ein Stück weit entfernt an eine Fichte gelehnt, an der Kreuzung zwischen dem breiteren Schotterweg und einem kleineren Waldweg. Einen Moment lang bleiben sie unschlüssig stehen. Sie sind zu zweit, aber es gibt nur ein Fahrrad. Das Mädchen ist es, das eine Lösung findet. Es fährt, während die alte Frau auf dem Gepäckträger sitzt.

      So rollt ein ungewöhnliches Gespann durch den dichten Wald, weg von dem Haus am Moor in Richtung Stadt. Eine magere Jugendliche mit Verletzungen im Gesicht und zerrissenen Jeans tritt mühsam die Pedale des schweren alten Damenrads. Hintendrauf, auf dem Gepäckträger, sitzt eine ältere Dame, die aussieht wie ein kleiner Spatz. Der Hut auf ihren selbst gelegten graublauen Dauerwellen hüpft auf und nieder. Indem sie dem Mädchen vorsichtig einen Klaps auf die eine oder andere Seite gibt, zeigt Viola ihm, wie es fahren soll, als sie sich der Stadt nähern.

      Sie ist wie Großmutter, denkt Irina. Die Heilige Mutter Gottes hat meine Not erkannt und mir einen Engel zur Hilfe geschickt. Eine kleine alte Frau. Sergej wäre ziemlich erstaunt, wenn er das wüsste.

      Sie hat die gleichen Hände wie Großmutter. Hände, die Marmelade einkochen können und Pilze sammeln und den Boden schrubben und Brot backen.

      Wie im Nebel fährt Irina weiter, versucht, keinen Schmerz zu empfinden. Sie bekommt Angst, als sie am Waldrand Häuser auftauchen sieht, aber die kleine Oma auf dem Gepäckträger tätschelt ihr freundlich das unverletzte Bein. Als würde sie verstehen, dass Irina sich fürchtet.

      6

      Der Abteilungsleiter vom Konsum, Lasse, stapelt Tunfischdosen zu zwei symmetrischen Türmen. Die in Öl rechts, die im eigenen Saft links. Er hört es am Eingang läuten und eilt nach vorne, um zu sehen, ob er jemandem behilflich sein kann. Da steht ein maskierter Mann.

      Nun ja, was heißt maskiert. Er hat die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen und trägt ein schwarzes Halstuch vor Mund und Nase.

      »Money. Quick!«, ist alles, was er sagt.

      Lasse will gerade protestieren, als er bemerkt, wie der Mann seine Jacke öffnet und diskret eine Schusswaffe vorzeigt, die er dort versteckt hält. Es ist unmöglich zu erkennen, ob es sich um einen Revolver oder eine Pistole handelt. Stattdessen zeigt Lasse also ein breites Lächeln und sagt »okay, okay«, während er die Tageseinnahmen in die schmutzige Plastiktüte legt, die der Dieb die zweifelhafte Freundlichkeit besaß mitzubringen.

      Erst als der Mann wieder zur Tür hinaus ist, löst Lasse den Alarm aus. Dann setzt er sich auf ein kleines Holzfass, auf das er eigentlich die Lachssoße und die Hofmeistersoße genauso ordentlich stapeln wollte wie den Tunfisch. Aber das muss jetzt warten.

      Rafael und Hedvig haben gerade ein vermisstes Kind wiedergefunden und es bei der besorgten, unruhigen Mutter abgeliefert, die den Sprössling sofort nach allen Regeln der Kunst ausschimpft, als sie über Funk von dem Überfall erfahren. Es ist nur ein paar Straßen weiter, und bevor Hedvig einen Ton sagen kann, hat Rafael den Notruf bereits entgegengenommen und mitgeteilt, dass sie die Sache übernehmen.

      »Wie sollen wir jemals die Zeit finden, das zu tun, weswegen wir hier sind? Das ist doch völlig absurd! Wir sind doch nicht hergekommen, um nach verschwundenen Kindern zu suchen und Supermarktdiebe zu jagen«, sagt Hedvig.

      Rafael nimmt sich schnell Lasses an und notiert die wenigen Angaben, die von Bedeutung sind. Die Täterbeschreibung gibt nicht viel her. Lasse fängt plötzlich an zu weinen, und Rafael fischt ein sauberes Stofftaschentuch aus seiner Uniformjacke und reicht es ihm. Lasse schnäuzt sich geräuschvoll.

      »Ich glaube, ich schließe den Laden für heute«, sagt er.

      Als Rafael und Hedvig sich zum Gehen wenden, treffen sie auf einen erregten älteren Herrn, der behauptet, er habe den Dieb in einem roten Auto unklarer Marke verschwinden sehen.

      »Er ist nach Süden gefahren, zu Gunnar Rantatalos Hof«, ruft der Mann und zeigt beharrlich in die Richtung.

      Sie springen ins Auto, und um dem Zeugen Freude zu machen, schaltet Rafael die Sirene ein und gibt Gas. Sie fahren schweigend. Der Weg aus der Stadt verläuft schnurgerade. Es herrscht fast kein Verkehr.

      »Wir fahren am besten zu Gunnar und drehen dann wieder um«, sagt Rafael mehr zu sich selbst.

      Kein roter Wagen so weit das Auge reicht, obwohl Hedvig in jeden kleinen Waldweg starrt. Der Alte hat sich vielleicht geirrt. Oder das Auto ist in eine andere Richtung gefahren.

      »Da!«, ruft Hedvig.

      Auf einem Rastplatz an einem kleinen See steht ein unordentlich geparkter roter Mercedes. Der Wagen sieht leer aus, und auf gut Glück fährt Rafael weiter.

      »Er hat den Wagen gewechselt!«

      »Wonach suchen wir dann jetzt?«

      Rafael meldet per Funk, dass jemand den roten Benz kontrollieren solle. Vor seinem inneren Auge sieht er bereits Erik und Stickan den Auftrag erhalten. Kein Wunder, dass diese Abteilung auf Sparflamme läuft.

      Als sie bei Gunnars Hof ankommen, tritt Rafael auf die Bremse, und einen Moment lang befürchtet Hedvig, dass er die Pedale durch den Wagenboden treten wird.

      »Wir fragen, ob er etwas gesehen hat«, sagt Rafael bestimmt.

      Im Stall ist außer den Kühen niemand. Sie eilen weiter zum Wohnhaus und hämmern an die Tür. Rafael ruft: »Polizei! Aufmachen!« Das Ganze wirkt ein wenig übertrieben, findet Hedvig. Nach langem Warten öffnet Gunnar die Tür einen Spaltbreit. Die Haare stehen ihm vom Kopf ab. Er blinzelt gegen das Licht.

      »Hallo, entschuldigen Sie die Störung. Es hat einen Überfall auf den Konsum-Supermarkt gegeben, von einem bewaffneten Täter. Wir haben Grund zur Annahme, dass er in diese Richtung hier geflohen ist. Sie haben nicht zufällig etwas gesehen?«, fragt Rafael.

      Gunnar fährt sich durch das Haar und schüttelt langsam den Kopf.

      »Nee, was sollte ich gesehen haben?«

      Er steht im Türspalt und hält die Haustür so geschlossen wie möglich.

      Rafael stellt ein paar weitere Fragen, und Hedvig lässt den Blick über die Hausfassade schweifen, hinüber zum Stall und wieder zurück. Sie meint hinter der Gardine an einem der Fenster im Erdgeschoss ein Gesicht zu sehen. Vermutlich Gunnars Frau, sicher eine, die immer am Fenster steht und heimlich die Leute beobachtet, die kommen und gehen, denkt sie.

      Gunnar ist nicht von Nutzen, hier war kein Räuber. Er verspricht aber, sofort die Polizei zu verständigen, wenn er etwas Verdächtiges bemerkt. Sie danken und kehren zum Streifenwagen zurück.

      »Die Spur ist kalt. Wir haben den Typen verloren. Er kann jetzt genauso gut fünfzig Kilometer weit weg sein«, brummt Rafael.

      »Gunnar hat kaum die Tür geöffnet«, sagt Hedvig.

      »Er hatte wohl Angst, dass es drinnen kalt wird«, meint Rafael. »Strom ist teuer, weiß du.«


Скачать книгу