Verschleppt. Christina Wahldén

Verschleppt - Christina Wahldén


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Weightwatcher-Imbiss, den sie zuvor acht Minuten in der Mikrowelle aufgewärmt hat, von dem Besuch bei Gunnar. Währenddessen schaufelt Stickan einen Berg Kohlrouladen in sich hinein, die seine Mutter gemacht hat, sowie einen See an selbst eingekochter Preiselbeermarmelade und starrt Hedvig ausdruckslos an.

      »Ich glaube, ich habe eine Frau im Haus gesehen. Die Gardine hat sich bewegt«, sagt sie.

      »Aha«, erwidert Stickan.

      »Ist Gunnar verheiratet?«

      »Nein, ist er nicht. Nie gewesen. Er ist ein eingefleischter Junggeselle.«

      Stickans Handy klingelt, und Hedvig steht auf, um die Plastikschale wegzuwerfen, in der ihr Essen war. Dann holt sie sich eine Tasse Kaffee und macht sich auf die Suche nach Rafael.

      Viola und Irina stellen das Rad im Fahrradständer neben dem Mehrfamilienhaus am Stadtrand ab, in dem die alte Frau wohnt. Gott sei Dank sind sie bisher keiner Menschenseele begegnet. Aber im Treppenhaus treffen sie auf einen Nachbarn, einen jungen Mann, der auf dem Weg nach draußen ist und beim Anblick von Irinas zerschundenem Gesicht zusammenzuckt.

      »Was ist passiert?«, fragt er.

      Irina wendet den Kopf ab und schließt instinktiv die Augen.

      »Ein Unfall. Ich sorge dafür, dass sie Hilfe bekommt«, sagt Viola bestimmt und schiebt das junge Mädchen weiter.

      Der Mann eilt aus dem Haus. Er wirkt bestürzt.

      Viola sucht eine Weile in ihrem grünen Rucksack nach dem Wohnungsschlüssel. Schließlich findet sie ihn und führt Irina behutsam in ihre kleine Zweizimmerwohnung mit Balkon. Sorgsam verschließt sie hinter sich die Tür. Normalerweise zieht sie immer als Erstes die Schuhe aus, wenn sie hineinkommt, aber heute nicht.

      Viola hat es mit eigenen Augen gesehen, aber den ganzen Rückweg über hat sie darüber nachgegrübelt, was es wohl bedeutet. Was ist das für ein Haus am Moor? Was geschieht dort? Was ist so furchtbar, dass man ein Fenster zerschlagen und hinausspringen muss, obwohl man dabei riskiert, von zwei lebensgefährlichen Wachhunden in Stücke gerissen zu werden? Wer hat das junge Mädchen so übel zugerichtet?

      Viola sieht Irina nachdenklich an. Das Mädchen seinerseits schaut sich in der Wohnung um. Es hat das Bild über Violas Sofa entdeckt, eine alte Lithographie, die einen mild blickenden Christus mit ausgestreckten Armen darstellt, umgeben von einem seltsamen Strahlen. Das Mädchen fällt zwischen Klavier und Wohnzimmertisch auf die Knie. Es spricht in seiner Sprache ein Gebet. Tränen fließen ihm über das Gesicht.

      Viola ist gewiss eine alte Frau, aber ihre Kenntnisse als Kreiskrankenschwester sitzen tief. Atmung, Blutung, Schock, geht ihr routinemäßig durch den Kopf. Sie hilft dem Mädchen behutsam auf und führt es ins Badezimmer. Setzt es auf die Klobrille, streichelt ihm über die Wange und spricht zu ihm wie zu einem kleinen Kind.

      »Ist gut, ist gut, beruhige dich! Jetzt wirst du sehen, dass alles wieder gut wird. Ich bin da, dir kann nichts mehr geschehen. Ich helfe dir.«

      Viola schält das Mädchen vorsichtig aus einer Schicht schmutziger Kleider, die sie in den Wäschekorb legt. Der Pullover des Mädchens ist von der Verletzung im Gesicht blutverschmiert und die Jeans zerrissen. Eine hässliche, frische Wunde klafft auf einem Schenkel, wahrscheinlich stammt sie von dem Stacheldraht. Vielleicht sollte das Kind besser in ein Krankenhaus und genäht werden, überlegt Viola. Aber zuerst spreche ich mit Sergej. Und zuallererst muss das Mädchen notdürftig verarztet werden. Viola reinigt und verbindet vorsichtig die Wunde. Auf dieselbe Weise verfährt sie mit der älteren Verletzung im Gesicht. Es muss unerhört wehtun, aber das arme Mädchen gibt keinen Ton von sich. Vielleicht sollte es zu einem Zahnarzt gehen, es ist schwer zu beurteilen, ob nicht auch der Kiefer verletzt wurde. Viola hilft dem Mädchen, sich mit weichen Waschlappen zu säubern. Gemeinsam waschen sie die verschwitzten, glanzlosen Haare. Mit Magnolienschampoo für feines und sprödes Haar. Das Mädchen genießt es trotz der Schmerzen.

      Viola wickelt es in ein großes Badetuch und holt ein sauberes Nachthemd, das sie dem Mädchen, das sich deutlich beruhigt zu haben scheint, vorsichtig über den Kopf zieht. Sie führt es in die Küche, bedeutet ihm, auf der Bank Platz zu nehmen, und öffnet den Kühlschrank. Nichts ist so beruhigend wie etwas zu essen. Viola setzt Teewasser auf und holt Brot, Käse und ein wenig selbst gemachte Marmelade hervor. Als sie die Lampe einschaltet, die auf dem Küchentisch steht, beginnt das Mädchen wieder zu weinen.

      »Iss jetzt«, sagt Viola, obwohl sie weiß, dass das Mädchen sie nicht versteht.

      Aber die Bedeutung ist universal. Das Mädchen isst. Schnäuzt sich und isst. Dann bricht es in eine lange, wortreiche Tirade aus. Viola glaubt den Inhalt zu verstehen.

      »Jaja, es geht in Ordnung. Du brauchst mir nicht zu danken, Kleines. Iss jetzt.«

      Als sich die Wohnungstür hinter ihnen schließt, wagt Irina aufzuatmen. Hier fühlt sie sich sicher. Mit großen Augen blickt sie sich in der kleinen, ordentlichen Wohnung um. Die Möbel sind aus dunklem Holz und haben gepolsterte Kissen. Überall sind kleine Deckchen, getrocknete Blumen und Kerzenleuchter. Ein schwarzes Klavier steht neben der Balkontür, und an der Wand hängt ein Christus-Bild.

      Da begreift sie endlich, dass sie nichts zu befürchten hat, dass sie gerettet ist, dass die Macht des Gebets sie aus der Finsternis geführt hat.

      Sie fällt auf die Knie und sagt all die Gebete auf, die ihre Großmutter sie gelehrt hat. Sie hat geradezu das Gefühl, wieder bei ihrer Großmutter zu sein, wieder zu Hause. Aber dann erkennt sie, dass es nicht so ist. Dies hier ist lediglich eine andere alte Frau, eine, die ihre Großmutter hätte sein können. Eine barmherzige Samariterin, die sie gerettet hat.

      Nun ist sie so müde. Es pocht in der Wunde. Die alte Frau gibt ihr zwei weiße Tabletten, die Irina zunächst nicht nehmen will. Die Alte ist sehr bestimmt und streicht ihr über die Wange. Ihre Augen blicken ernst. Sie nimmt Irinas Hand und berührt leicht die Verletzung im Gesicht und den verbundenen Schenkel. Dann zeigt sie erneut auf die Tabletten. Irina gibt nach und genießt es, das zu tun. Sie braucht nicht länger trotzig zu sein, sie braucht nicht mehr um ihr Leben zu fürchten. Sie ist in Sicherheit. Jetzt wird alles wieder gut.

      Die alte Frau führt sie in den hinteren Raum der Wohnung. Es ist ihr Schlafzimmer, und außer einem Bett befindet sich dort noch ein großer Sessel vor einem alten Fernsehapparat. Die Frau zieht die gehäkelte weiße Tagesdecke weg, in die kleine runde Knospen aus Baumwollgarn eingearbeitet sind. Dann bezieht sie das Bett frisch, mit gestärkten und bestickten Laken, von denen das obere, das um die blumige Decke geschlagen wird, mit Spitze und einem weiß gestickten Monogramm versehen ist. Irina sieht das Kreuz über dem Bett und fällt wieder auf die Knie. Dieses Mal kniet die Großmutter auch. Sie beten, jede in der eigenen Sprache:

      »Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name.«

      Das Mädchen ist eingeschlafen, sowie es den Kopf auf das Kissen gelegt hat. Viola bleibt neben ihm stehen und betrachtet es. Was führte es hierher in mein Bett? Was hat es erlebt? Das liebe Kind. Es wimmert im Schlaf. Viola streicht ihm langsam über das feuchte Haar. Sie lässt eine kleine Lampe im Fenster brennen und schließt die Schlafzimmertür. Sie nimmt das alte Bettzeug mit, legt es in den Wäschekorb und geht in die Küche, um abzuspülen. Währenddessen versucht sie so scharf wie möglich nachzudenken. Viola Uusitalo begreift, dass sie es mit dem Teufel selbst zu tun hat.

      Als die letzte Tasse auf dem Abtropfgestell landet, hat Viola zu Ende gedacht. Sie tut zwei Dinge. Nach kurzem Herumhantieren öffnet sie in dem alten Sekretär im Wohnzimmer ein Geheimfach, das sich über der Schublade mit dem Tafelsilber befindet. Sie zieht einen zerknitterten Umschlag hervor. Wie viele ältere Menschen hat Viola das Vertrauen in die Banken verloren und bewahrt deshalb eine größere Geldsumme bei sich zu Hause auf, wo sie das Gefühl hat, es besser unter Kontrolle zu haben.

      Das hier könnte gefährlich werden, denkt sie. Wenn mir etwas passieren sollte, was vielleicht gar nicht der Fall sein wird, aber wenn, dann will ich diesem Mädchen die Möglichkeit geben, auf eigene Faust nach Hause zu kommen. Zuerst zählt Viola tausend Kronen ab. Dann überlegt sie einen Moment und legt viertausend dazu. Geld hat im Grunde genommen aufgehört, irgendetwas


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