Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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du noch einen, Ek?«, fragt Rafael.

      Sie zögert.

      »Komm schon! Mehr als zwei kriegst du ohnehin nicht runter, also kannst du mir wenigstens so lange Gesellschaft leisten. Ich kann dich anschließend nach Hause tragen«, sagt Rafael.

      Wenn er keinen so freundlichen Ton gehabt hätte, hätte sie ihn vermutlich verprügelt.

      Wieder in der Hütte, rollt Rafael nach einem notdürftigen Duschbad unter lauwarmem Wasser, das von den alten Rohren zum hauseigenen Brunnen voller Rostablagerungen ist, seine extra lange, spezialangefertigte Schlafmatte aus. Er genießt die erfrischende Kühle. Dann stellt er die beiden zusätzlichen Elektroheizungen auf, die sie gekauft haben, und dreht sie voll auf. Mit einem Verlängerungskabel bringt er den kleinen Fernseher mit eingebautem Videorecorder, den er mitgebracht hat, zum Laufen. Hedvig bekommt unter der Dusche Kälteschauer und zittert bei dem Gedanken an all die ungefrorene Kälte, die in der nächsten Zeit noch vor ihr liegt. Sie zieht zwei Pullover übereinander an und wird in Rafaels Lager eingeladen. Gemeinsam sitzen sie vor den Heizkörpern, und Hedvig fühlt sich wie ein Stück Fleisch über einem offenen Feuer, warm am Bauch und eiskalt im Rücken. Es riecht nicht so stark nach Farbe, wie man hätte annehmen können.

      Rafael kramt eine Flasche hervor, auf der »Gancia« steht, und aus blumigen Kaffeetassen trinken sie die gelbliche Flüssigkeit, die sich darin befindet. Sie schmeckt ein bisschen wie Wermut.

      »Eigentlich muss es draußen warm sein, wenn man das hier trinkt«, sagt Rafael und legt sich die Decke um.

      Hedvigs Daunensocken wärmen gut, und alles wirkt gleich behaglicher. Erschöpft sehen sie einen amerikanischen Thriller an, den Rafael mitgebracht hat. Der Film handelt von einer hochschwangeren Polizistin in einem Schneesturm und einem schwedischen Psychopathen als Schurke, der seine Opfer mit der Kettensäge zermahlt. Als der Film zu Ende ist, geht Hedvig in ihr Zimmer hinauf und macht ihr Bett.

      So müde sie auch ist, fällt es ihr schwer einzuschlafen, wie immer in der ersten Nacht an einem fremden Ort. Sie liegt da und wirft sich hin und her. Zieht die Daunensocken aus. Zieht sie wieder an. Seufzt. Schläft schließlich ein. Schläft unruhig. Wacht auf und lauscht der Stille. Sucht nach der kleinen blauen Schachtel und stellt sie neben das Bett. Hört Rafael husten. Dreht sich auf die andere Seite und schläft wieder ein. Sie ist nicht allein.

      Stig Rönnlund, genannt Stickan, eilt aus der Bar. Er geht dabei so nahe an den Objekten vorbei, wie es möglich ist, ohne dass sie seine Beobachtung bemerken. Das Herz klopft ihm bis zum Hals. Ihm ist ein Durchbruch gelungen! Er hat mit größter Wahrscheinlichkeit gerade einen neu eingetroffenen Zweig der Unterwelt entdeckt. Er lacht in sich hinein, als er die wenigen Schritte über den Platz läuft und die Stufen zum Polizeigebäude hinaufspringt. Innerlich hört er schon die Lobeshymnen. Åke wird dafür sorgen, dass er in der Hierarchie aufsteigt. Und das auch noch in seiner Freizeit; man stelle sich vor, dass man sogar aufmerksam sein muss, wenn man nicht im Dienst ist. »Aufgeweckt«, wird Åke sagen. Vor allen anderen, bei der Dienstbesprechung.

      Im Foyer ist es dunkel. Sonja ist schon lange nach Hause gegangen. Stickan zieht seine Schlüsselkarte hervor, als wäre sie seine Dienstwaffe, und tippt den Kode ein, bevor die Tür sich öffnet. Er ist zu ungeduldig, um auf den Aufzug zu warten, und rennt stattdessen in drei Sprüngen die Treppe hinauf. Sein Puls ist noch immer erhöht.

      In seinem Zimmer brennt Licht. Streng genommen ist es eigentlich nicht seines, sondern das Büro desjenigen, der gerade Dienst hat. Aber Stickan betrachtet das Zimmer als sein eigenes. Im Grunde genommen könnte »Stig Rönnlund« an der Tür stehen, auch wenn das tatsächlich nicht der Fall ist. Sein Kollege Erik Bergström sitzt nun an einem der beiden Computer und surft im Internet. Stickan nickt ihm kurz zu und schaltet den anderen Computer ein. Er steckt seine Karte hinein, um an die Register zu kommen, die er benötigt.

      »Hast du kein Zuhause?«, murrt er und starrt Erik über den Bildschirm hinweg an.

      Erik schaut zurück, unberührt. Eines Tages wird Erik Stickan dorthin befördern, wo er hingehört. In die Diebesgutausgabe.

      »Ich habe eine Beobachtung gemacht«, sagt Stickan.

      Eigentlich will er nicht mehr erzählen. Es besteht die Gefahr, dass Erik seinen Tipp herunterspielt und versucht, auf irgendeine Weise seinen Ruhm einzuheimsen.

      »Aha. Was denn?«

      Wieder diese Augen über dem Bildschirm. Besorg dir ein eigenes Leben, Erik. Und besorg dir einen eigenen Computer, so wie alle anderen in diesem Laden. Aber das sagt er natürlich nicht.

      »Unten im Pub sitzt ein verdammt zwielichtiger Typ. Mindestens zwei Meter groß. Irgendein Kanake. Gut frisiert. Teuer gekleidet. Drei Kilo Gold um den Hals. Lederjacke. Ja, du weißt schon, wie diese Typen aussehen.«

      Plötzlich klingt seine Beobachtung nicht mehr so messerscharf, wie er sie sich in seinem Kopf zurechtgelegt hat.

      »Aha?«

      »Die Mafia, natürlich.«

      »Mafia?«

      »Ja, die Unterwelt. Das international organisierte Verbrechen. Vermutlich ein neu eingetroffener Drogenkurier, vielleicht für Zigaretten oder Wodka oder noch härtere Sachen. Oder Waffen. Atomwaffen. Heutzutage fließt hier schließlich viel Scheiße aus dem Osten und dem Norden durch.«

      »Ist das so?«

      Erik starrt ihn an, bis es ihm beinahe unbehaglich wird. Stickan tut so, als habe er die Frage nicht gehört.

      »Er hatte auch eine kleine Donna dabei. Abstinenzlerin oder schwanger, sie hat irgendein alkoholfreies Gesöff getrunken. Verdammt dubios war das.«

      Erik nickt langsam.

      »Ich schreibe einen Bericht, wir müssen dann mal sehen, wann wir mit der Beschattung anfangen können«, sagt Stickan bestimmt und öffnet ein neues Dokument. Langsam, Zeigefinger für Zeigefinger, tippt er ein, was er beobachtet hat. Das dauert.

      Erik sitzt noch immer da, als er geht.

      »Vergiss nicht, dass morgen ›Lustige Truppe‹ ist«, sagt Stickan, bevor er die Tür zum Flur hinter sich schließt.

      3

      Montagmorgen. Ein herrlich klarer Tag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Kurz nach acht, als die Polizeiwache öffnet, kommt eine alte Frau auf einem riesigen Damenrad, das mindestens so altersschwach ist wie sie. Sie fährt mit erstaunlicher Geschmeidigkeit, bevor sie bremst und absteigt. Dann stellt sie das Rad im Fahrradständer neben einem Blumenkübel mit verwelkten Tagetes ab. Am Lenker hängen zwei Bastkörbe, die dunkle Beerenflecken aufweisen. So früh am Tag sind sie noch leer.

      Viola Uusitalos knochige Hände streichen schnell über den blumigen Baumwollhut, den sie auf ihre grauen Locken gedrückt hat. Sie nimmt die leeren Körbe und betritt mit entschlossenem Schritt den Eingangsbereich. Dort sitzt Tore Östers Tochter Sonja an der Information und strickt Babysöckchen aus gelber Angorawolle.

      »Guten Morgen«, sagt Viola. »Ist es wieder so weit?«

      »Ja, jetzt kommt bald Enkelkind Nummer fünf«, sagt Sonja und strahlt über das ganze Gesicht. »Aber wir wissen noch nicht, was es wird, deshalb halte ich mich an Gelb und Grün, dann sind wir auf der sicheren Seite.«

      »Ich komme ja normalerweise nicht ständig hierher gelaufen. Aber jetzt möchte ich doch etwas anzeigen, nämlich eine, ja wie soll ich es nennen, eine mysteriöse Entdeckung könnte man wohl sagen. Hast du vielleicht einen guten Polizisten an der Hand, mit dem ich reden könnte?«

      »Worum geht es?«

      Sonja beugt sich neugierig vor, aber so einfach funktioniert es nicht. Viola räuspert sich.

      »Nun ja, ich muss mit einem Polizisten sprechen.«

      Sonja versteht den Wink. Sie wirft den Kopf zurück, genauso wie als Teenager, dann sagt sie »einen Moment« und schaut mit wichtiger Mine auf ihre Telefonschaltzentrale. Dass sie all diese Knöpfe auseinander halten kann, denkt Viola.

      Gütiger


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