Teufelskuhle. Sabine Friemond
obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug.
»Donnerstag?«
»Ich komme am Nachmittag.«
»Gute Nacht«, dann hatte sie schon aufgelegt.
»Komm, da liegt eine Person im Straßengraben im Wohnungswald in Richtung Dinslaken«, Schlüter griff schon nach dem Autoschlüssel.
»Rettungswagen?«, fragte Freddie.
»Hat der Anrufer schon gerufen«, entgegnete sein älterer Kollege.
Zügig fuhren sie die Frankfurter Straße entlang, dann hinter dem stillgelegten Kraftwerk links, um zur Dinslakener Straße zu kommen. Diese fuhren sie in Schrittgeschwindigkeit entlang, auf der Suche nach der besagten Person. Schon bald sahen sie das Blaulicht eines Krankenwagens.
»Sturzbetrunken, aber kein Fall für uns«, empfing sie einer der Rettungssanitäter, »sie sieht zwar fertig aus, ist aber stabil und schlummert wie ein Baby.«
»Oh nein«, Schlüter verzog das Gesicht, »ich hab keinen Bock, dass die uns die Zelle vollkotzt! Oder schon das Auto! Die braucht doch bestimmt ärztliche Hilfe.«
»Nein, keine Chance«, grinste der Sanitäter, »bei der Hitze haben wir genug mit den Herzpatienten zu tun.«
»Irgendwelche Papiere gefunden?«, Freddie betrachtete die junge Frau, die schlafend eher wie ein junger Teenager aussah. Sie kam ihm bekannt vor.
»Noch nicht«, antwortete der Sanitäter. Vorsichtig richtete er ihren Oberkörper auf. Mit einem Blick erkannte er, dass nur die Hosentaschen einen möglichen Hinweis auf ihre Identität zulassen könnten. Er schob seinen Zeige- und Mittelfinger in die vorderen Taschen, zuckte aber nur mit den Schultern, als er dort nichts fand. Dann half Freddie ihm, die Schlafende nach vorne zu kippen, so dass sie an die Gesäßtaschen kamen. Triumphierend zog er eine EC-Karte aus der rechten Tasche. Freddie lehnte die junge Frau wieder gegen den Holzstapel und nahm die Bankkarte, die ihm der Rettungswagenfahrer entgegenstreckte.
»Mensch, klar«, rief Freddie aus, »das ist Laura, Laura Bauer!«
»Laura Bauer? Oh Mann!« Schlüter schüttelte den Kopf.
»Ja«, murmelte Freddie, »allerdings.«
Bist du noch wach?
Nein.
Brauchen deine Hilfe, kommen gleich.
Immer, wenn er sie sah, schlug sein Herz schneller. Auch jetzt, mitten in der Nacht. Mit zerzausten Haaren und einer aufgeregt hechelnden Laika neben sich öffnete Christin ihre Haustür.
»Oh! Hallo!«, überrascht musterte sie die drei Personen, die vor ihr standen.
Michael Schlüter und Frederick Neumann stützten in ihrer Mitte eine junge Frau, die offensichtlich völlig betrunken war.
»Nisch na Hause«, nuschelte sie, »nisch, sons bringisch sie um.«
»Pscht«, beruhigte Christin Laura, »hier bringt niemand jemanden um. Kommt rein«, und zu Freddie gewandt, »du hast mir da einiges zu erklären!«
2. Kapitel
Samstag, 26. Oktober 1996
Polizeiobermeister Jens Kahler saß breitbeinig auf seinem Bürostuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Er schüttelte den Kopf und grinste seine Kollegen an.
»Total asozial«, schnaubte er, »und die Alte, also kein Wunder, dass der ihr eine gepfeffert hat.«
»Und wie das da gestunken hat!« Uli Brücker hielt sich geziert die Nase zu und riss seine Augen dramatisch auf. Fast alle lachten.
»Spinnst du?« Nicole Bauer stand von ihrem Schreibtischstuhl auf. »Fällt dir bei dem Anblick von diesem Elend nichts anderes ein, als dämliche Witze zu reißen?«
Uli Brücker und Michael Schlüter verstummten.
Bisher war die Nachtschicht auf der Polizeiwache Voerde ruhig verlaufen. Die vier diensthabenden Polizisten Nicole Bauer, Uli Brücker, Michael Schlüter und Jens Kahler konnten sogar ungeliebten Papierkram erledigen. Dann wurden Kahler und Bauer zu einem Einsatz zum Buschacker in Voerde gerufen. Ein älteres Ehepaar fühlte sich von dem Geschrei in der Nachbarwohnung belästigt. Vor wenigen Minuten waren die beiden Polizisten wiedergekommen und berichteten.
»Ey, was willst du denn?« Jens Kahler grinste noch breiter. »Wenn sich zwei Besoffskis zuziehen und sich dann gegenseitig in die Fresse hauen, kann ich da mittlerweile nur noch drüber lachen«, er zuckte mit den Schultern, »fürs Ändern sind wir nicht zuständig.«
»Trotzdem finde ich es total unangebracht, darüber Witze zu machen«, insistierte Nicole wütend.
»Bleib mal cool«, versuchte Polizeikommissar Schlüter seine junge Kollegin zu beruhigen, »wir sind doch unter uns, und wir wissen alle, dass solch ein Gerede hier drin bleibt.« Er ließ seinen Blick einmal durch den Raum schweifen.
Schon länger hatte er das Gefühl, dass die einzige Frau im Team der Voerder Polizei nicht mehr mit der Begeisterung arbeitete, die sie vor der Geburt ihrer kleinen Tochter an den Tag gelegt hatte. Er empfand sie oft als launisch, was sie früher nicht war. Schlüter konnte sich gut vorstellen, wie anstrengend die Doppelbelastung als Mutter und als Berufstätige war. Nicole machte viele Nachtschichten, damit sie und Carsten, ihr Mann, nicht so oft die Großeltern fragen mussten.
Aber Nicole wollte unbedingt arbeiten.
Sie betonte immer, dass man als Frau so oder so, dabei rollte sie stets vielsagend mit den Augen, auf das Schlimmste vorbereitet sein sollte – und das sei sie, wenn sie arbeitete.
Außerdem hatte er das Gefühl, dass Nicole dünnhäutiger geworden war. Schlüter hatte schon von anderen Revierleitern gehört, dass Polizistinnen nach der Geburt ihres ersten Kindes sensibler geworden seien. Aber, wenn er genau darüber nachdachte, stritt sie sich meistens nur mit Jens. Polizeiobermeister Kahler konnte auch nerven. Er war ein Macho durch und durch, immer einen Spruch auf den Lippen, gedrungen, muskulös, immer dicke Hose.
»Ich fahr mal ’ne Runde.« Die Polizistin hielt Kahler die geöffnete Hand hin. »Gib mir den Schlüssel.«
»Wer soll denn mit dir mitfahren?« Kahler sah zu Schlüter.
»Niemand, ich will einfach nur was gucken fahren und nicht hier dumm rumhocken und dein Gelaber anhören«, fauchte Nicole.
»Ja, dann fahr halt ein bisschen rum«, trat Schlüter zwischen die beiden Streitenden. Das hält ja niemand aus, dachte er, vielleicht liegt es ja auch am Vollmond.
Nicole Bauer schnappte sich den Schlüssel aus Kahlers Hand und ging ohne ein weiteres Wort nach draußen.
Nicole atmete tief durch, als sie in die kalte Nachtluft trat. Mein Gott, dachte sie, bin ich froh, wenn ich hier weg bin!
Wenig später hatte sie ihr Ziel erreicht.
Eigentlich war es absurd. Carsten liebte sie über alles. Er bekam von ihr, was er brauchte. Und doch war da ein klitzekleiner Verdacht. Außerdem, vielleicht hatte sie ja Glück und würde … Sie lächelte in sich hinein.
Sie parkte das Polizeiauto auf dem Parkplatz eines Hotels zwischen den Autos der Übernachtungsgäste und stieg aus. Obwohl das Wetter tagsüber durchwachsen gewesen war, jetzt war es trocken und wolkenlos. Hier auf dem Parkplatz tauchte der Mond alles in ein warmes, milchiges Licht, aber wenn sie sich zum Friedhof umdrehte, warf das Mondlicht groteske Schatten.
Sie lief ein Stück in den Risselweg hinein.