Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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Woher kommst du, Hirka?«

      »Woher kommst du

      Sein Blick glitt über sie, als suche er etwas, woran er sich heften konnte. Etwas, das ihm helfen konnte, sich zu entscheiden, ob er antworten sollte oder nicht.

      »Mein Vater war Schwede, meine Mutter war Italienerin. Zu Hause kann man an tausend verschiedenen Orten sein, solange es dort Hotels und Bekannte gibt. Das letzte halbe Jahr habe ich in etwa zehn Ländern in Europa gewohnt. Aber das sagt dir nichts, oder?«

      »Mein Vater war aus Ulvheim, meine Mutter kenne ich nicht. Bevor ich zehn war, hatte ich das meiste von Ymsland von einem Wagen aus gesehen, und ich bin zu Fuß durch Blindból gelaufen. Aber das sagt dir bestimmt auch nichts.«

      Stefan lachte und massierte sich den Nacken. Er war ein erwachsener Mann, hatte aber trotzdem etwas Verlorenes. Hirka grinste kurz und merkte, dass sie schon lange nicht mehr richtig gelächelt hatte. Der Raum fühlte sich gleich wärmer an. Sie wusste nicht, woran das lag, doch sie konnte plötzlich die Schultern etwas entspannen. Steckte so viel Kraft darin, jemandem seinen Namen zu nennen? Vielleicht war es ihr gelungen, das Eis so weit zu brechen, um wegzukommen. Zurück zu dem Blinden.

       Und was wollte sie dort machen? Rumsitzen, bis noch mehr Männer kamen?

      »Was ist mit deiner Lippe passiert?« Hirka zeigte auf ihre eigene Lippe, für den Fall, dass sie die falschen Wörter verwendet hatte.

      »Ich bin so geboren. Und es ist nicht schön, wenn man da hinstarrt.«

      »Ich finde es schön«, sagte Hirka. »Ja, also nicht hinstarren. Aber deinen Mund.«

      Stefan lachte und drückte wieder auf seinem Telefon herum. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe: Du bist gerade einem Kidnappingversuch durch ein paar Kranke entkommen. Du hast keine Ahnung, wer die waren oder was die von dir wollten. Jeder Cop in York schiebt Überstunden, um uns zu finden. Ein fremder, bewaffneter Mann sitzt einen Meter von dir weg. Und du redest über meinen Mund?«

      Hirka zuckte die Achseln und starrte zu Boden. »Ich habe nichts Falsches gemacht. Ich weiß nicht, warum das so gekommen ist.«

      Stefan legte das Telefon wieder aus der Hand und stand auf. Sie sah, dass er um den Hals eine Kette trug. Die verschwand unter dem Pullover.

      »Kanntest du mal jemanden, der richtig krank war, Hirka?«

      Hirka unterdrückte ein Lächeln. Sie bezweifelte, dass Stefan genauso viele Kranke gesehen hatte wie sie, doch sie antwortete nicht.

      »Ich meine richtig krank, Hirka. Jemand, der weiß, dass er bald sterben muss? Stell dir vor, du siehst eine todgeweihte Person ein Jahr später quicklebendig wieder. Und drei Jahre später. Und dreißig Jahre später.« Er schaute Hirka an. »Und nicht nur am Leben, sondern auch keinen Tag älter. Was würdest du dann denken?« Er zündete sich eine neue Zigarette an, machte aber nicht den Eindruck, als würde er sie genießen.

      »Ich kann dir sagen, wer die waren, Hirka. Einer davon war ein gedungener Gewohnheitsverbrecher, vor dem nun niemand mehr Angst haben muss. Bei dem anderen bin ich mir nicht sicher, aber das wird sich noch herausstellen. Der Dritte …« Er sah Hirka fast flehend an, als hätte sie ihn zum Reden gezwungen. »Er war früher auch einmal ein Mann. Bevor er ein Raubtier wurde. Ein Blutsklave. Krank.«

       Isac.

      Hirka brauchte nicht zu fragen. Es gab keinen Zweifel, wen er meinte.

      »Er hatte sich mit etwas angesteckt. Etwas, das sich über Generationen verbreitet hat. Die Bescheid wissen, halten die Klappe, denn das ist eins dieser Dinge, von denen wir nichts wissen sollen, verstehst du? Man macht das, was man kann, oder? Ich jage sie, schon seitdem ich ein Teenager war.«

      Er lief jetzt im Zimmer auf und ab. Hob Gegenstände an und stellte sie wieder hin. Suchte nach Worten. »Sie nennen sich Vardar. Ich habe sie bis hierher verfolgt und sie verfolgen dich. Zuerst dachte ich, du gehörst zu ihnen, aber du bist gesund, oder? Und trotzdem sind sie hinter dir her. Ich kapiere nur nicht, warum.«

      Er redete zu schnell und benutzte zu viele neue Wörter, als dass sie alles verstand.

      »Was ist ein Blutsklave?«, fragte sie.

      Er blieb stehen und schaute sie wieder an. »Einer, der schon längst hätte tot sein müssen, aber immer noch lebt, weil jemand das so will.«

      »Wer will das so?«

      »Das rauszufinden versuche ich schon mein ganzes Leben. Würde ich die Quelle kennen, dann würde ich hier nicht meine Zeit vergeuden. Ich weiß nur eins mit Sicherheit, nämlich dass er kein Mensch ist.« Stefan setzte sich wieder hin. »Und es macht mir Sorgen, dass du jetzt nicht lachst oder mich anguckst, als wäre ich aus einer Anstalt getürmt. Was sagt das eigentlich über dich aus? Dass du keine Angst vor dem Unmenschlichen hast?«

      Sie konnte ein Lachen nicht zurückhalten. Er schaute sie forschend an. Es war schwierig, in Worte zu fassen, wie sehr alles auf den Kopf gestellt war, aber sie gab sich Mühe. »Ich bin es gewohnt, Menschen zu fürchten. Kein Mensch zu sein, ist sehr gut da, wo ich herkomme. Glaub mir.«

      Er betrachtete sie genau. »Und wenn das stimmt, was du sagst … Warum hast du das niemandem erzählt?«

      Sie schloss die Augen. Er hatte wirklich leicht reden. Er war einer von den Glücklichen, die nie erklären mussten, wer oder was sie waren. Hirka wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.

      »Weißt du, ich dachte, ich käme nach Hause. Ich dachte, sobald ich hier bin, würden alle sehen, dass ich so bin wie ihr. Ein Odinskind. Ihr würdet mich mit offenen Armen empfangen. Das dachte ich.«

      Hirka wusste, dass sie den Mund halten sollte, aber die Worte hatten einen Funken entzündet. Sie brannte. Sie musste reden. Musste ihm begreiflich machen, was alles mit dieser Welt nicht stimmte. Wie schlecht sie schien.

      »Zuerst, als ich hier ankam, begriff ich nichts! Ich lief. Ich lief am Tag und in der Nacht. Das Wasser war sauer, aber ich habe es trotzdem getrunken. Und obwohl die Bäume verwelkt waren, habe ich mich gefreut, sie zu sehen. Weil ich weiß, was Bäume sind, sie sind etwas Vertrautes. Etwas Echtes. Und dann sah ich diese …« Sie war jetzt gestresst und vergaß die Worte. »Autos! Und die rasten und ich … Am Anfang versteckte ich mich. In toten Wäldern ohne Tiere. Da gab es nichts zum Leben. Darum habe ich mich an die Straße gestellt und gewunken, aber niemand hielt an. Dann warf ich einen Stein. Und dann hielt einer an. Er kam raus und ich war froh, weil er mich gesehen hatte. Weil ihr jetzt wusstet, dass ich hier war. Ich dachte, er würde mich in eine Stadt bringen. Irgendwohin, wo ich wohnen konnte. An einen Ort wie Ravnhov. Und dass ich dort dann Tee trinken und abends Geschichten aus Ymsland erzählen würde und …«

      Hirka stand auf. »Aber er schüttelte mich. Schrie, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Da biss ich ihn in den Arm und lief weg. Danach traf ich andere und ich versuchte zu erklären, zu sagen, dass ich durch Stein gekommen war, aber sie verstanden nicht, was ich sagte. Dann fing ich an, auf Dinge zu zeigen und zu fragen, wie sie hießen. Aber es war schwierig. Ich … ich habe Essen gestohlen.« Sie schluckte.

      »Pater Brody war der Erste, der mir zuhören wollte. Ich sah all die Menschen, die zu ihm hineingingen, und ich dachte, da wäre so was wie ein großer Sehersaal. Ich folgte den anderen. Ich legte mich auf einen … Stuhl. Wie heißt das noch? … Auf eine Bank. Und Pater Brody hat mich nicht weggejagt. Ich durfte bleiben. Er fragte mich jeden Tag immer dasselbe, bis ich zu verstehen anfing. Er kannte viele und ich erzählte, wer ich war, und weißt du, was? Das spielte für sie keine Rolle! Sie sagten, ich würde nicht begreifen, was ich da redete. Dass ich mir das ausdachte. Einige guckten mich an, als wäre ich mit dem Kopf auf einen Stein gefallen. Eine alte Frau hat mir das ins Gesicht gesagt. Über andere Welten spricht man nicht, sagte sie.« Hirka hatte immer schneller gesprochen und jetzt musste sie Luft holen. »Ich bin nicht dumm. Und ich bin nicht verrückt. Also: Ja, ich habe Leuten erzählt, wer ich bin. Hast du noch mehr gute Ratschläge?«

      Sie nahm ihren Beutel. »Außerdem ist es egal, was ich


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