Teufelskuhle. Sabine Friemond
das Läuten der Glocke der katholischen Kirche, die im ehemaligen Offizierskasino untergebracht war. Erschreckt zuckte er zusammen.
Halb zwölf. Ihnen blieb noch genug Zeit.
Durch das Licht, das der volle Mond spendete, hatte Friedhelm überhaupt keine Probleme, den Weg zu finden. Auch ohne den hellen Mondschein, selbst in völliger Dunkelheit, hätte er sich zurechtgefunden. Seit seinem zweiten Lebensjahr, also seit acht Jahren, lebte er mit seinen Eltern in der ehemaligen Leutnantsbaracke Nummer sieben. Die Siedlungsgesellschaft der Stadt Dinslaken, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg das Barackenlager und den Truppenübungsplatz übernommen hatte, vermietete die Baracken als günstigen Wohnraum, unter anderem auch an kinderreiche Familien
Wenn er nicht in der Schule war, rannte er mit den anderen Kindern zwischen den Baracken umher. Im Winter bewarfen sie sich mit Schneebällen und bauten Schneemänner. Im Sommer, so wie jetzt, spielten sie im Sand oder erkundeten die Heide, immer die Augen offen, in der Hoffnung, alte Patronen der Soldaten, die vor ihnen in den Baracken gewohnt hatten, zu finden.
Auf dem kurzen Weg zum Ehrenmal im Offizierspark dachte er über das Abenteuer nach, zu dem ihn sein Freund Werner angestiftet hatte. Werner, stets eine Spur frecher als er. Immer etwas waghalsiger. So wie letzte Woche, als sie wieder in einen Streit mit den Jungen, die mit ihren Familien in den ehemaligen Mannschaftsbaracken wohnten, geraten waren. Friedhelm blieb immer defensiv, wenn sie ihr »Revier«, die Wege und Plätze rund um die früheren Leutnantsbaracken Nummer sieben bis zwölf, verließen. Dort waren die Kinder, die er kannte, Nachbarskinder, bei denen man ein- und ausging. Aber nur einen kleinen Marsch weit entfernt, schräg über die Wilhelmstraße, rotteten sich andere Kinder zusammen, die eine eigene Gruppe bildeten. Vielleicht lag es daran, dass deren Eltern aus Ostpreußen vertrieben worden waren und sie das Gefühl hatten, sich ihre neue Heimat noch erkämpfen zu müssen, vielleicht waren »die anderen« einfach auch nur etwas älter und somit auch draufgängerischer. Jedenfalls lachten sie Friedhelm und Werner einfach aus, als sie erfuhren, dass die beiden noch nie den »Schwarzen Mann« gesehen hatten.
»Man sieht ihn nur bei Vollmond«, höhnten sie. »Aber da liegt ihr Memmen ja brav im Bett.«
Der Schwarze Mann.
Friedhelm hatte schon mal von ihm gehört, aber er konnte sich nicht erklären, wieso ein schwarzer Mann an der Teufelskuhle, hinter dem erst ein paar Jahre alten Kommunalfriedhof, herumgeistern sollte.
»Uahhh!«, brüllte Hans, ein großer Junge, breitete seine Arme aus und wankte auf die beiden eingeschüchterten Jungs zu. »Ersoffen bin ich!« Dramatisch schnappte er nach Luft und rollte mit den Augen.
»Beim nächsten Vollmond werden wir ihn auch sehen!«, schrie Werner wütend zurück.
»Das traut ihr Bubis euch niemals!«, lachte Hans ihn aus.
»Doch, bestimmt!«, beharrte Werner. »Oder, Friedhelm?« Werner stieß ihn in die Seite.
»Ja, bestimmt!«, unterstütze Friedhelm seinen besten Freund, wobei er sich anstrengen musste, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, da er nicht unbedingt von dem Vorhaben begeistert war.
»Gut, dann schwört auf unser Vaterland, dass ihr nächste Woche bei Vollmond zur Teufelskuhle geht und auf den Schwarzen Mann wartet!«, verlangte Hans von den beiden jüngeren Buben.
Hans’ Freunde kamen immer näher. Alle grinsten, einige von ihnen fingen an, quäkend wie kleine Kinder zu heulen.
So kam es, dass Friedhelm sich jetzt mitten in der Nacht auf den Weg zum Ehrenmal machte, um dort Werner zu treffen.
Wie erwartet stand sein Freund schon im Schatten des Denkmals für die gefallenen Soldaten des Franzosenkrieges von 1870/71, einem Krieg, an den sich nur noch die Großeltern erinnern konnten.
»Da bist du ja endlich!«, maulte Werner. »Komm, lass uns rennen.«
Eigentlich war der Weg zur Teufelskuhle nicht weit. Die beiden Jungs liefen die Hindenburgstraße Richtung Dinslaken entlang. Sie querten die Von-Einem-Straße, die jetzt, mitten in der Nacht, menschenleer war. Vorsichtshalber hielten sie sich in der Deckung der Bäume, die links und rechts wuchsen. Der raue Asphalt strahlte noch die Wärme des heißen Sommertages aus.
Friedhelm hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch.
Es war totenstill. Selbst von den Bäumen, die entlang der Hauptverbindungsstraße zwischen der alten Garnisonsstadt Wesel und der Kreisstadt Dinslaken standen, hörte man keinen Laut. Da es windstill war, raschelten auch keine Blätter. Tagsüber schossen ab und zu Motorräder mit lautem Geknatter in beide Richtungen, flitzten Fahrradfahrer hin und her, transportierten Omnibusse ihre Fahrgäste von Wesel nach Dinslaken und zurück. Und immer mehr Automobile fuhren über den Asphalt. Neidisch blickten Friedhelm und Werner den wenigen Autofahrern hinterher, die Hitlers »Volksmotorisierung« schon umgesetzt hatten. Den einzigen Autobesitzer, den sie in Friedrichsfeld kannten, war der Arzt Dr. Blanke.
Kurz vor van de Sand hielten die beiden Jungen an. Das imposante Gebäude der Gaststätte wurde von dem schimmernden Licht des Mondes dramatisch in Szene gesetzt. Aber obwohl es die Nacht von Freitag auf Samstag war, lag auch das Lokal in absoluter Stille. Gegenüber der Gaststätte, auf der anderen Straßenseite, befand sich der Eingang zum Friedhof. Aber so weit wollten die beiden Jungen gar nicht, denn hinter der nördlichen Begrenzung des Friedhofs führte ein Trampelpfad zur Teufelskuhle, einem Gewässer mitten in der Heidelandschaft.
»Hast du immer noch Schiss?«, keuchte Werner völlig außer Atem und grinste dabei breit. »Es ist doch fast taghell! Wir gehen jetzt zur Teufelskuhle, werden einmal da reingehen und untertauchen, und dann verschwinden wir wieder in unsere Betten.«
»Den ›Schwarzen Mann‹ gibt es gar nicht. Wie können wir nur so blöd sein und ihn mitten in der Nacht sehen wollen?«, moserte Friedhelm.
Dann huschten sie über die Straße. Der schmale Weg zur Teufelskuhle führte sie nun am Friedhof vorbei über den alten Truppenübungsplatz. Über die von jahrelangen Schieß- und Exerzierübungen zerstörte Heidelandschaft breitete sich immer mehr ein Dickicht aus Sträuchern und jungen Bäumen aus.
Friedhelm würde es niemals zugeben, aber um Mitternacht, denn das müsste es jetzt langsam sein, direkt in Sichtweite der Gräber zu gehen, um den »Schwarzen Mann« zu treffen, verängstigte ihn nun doch etwas. Auch das freundliche Mondlicht kam ihm nun viel dunkler und bedrohlicher vor.
Sein Freund Werner schritt, immer noch schwer atmend, zielstrebig voran. Dann endete der Zaun, der den Friedhof umgab, und deutlich zeichneten sich die Wälle ab, an deren Enden die preußischen Soldaten früher gestanden und mit Gewehren und Pistolen geschossen hatten. Nur noch ein paar Meter, dann würden sie vor der Teufelskuhle stehen.
»Komm, lass uns jetzt nach Hause gehen«, drängte Friedhelm. »Wir können doch einfach sagen, dass wir hier waren, aber den ›Schwarzen Mann‹ nicht getroffen haben. Wie auch? Den gibt es ja gar nicht!«
»Wir haben geschworen, dass wir heute hierhin kommen«, beharrte Werner, »und du weißt, seinen Schwur bricht man nicht.« Werner war begeisterter Karl-May-Leser.
Du hast es geschworen, dachte Friedhelm trotzig.
Dann standen sie vor der Teufelskuhle. Wie ein kleiner, länglicher See lag sie vor ihnen. Tagsüber, wenn die Kinder und auch so manche Erwachsene den Weg hierhin fanden, um sich in der sommerlichen Hitze abzukühlen, war das Wasser durch den aufgewirbelten Sand trüb, aber jetzt, in der Ruhe der Nacht, schimmerte es glasklar.
Auch hier eroberten schon Gräser und kleine Eichen und Kiefern den Rand des Gewässers. Teilweise wucherten dichte Büsche bis ins Wasser hinein und warfen dunkle Schatten.
Da, bewegte sich da nicht etwas?
Friedhelm ballte seine Hände vor Nervosität immer wieder zu Fäusten. Die Teufelskuhle war nur wenige Meter lang und breit, aber trotz des hellen Vollmondes konnte er das gegenüberliegende Ufer nicht genau erkennen.
Werner zog sich schon sein Hemd und seine Hose aus. »Los, jetzt beeile dich«, trieb er Friedhelm an, »du willst doch so schnell wie