Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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irrt sich. Wir sind überhaupt nicht ein und dasselbe.«

      Hirka übersetzte es Stefan. »Er sagt, dass sie überhaupt nicht ein und dasselbe sind, er und der, den du jagst.«

      »Und woher zum Henker will er das wissen, wenn er gerade erst hergekommen ist?«

      Hirka schaute wieder Naiell an. »Woher weißt du das?«

      Naiell bleckte die Zähne. »Sí wai umkhadari dósal.«

      Hirka und Stefan schauten einander an. Die Worte gehörten zu einer Sprache, die keiner von ihnen verstand. Naiell sah Hirka an und wiederholte auf Ymsländisch:

      »Er ist mein Bruder.«

      Lebewohl

      Krankenhaus. Der letzte Vorposten der Menschen. Ein Tor zum Tod, umrankt von gerade so viel Aberglauben, dass sich die Leute dorthin trauten. Ein Ort für Praxis und Technik. Und ein Tempel für die Sterbenden. Die Vernunft ließen sie draußen. Drinnen gab es nur Raum für Gebete. Vergebliche Hoffnungen darauf, dass alle in weißen Kitteln in der Lage waren, für Rettung zu sorgen.

      Graal ging durch die Korridore und witterte jedes Leben, das kurz vor dem Ende stand. Sogar die Gesunden waren Sterbende. Alle Menschen waren Sterbende, verleugneten es jedoch mit einer Intensität, die beinahe komisch war. Wenn sie gewusst hätten, wer er war und welche Macht in seinen Adern floss, würden sie sich gegenseitig zu Tode trampeln, um zu ihm zu kommen. Kein Preis war zu hoch, wenn die Zeit fast abgelaufen war.

      Er betrat die Abteilung, die sie Isolierstation nannten. Ein optimistischer Name für einen Bereich, in dem man im besten Fall die Türen etwas häufiger schloss. Niemand unternahm auch nur einen Versuch, ihn aufzuhalten oder zu fragen, wohin er wollte. Das hatte er auch nicht erwartet. Isac lag in einem tristen Raum, umgeben von Maschinen und Schläuchen. Technologie, um das zu sehen, was die Menschen selbst nicht sehen konnten. Sein Kopf war bandagiert und Graal konnte am Geruch erkennen, dass sie ganze Arbeit geleistet hatten, um ihn zu retten. Wirklich schade. Er mochte keine Verschwendung. Mühe sollte sich lohnen.

      Er schloss die Tür hinter sich und trat ans Bett. Isac drehte den Kopf. Langsam wie eine Marionette. Es sah aus, als würde es wehtun. Seine Augen strahlten, als er Graal erblickte. Man hätte es rührend nennen können, wenn die Liebe nicht durch Verzweiflung vergiftet gewesen wäre.

      »Graal …« Isac tastete nach seiner Hand. »Du bist gekommen.«

      »Ja, ich bin gekommen, Isac.«

      Dann kam das Unvermeidliche. Die Ausreden. Für alles, was schiefgegangen war. Für alles, was nicht Isacs Schuld war. Details. Eine Studie in menschlichem Versagen. Ein Gebet zu dem Gott mit dem größten Vergebungspotenzial von allen: dem Gott des Unvorhersehbaren.

      Isac hatte nie begriffen, wie wichtig der Auftrag war, das wurde jetzt in aller Deutlichkeit klar. Doch das war ein Problem, für das es keine Lösung gab. Konnte jemand, der nur knapp achtzig Jahre zu leben hatte, je verstehen, was wesentlich war?

      Das Seltsame war, dass es immer schwieriger wurde. Im Lauf der ersten paar Hundert Jahre war es leichter gewesen, den Menschen zu erklären, was wichtig war. Obwohl sie zu der Zeit nur halb so lange lebten.

      Graal blendete Isacs Stimme aus. Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und schaltete den Fernseher mit einer schmutzigen Fernbedienung ein. Eine traurigerweise übersehene Ansteckungsquelle. Er zappte, bis er einen Nachrichtensender fand. Eine Frau mit Mikrofon stand vor einer Kirche. Im Hintergrund blinkte Blaulicht. Er stellte den Ton leiser. Ertrug es nicht, hinzuhören.

      Isac sprach nicht mehr. Er wusste, was jetzt kam. Sein helles Haar klebte an den Schläfen. Er hatte grüne Ringe unter den Augen.

      »Isac, was habe ich dir letztes Mal gesagt, bevor du gingst?«

      »Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber es war …«

      »Das eine Wort, das ich benutzt habe, Isac. Welches Wort war das?«

      Isac schluckte. »Diskret.«

      Graal schloss die Augen, lauschte dem Piepen der Maschinen, dem Rasseln von Isacs Lungen. Der Geruch nach verletztem Fleisch und Desinfektionsmitteln war aufdringlich.

      »Ich habe es versucht, Graal. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber es war zu spät! Micke war eine miese Wahl. Wir hatten nie vor … Es sollte nicht so weit kommen …« Er keuchte die Sätze hervor.

      Graal legte einen Finger auf Isacs Lippen. Isac ergriff seine Hand und sog den Geruch ein, als sei darin mehr Nahrung enthalten als im Tropf, der neben dem Bett hing. Was vermutlich auch der Fall war.

      »Diskret, Isac. Diskret!« Graal stand auf. Er wurde selten wütend. Dafür hatte er schon zu lange gelebt. Doch jetzt bebte er vor Zorn. Er zeigte auf den Fernsehbildschirm. »Diskret! Ein Pater! Ein Pater, eine Frau und ihre beiden Töchter. Ein kleines Kind! Blutüberströmt in einer Kirche, mitten in der Stadt! Ein Schlachtfest! Ein Mittwinteropfer!«

      »Wir haben … immer noch Zeit, wir können …«

      Graal setzte sich wieder. Er starrte zu Boden. Glattes, giftgrünes Linoleum. »Ich mag Kinder. Habe ich das schon mal erwähnt, Isac? Kinder sind unsere Zukunft, sagt man hier. Aber sie verstehen nicht, was das bedeutet. Ich verstehe es. Und ich mag Kinder. Hätte ich dir das sagen sollen, Isac?«

      Isac blinzelte jedes Mal, wenn er seinen Namen hörte. Graal umklammerte die Armlehne des Stuhls so fest, bis das Holz zersplitterte. »Ich mag Kinder. Und du hast sie nicht. Du weißt noch nicht mal, wo sie ist. Es ist zum Verzweifeln, Isac.«

      »Einen Tropfen, Graal. Nur einen einzigen Tropfen, dann verspreche ich es! Du wirst sie bald haben!« Isac reckte sich ihm entgegen. Der Venen-Infusionsschlauch, den man in seinen Handrücken gebohrt hatte, war im Weg und das reichte, damit ihn die Kräfte verließen. Graal zog seine Handschuhe aus und holte ein Papier aus der Tasche. Er faltete es auseinander.

      »Es kommt vor, dass ich mir selbst einen Brief schreibe«, erklärte er. »An guten Tagen. Damit ich mich erinnere, dass nicht alles so ist, wie es sich an den schlechten Tagen anfühlt. Weißt du, was ich hier geschrieben habe? Ich habe geschrieben, dass Irren in der Natur des Menschen liegt. Dass ich vergeben und geduldig sein muss.«

      Isac verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Graal war klar, dass das ein Versuch war, wie üblich einschmeichelnd zu lächeln. Das war überaus unpassend, so blass und mager, wie er da im Krankenhauskittel lag. Wenigstens hatte man ihm das Hemd in der schreienden Farbe ausgezogen.

      »Das habe ich an einem guten Tag geschrieben«, sagte Graal und steckte das Blatt Papier wieder in die Tasche. »Heute ist kein guter Tag.«

      Isacs Hand auf dem Laken zitterte. Graal fummelte an den Maschinen herum. Sie konnten weder für noch gegen etwas gut sein.

      »Über die Menschen kann man ja vieles sagen, aber Kugeln können sie zumindest rausholen, wie ich sehe. Du hast lange gelebt, Isac. Du bist über achtzig Jahre alt, siehst aber immer noch wie fünfzig aus. Du hast mehr als die meisten bekommen.«

      »Graal, bitte …«

      »Du hast nichts zu fürchten. Niemand hier ahnt, wer du bist. Und sie haben auch keine Ahnung, was dir fehlt, darum musst du damit rechnen, dass du noch eine Weile hier liegen bleibst. Bis sie zur Erschöpfung Proben genommen haben. Das ist Glück unter diesen Umständen. Das Unwissen der Ärzte hält die Polizei auf Abstand.«

      Isacs Augen wurden feucht. In ihnen lag nicht mehr die geringste Spur von Arroganz. Er war nicht mehr Vardar. Es war nur noch eine Hülle übrig. Ein Mensch.

      Graal ging zu Isacs Jacke, die an einem Haken an der Wand hing. Er steckte einen Brief in die Jackentasche. »Alles, was du wissen musst, steht hier drin. Wo du deine Sachen abholen kannst. Wo du Geld abheben kannst. Du wirst keine Not leiden. Nicht, bevor die Schmerzen kommen. Versuche, dass sie dir von hier Hydromorphon mitgeben. Das


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