Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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Nahrhafteres als das?«

      Langsam dämmerte ihr, dass ihr weder Dank noch Lob winkten. Nicht, dass sie dergleichen erwartet hätte. Sie hatte nicht einmal damit gerechnet, sich mit ihm unterhalten zu können. Sie war darauf vorbereitet gewesen, um ihr Leben zu rennen.

      Sie ging zu ihm. Es war kaum vorstellbar, dass es ihn gab. »Du bist einer von den Blinden. Nábyrn.«

      Etwas in seinen Augen regte sich wieder. Er stand auf. Beugte sich mit gebleckten Reißzähnen über sie. Sein langes Haar streifte ihr Gesicht. Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Furcht und Faszination hielten sie gefangen.

      Er fauchte: »Totgeboren? Du nennst mich totgeboren? Ich bin Naiell. Ich bin Dreyri. Ich bin Umpiri, in mir fließt das Blut der Ersten. Ich lebe seit drei Mal tausend Jahren. Ihr seid in Massen geboren worden von Müttern, die im Sterben liegen, noch bevor ihr aus ihnen rauskommt, und ihr nennt uns Totgeborene? Morgen seid ihr alle weg. Was seid ihr, wenn nicht Leichen?«

      Hirka fiel hintenüber und blieb auf den Steinplatten sitzen. »Dreitausend …«

      Er richtete sich auf und schaute seine Krallen an. »Die Welt sieht plötzlich etwas anders aus, habe ich recht? Und was das Sehen betrifft, kann ich dir versichern, dass ich besser sehe, als du es je getan hast oder tun wirst. Ihr seid die Blinden, die ihr nicht seht, dass wir sehen.«

      »Dreitausend Jahre …« Sie starrte ihn an. Das war nicht möglich.

      Er breitete die Arme aus, wie um alles zu bestätigen, was er gesagt hatte. Oder vielleicht, damit sie ihn ausgiebig anstarren konnte. Das war auch das Einzige, wozu sie in der Lage war. Starren. Ihre Atemzüge blieben irgendwo in der Brust stecken, als habe sie einen Schlag bekommen. So viel Tod. Jay. Ihre kleine Schwester, die nur ein paar Jahre hatte leben dürfen. Sie waren jetzt nicht mehr. Und hier stand er und behauptete … Dreitausend …

      Sie hatte über ihre Gedanken gelacht, wer er sein könnte. Der Blinde in Gestalt eines Raben. Aber genau das war er. Er war der, für den sie ihn gehalten hatte. Für den Raben, der nicht sterben konnte, und der stand jetzt hier vor ihr.

      Und das ihr, die sie nach Ravnhov geflohen war, sich in Mannfalla versteckt hatte, alles, um dem Raben, dem Seher zu entkommen. Und dann war er die ganze Zeit da gewesen! Sie hatte ihn mit Honigbrot gefüttert. Sie hatte … Sie hatte ihn verleugnet.

      Plötzlich schämte sie sich.

      »Wir glaubten nicht … Wir haben gesagt, dass es dich nicht gibt! Du warst nicht dort! Warum warst du nicht dort? Den Seher gibt es nicht!«

      Er ging vor ihr in die Hocke und legte den Kopf schräg.

      »Schau noch einmal hin!«

      Hirka wusste, dass ihr der Mund offen stand. Sie hob die Hand, um ihn zu berühren, zog sie aber wieder zurück an die eigene Brust. Ihr Herz schlug heftig. Erwartungsvoll. Sie musste etwas tun. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Das hier veränderte alles.

       Rime! Ich muss mit Rime sprechen!

      Nach allem, was sie gemacht hatten, nach allem, was geschehen war … Und da saß sie hier, in der Welt der Menschen, mit Ymslands Geschichte vor sich. Mit dem, was eine Lüge sein sollte. Die Bilder wirbelten rasch an ihrem inneren Auge vorbei: das Ritual, die Zeichen auf den Kleidern des Rates, die Skulpturen, die Mythen, alles.

      Er stand auf und redete mit seiner heiseren Stimme weiter. »Das Problem ist natürlich, dass ich nicht der Einzige bin. Die Rabenringe haben tausend Jahre lang geschlafen und dann kommst du, kleine Sulni, und alles verändert sich. Umpiri sind wieder nach Ymsland gekommen und das ist eine Situation, die wir uns nicht gewünscht haben. Und du kannst durch die Steine gehen, als kennten sie dich. Nicht gerade ein gutes Zeichen, können wir uns wohl zu sagen gestatten. Die Frage ist doch, warum du hier bist und was du zu tun gedenkst«, sagte er und es gelang ihm, es vollkommen anders als eine Frage klingen zu lassen.

      »Was? Ich …« Hirka suchte nach einer Antwort. Nach einem Sinn. Seine Ausdrucksweise war etwas seltsam, aber sie verstand jedes Wort. Glaubte er etwa, sie hätte es sich ausgesucht, dass sie hier war? Sie war Kuro gefolgt, als sie durch den Steinkreis gegangen war. Zu einem unbestimmten Ort, von dem sie gehofft hatte, dass er ein Zuhause sein würde. Denn die Raben wissen so was.

      »Ich bin dir gefolgt«, antwortete sie.

      »Hmm. Ja. Leute haben die Neigung, das zu tun, nicht wahr?« Er lächelte. Seine Eckzähne kamen zum Vorschein. Hirka musste den Drang bekämpfen, die Hände an ihren Hals zu heben.

      »Du bist hier, Sulni, weil jemand da draußen will, dass du hier sein sollst. Du bist eine Steinwanderin, geschaffen, um Türen aufzubrechen, die nie hätten geöffnet werden sollen. Ist das ein Freund von dir?«

      »Was? Wer denn?«

      »Der da draußen rumschleicht.«

       Stefan!

      Hirka stand auf. Es kostete sie einige Mühe, nicht wieder hinzufallen. Was sollte sie machen? Was sollte sie sagen? Stefan würde es nie verstehen. Und der Blinde … Er würde … Sie schaute ihn an.

      »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob er ein Freund ist. Vielleicht. Was sollen wir machen?«

      »Wir können ihn töten oder ihn reinbitten. Was hältst du für das Beste, Sulni?«

      »Ich glaube … Ich heiße nicht Sulni. Mein Name ist Hirka.«

      »Ich bin Naiell. Ich weiß, wer du bist. Sollen wir ihn hereinbitten, was meinst du?« Er sah amüsiert aus, lachte aber nicht.

       Naiell. Der Seher heißt Naiell.

      Von dem Namen bekam sie eine Gänsehaut. Er war fremd und vertraut zugleich. Als habe sie ihn schon einmal gehört, obwohl sie wusste, dass sie ihn noch nicht gehört hatte. Hirka ging zwischen den Pflanzen hindurch zur Tür. Sie öffnete sie, sah aber niemanden da draußen.

      »Stefan?«

      Er stand plötzlich vor ihr, mit geröteten Wangen.

      »Er sagt, ich soll dich reinbitten.«

      »Er?«

      Hirka ging zurück und hörte, dass Stefan ihr folgte. »Nur eine kleine Warnung«, flüsterte sie. »Er ist nackt. Und ziemlich … von oben herab.«

      Stefan folgte ihr zwischen den Pflanzen hindurch. Zu Naiell. Er zog gleich die Pistole, als er ihn sah. Hirka rief, aber es war zu spät. Naiell war schon über ihm. Hirka hörte, wie etwas knackte, und die Waffe fiel zu Boden. Stefan schrie. Er sank an der Wand zusammen und hielt sich den Ellenbogen. Sie lief zu ihm. Sie wollte ihm helfen, aber er ließ sie nicht in seine Nähe.

      Stefan starrte sie nur an. Genauso verwirrt wie enttäuscht. »Ich habe das Schlimmste verschwiegen, um dich zu schonen, oder? Ich dachte, du müsstest das nicht wissen, und dann … Fuck! Wenn ich gewusst hätte …«

      Er starrte Naiell an. »Die Pest geht da draußen um. Sie ist ein Mann. Er kann Leute an sich binden. Töten und heilen zugleich. Ich jage ihn seit fünfzehn Scheißjahren und oft zweifele ich, dass er wirklich existiert. Aber du bist es, oder? Du bist die Quelle.«

      Stefan warf einen Blick auf die Pistole auf dem Boden. Hirka hob sie auf, damit er keine Dummheit anstellen konnte. »Du hast mein Wort, dass er nicht der ist, den du jagst«, sagte sie. »Naiell ist mit mir hergekommen. Das ist noch nicht mal ein Jahr her. Wir sind beide Fremde hier.«

      »Naiell?« Stefan wiederholte den Namen, als sei es erstaunlich, dass er einen hatte. Hirka kannte das Gefühl.

      »Das ist egal«, sagte Stefan. »Weiß der Henker, was die sind, aber die sind ein und dasselbe. Alle beide.« Er versuchte, den Ellenbogen zu beugen. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen.

      Naiell sah sie an. »Was sagt er?«

      Sie begriff, dass Naiell nicht ein Wort des Gesprächs verstanden hatte. Dadurch kam bei ihr das angenehme Gefühl auf, Oberwasser zu haben.


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