Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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sind. Selbstverständlich Polizeidirektor Åke Vallgren und Kripochef Mats Julin mit gefüllten Kaffeetassen; das fettige Kopenhagener Gebäck liegt vor ihnen auf Servietten, auf denen Frohe Ostern steht. Sie müssen aus irgendeinem alten Restpostenbestand stammen. Außerdem ist Sofia Blind da, ein Frauenzimmer, das starrsinnig versucht, Sexualverbrechen gegen Kinder aufzudecken, obwohl alle wissen, wie viel sich solche Gören zusammenreimen und ausdenken können. Der Kriminaltechniker Rolf Blom und sogar der Staatsanwalt Sture Holmlund sind anwesend. Letzterer muss extra eingeladen worden sein. Stickan nimmt neben Erik Platz, der so diskret wie möglich hustet. Stickan wirft einen Blick unter den Tisch, und tatsächlich liegt dort einer von Åkes Elchhunden. Es sieht aus, als würde Erik weinen, aber er ist nur extrem allergisch gegen Hundehaare. Dennoch will er sich nicht mit dem Chef überwerfen, der immer einen seiner Jagdhunde mit zur Arbeit bringt.

      »Hatschi«, niest Erik und schnäuzt sich in eine der Osterservietten.

      »Jetzt kommen sie«, ruft Sonja vom Flur aus, und kurz darauf wird der Türrahmen vom größten Menschen, den Stickan je gesehen hat, verdunkelt.

      Er muss sich geradezu bücken, um durch die Tür zu kommen. Teufel noch einmal. Stickan erstarrt.

      Vor seinen Augen, an seinem Arbeitsplatz, offenbart sich der Chef der Unterwelt in Eigenschaft eines übergeordneten und unabhängigen Polizisten aus Stockholm. Das ist nicht zu fassen! Das kann nicht die richtige Person sein. Ein Mann, der aussieht wie dieser Kanake, kann vielleicht Zigaretten oder Waffen schmuggeln. Aber nicht der lange Arm des Gesetzes sein. Und hat er sich seine Uniform aus irgendeinem alten Vorhangstoff selbst genäht? So große Uniformen gibt es doch gar nicht, denkt Stickan, während er gleichzeitig überlegt, wie er den Bericht löschen kann, den er selbst so eifrig am Abend zuvor in einer Überstunde niedergeschrieben hat.

      Hinter dem Leuchtturm folgt das Anhängsel. Diese Bazille, das Mädchen, das in der Kneipe dabei war, ist es überhaupt volljährig? Und hat es seine Uniform auch selbst zusammengeschustert? Aus einem Taschentuch? Oder vielleicht zweien?

      Die beiden Neuankömmlinge sehen sich im Raum um, nicken kurz und setzen sich dann auf die ihnen zugewiesenen Plätze. Sonja stolziert um sie herum, schenkt Kaffee ein und drängt ihnen Gebäck auf. Aber der Riese sagt: »Nein danke, ich bin Veganer.«

      »Aber in Kopenhagener Gebäck ist doch kein Fleisch«, ruft Sonja erschrocken aus, beinahe als habe er sie geschlagen.

      »Ich bin sehr orthodox, wissen Sie, und Fett ist oft tierischer Herkunft. Ich möchte kein Risiko eingehen. Außerdem brauche ich nicht mehr zu wachsen.«

      Niemand sagt etwas. Die Frau neben ihm verdreht ein wenig die Augen, es sieht fast so aus, als sei sie entrüstet. Verdammt, Rafael, denkt Hedvig. Mach es nicht schlimmer, als es ist. Gestern noch hast du ein blutiges Beefsteak gegessen. Sie finden uns ohnehin schon seltsam.

      Sonja versorgt sich mit einer Tasse Kaffee und dem größten Gebäckstück, das noch übrig ist. Sie war es, die auf das Brotkörbchen mit blauer und gelber Acrylfarbe, die sie im Konsum erstanden hatte, das Emblem der Polizei gemalt hat. Die kleine, neu eingetroffene Frau schiebt Sonja einen Stuhl zu, die errötend sagt: »Oh, nein, ich bleibe nicht, ich sitze nur in der Telefonzentrale. Außerdem verbrennt man mehr Fett, wenn man im Stehen isst. Das habe ich in der Zeitung gelesen.«

      Dann klappert sie den Flur entlang davon.

      Åke schließt hinter ihr die Tür und unterbricht dann die leicht angestrengte Stille.

      »Im Namen der Polizeibehörde heiße ich unsere Kollegen aus dem Süden hier willkommen. Wir wissen alle, warum Sie da sind, aber über den Grund haben wir unterschiedliche Auffassungen. Ich habe zu diesem kleinen Treffen eingeladen, damit Sie die Gelegenheit haben, so viele wie möglich von uns kennen zu lernen, und damit wir unsere Sicht auf die Dinge schildern können. Willkommen, Hedvig Ek und Gabriel ...«

      »Rafael«, sagt Rafael.

      »Ja, Rafael, wie auch immer man Ihren Nachnamen ausspricht.«

      »Flores Alba«, sagt Rafael.

      »Ja, hm, Alba«, wiederholt Åke.

      »Flores Alba.«

      »Genau, willkommen hier bei uns.«

      Dann beginnt Åke mit einer Erläuterung, der die beiden Neuankömmlinge ganz und gar zustimmen. Sie handelt davon, dass Geldmangel herrscht, zu wenig Polizisten für einen geografisch extrem großen Bezirk zuständig sind und es zu viele Krankschreibungen gibt. So weit sind alle einer Meinung. Aber hinsichtlich der Prioritätenliste weichen die Ansichten voneinander ab.

      »Wir setzen das schwere internationale Verbrechen an erste Stelle, wissen Sie«, sagt Åke und schiebt sich seine Lesebrille in die Stirn.

      »Grenzüberschreitender Frauenhandel ist ein schweres internationales Verbrechen«, sagt die Frau aus Stockholm.

      Der Polizeichef ergreift wieder das Wort. »Das Gesetz macht sehr hohe Auflagen, wenn es um solchen Sexhandel geht. Wir müssen die Täter im Prinzip in flagranti ertappen, wenn es zu einer Anklage kommen soll. Die Strafe beträgt zudem nicht mehr als sechs Monate oder ein Bußgeld, wie Sie wissen, deswegen konzentrieren wir uns stattdessen auf Drogen- und Waffenkriminalität«, sagt Åke.

      »Die Höchststrafe für Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution beträgt zehn Jahre Haft. Ist das hart genug?«, fragt Hedvig, und ihr ist klar, dass sie bereits gehasst wird.

      »Es ist ein unerhört schwieriges Unterfangen, so ein Verbrechen zu beweisen. Geben Sie uns alle Polizeikräfte zurück, die wir in den letzten zehn Jahren eingebüßt haben, vielleicht können wir dann ein paar Ermittler ausschicken. Außerdem ist es doch so, dass die Frauen, von denen wir jetzt sprechen, nicht mit der Polizei zusammenarbeiten wollen. Sie tun das hier doch, weil sie es wollen, sie wollen Geld mit ihrem Körper verdienen«, sagt Åke.

      »Wie viele Prostituierte haben Sie im letzten Jahr verhört?«

      Diese verdammte Tussi ist schonungslos.

      Stille.

      »Hm«, sagt Åke schließlich.

      »Wie viele?«

      »Keine.«

      Er sagt es leise und äußerst widerstrebend.

      »Woher wissen Sie dann, dass sie nicht aussagen wollen?«

      Erneutes Schweigen.

      Der Riese holt tief Luft und spricht dann zu ihnen, ganz ohne Akzent. Bei dem Namen hätte man denken können, dass er einen Dolmetscher braucht.

      »Über ein Jahr lang haben Sie keine einzige Untersuchung wegen des Verdachts auf Prostitution oder eines Verstoßes gegen das Gesetz zur Bekämpfung von Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution eingeleitet. Obwohl wir über Informationen verfügen, die darauf hindeuten, dass der Frauenhandel an der finnischen Grenze besonders floriert. Russische Frauen werden über die Grenze nach Schweden zu schwedischen Männern gebracht, die für Sex bezahlen. Dass es nicht zur Anklage gekommen ist, ist vielleicht eine Sache, aber wie erklären Sie, dass Sie keine verdächtigen Fälle und konkreten Tipps untersuchen?«

      »Nun ist die Sache ja nicht so einfach, wie Sie versuchen, sie darzustellen. Wenn es um Angaben sexueller Naturgeht, lügen die Menschen deutlich mehr als sonst. Man möchte sich interessant machen und prahlen. Es gibt so viele Gerüchte. Nicht zuletzt vom hiesigen Frauenhaus«, sagt der Polizeichef.

      Hier macht Åke eine Pause, bevor er fortfährt: »Viele haben etwas gehört oder glauben, etwas zu wissen, aber die wenigsten wissen etwas Konkretes. Nur weil Frauen aus einem bestimmten Land zusammen in einer Wohnung wohnen, heißt das noch nicht, dass sie Prostituierte sind; nur weil sie an irgendeiner Tankstelle in einen Wagen mit schwedischem Nummernschild steigen, bedeutet es nicht, dass sie dabei sind, sich zu verkaufen. Sie müssen auch daran denken, was das bei all den netten und gesetzestreuen Frauen aus Russland bewirkt, die hier wohnen. Sie fühlen sich durch all diese Gerüchte gebrandmarkt! Diejenigen, die nichts getan haben. Es ist schlimm, dass sie so bestraft werden sollen«, sagt Åke und lehnt sich über den Konferenztisch.

      »Ich


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