Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler

Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler


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sich mit ihrem Vater zum Frühstück an den Tisch gesetzt hatten. Da draußen war alles licht und frei, klar und gleichzeitig unbestimmt gewesen. Doch hier, auf dem Weg zum Elternhaus, fühlte Eduard sich auf einmal nicht mehr richtig gekleidet für seine Umgebung. Hier in den Gassen der Stadt spürte er auf einmal eine Enge, den Druck der starren, jahrhunderte alten Mauern, und freute sich schon jetzt darauf, bald wieder nach draußen zu kommen, zur Baustelle an der neuen Brücke.

      Während Eduard noch darüber nachdachte, wie sehr ihn die kleinstädtische Atmosphäre Waldbrüggs manchmal bedrückte, hatte sich Hans’ Miene wieder aufgehellt. Er grüßte ein paar Arbeiter, die auf dem Weg aus der Stadt waren, mit einem Kopfnicken.

      „Bestimmt sind sie auf dem Weg zu Mandelbaums Manufaktur“, rief er seinem Bruder zu. Aus irgendeinem Grund schien er begeistert über ihren Anblick zu sein.

      Eduard lächelte.

      „Ich kenne sie“, erwiderte er. „Sie sind auf dem Weg zur Brücke. Und jetzt komm.“ Er legte den Arm um Hans’ Schulter. „Wir wollen frühstücken gehen. Ich muss nachher auch hinaus.“

      Als sie aus der Gasse auf den Marktplatz traten, lag Eduard sein voriger Gedanke wieder ganz klar vor Augen. Die Welt befand sich in einem Umbruch, in einem Wandel. Noch war es nicht deutlich zu sehen, doch in Ansätzen schon spürbar. Und während, noch weitgehend unbemerkt, die Welt sich in Veränderung befand, blieb Waldbrügg, wie es jetzt vor ihm lag, immer in seiner kleinbürgerlichen, mittelalterlichen Attitüde erstarrt. Immer würde der Brunnen mit dem Wappen der Stadt – Eduard fragte sich, wie eigentlich der sich schlängelnde Drache auf das Bild von Brücke und Fluss gekommen war – in der Mitte des Platzes vor dem Rathaus mit seinem kunstvollen Fachwerk und den vielen kleinen Fenstern stehen, für immer unveränderlich die Kirche schräg gegenüber, etwas abgegrenzt und quasi mit einem eigenen Vorplatz versehen. Und genauso unverrückbar würde die Ordnung der Stadt immer bestehen bleiben, wenn es nach den Bürgern hier ging.

      Im Schatten der Kirche, etwas nach hinten versetzt, wo eine der Gassen vom Platz abging, stand das Haus der Eschers, sein und Hans’ Elternhaus. Es war eins der größten, mit vielen, aber kleinen Fenstern, seine Fassade rauchschwarz an den Balken, der Putz vergilbt. Über der Tür, die sie betraten, prangte das Familienwappen, ein dunkel verwittertes Holzschild mit Waage und Baum. Ihr Großvater hatte es anbringen lassen, als er das erste Mal zum Bürgermeister gewählt worden war.

      Sie betraten die schmucklose Halle. Eigentlich war Halle ein zu hochtrabendes Wort für den düsteren, beinahe quadratischen Raum. Am Eingang war die Decke niedrig und man zog beim Hereinkommen automatisch den Kopf ein. Einige dunkle Vorhänge an der Wand schienen das wenige Licht zusätzlich zu absorbieren. Der Boden bestand aus rohen, großen Steinquadern, an manchen Stellen rau, an anderen speckig und abgetreten.

      Nach ungefähr einem Meter wurde der Raum höher. Ringsum verlief eine Galerie, von der aus man die verschiedenen Wohnzimmer erreichte. Ein paar kleine Fenster spendeten etwas Licht. Zum ersten Stock führten zwei Treppen, die an der jeweils gegenüberliegenden Ecke über einen Absatz, eine Art Zwischenpodest, nach oben führten. Den einzigen Schmuck, sah man einmal von den dunklen Vorhängen am Eingang und einem eisernen Kronleuchter in der Mitte der Halle ab, stellten zwei Gemälde dar, die über den Treppenabsätzen hingen. Das linke hatte Eduard früher kaum wahrgenommen. Es war das Porträt eines Ahnen, bereits stark nachgedunkelt, sodass nur noch die markanten Wangenknochen, die allen Eschers eigen waren, und das Weiß der Augen etwas hervorstachen. Eduard hatte sich als Kind nie die Mühe gemacht, nach ihm zu fragen. Zu diffus verschwammen Gesicht und Hintergrund miteinander, als verschwinde der Mann immer mehr im nebulösen Dunkel der Zeiten, in denen er gelebt haben mochte.

      Das Bild auf der rechten Seite zeigte einen jungen Mann im Halbprofil, in der Kleidung eines Wanderers und mit einer Baskenmütze, der zwischen Bäumen auf einer Anhöhe stand und hinunterblickte auf eine Flusslandschaft. Im Hintergrund konnte man verschwommen die Umrisse einer großen Stadt erkennen. Unten im Tal, nur mit Strichen und gelegentlichen Farbtupfern angedeutet, zogen Soldaten in einer langen Reihe auf die Stadt zu. Dieses Bild hatte Eduards Fantasie als Junge immer wieder beschäftigt. Für ihn war es das Sinnbild für den Aufbruch in die Freiheit gewesen, zu Abenteuern und in fremde Länder und Städte. Mit zunehmendem Alter war es ihm mehr und mehr zum Ausdruck für seine Ängste geworden, für immer in den engen Verhältnissen dieses Hauses und Waldbrüggs, die ihm damals unerträglich erschienen, gefangen zu bleiben. Doch dann war er fürs Studium in die Stadt gegangen und jetzt seit einem halben Jahr wieder hier, in seiner Eigenschaft als Assistent des Bauingenieurs für die neue Brücke. Sein Vater rechnete natürlich immer noch damit, dass er nach dem Ende der Bauarbeiten in Waldbrügg bleiben würde, um sich um das Stoff- und Tuchgeschäft der Familie zu kümmern. Doch seit Hans dort mitarbeitete, machte Eduard sich darüber weniger Gedanken und Sorgen.

      Während seines Studiums hatte Eduard sich eine Zeit lang mit Landschaftsmalerei beschäftigt. Vor allem die englischen Maler vom Anfang des Jahrhunderts hatten es ihm angetan. Und als er an diesem Morgen am Treppenaufgang stand und das Bild vom Marsch der Truppen auf die Stadt betrachtete, das Abbild seiner frühen Sehnsüchte, schüttelte er leicht verwundert den Kopf. Bisher hatte er noch gar nicht darauf geachtet, aber gegenüber den Gemälden von Turner oder Bonington war es höchstens als Mittelmaß zu bezeichnen, wenn nicht gar als bessere Stümperei. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass es bei ihm jemals diese vage Sehnsucht nach Freiheit ausgelöst hatte. Die Aufteilung war bestenfalls konventionell und der Versuch, dem Ganzen durch die Andeutung der marschierenden Truppen einen spannungsreicheren militärischen Anstrich und mehr Tiefe zu geben, scheiterte an der plumpen Ausführung. Der Maler – C. Carstens, wie die Signatur neben der Jahreszahl 1871 am linken unteren Bildrand verriet – war ein nicht unbekannter Däne, der immer noch lebte und seinen Stil in den letzten vierzig Jahren kaum geändert hatte. Seine Gemälde kamen in Deutschland gut an und hingen in den Fluren und Wohnzimmern vieler bürgerlicher Häuser.

      Als jetzt die Sonne durch die kleinen Fenster auf der gegenüberliegenden Galerie drang, fiel mehr Licht auf das linke Gemälde und Eduard wandte sich dem früher missachteten Porträt seines Ahnen zu. Er erinnerte sich plötzlich, dass Hans, sein kleiner Bruder, sich immer vor den aus dem Dunkel schimmernden Augen des alten Mannes gefürchtet hatte. Er hatte als Kind immer diffuse Ängste vor Geistern, mystischen, übernatürlichen Bedrohungen gehabt, die Eduard nie teilte. Doch durch den Lichteinfall trat das Gesicht des Alten plötzlich aus dem ihn umhüllenden Dunkel hervor. Zart und papiern wirkte seine vergilbte Haut, fein die schütteren, an Stirn und Schläfen zurückweichenden Haare und so aufmerksam, wie Eduard ihn jetzt betrachtete, blickte er zurück … Eduard fuhr sich automatisch mit den Fingern über die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Einen Moment lang hatte er tatsächlich das Gefühl gehabt, auf der anderen Seite des Gemäldes befinde sich etwas, existiere etwas schon weit Zurückliegendes, eine alte Welt, und er konnte auf einmal etwas wie Verständnis für Hans und seine Geisterseherei aufbringen. Auf jeden Fall, wie er sich insgeheim gestand, war dieses Gemälde, das er in seiner Kindheit immer links liegengelassen hatte, auch malerisch das weit Interessantere. Es war datiert auf das Jahr 1502, der Maler hatte es nicht signiert, obwohl er, wie Eduard spontan befand, dazu mehr Grund gehabt hätte als C. Carstens beim Marsch der Truppen auf die Stadt. Er bezweifelte allerdings, dass es sich bei der Jahreszahl um das Entstehungsdatum des Porträts handelte. Etwa um diese Zeit war das Haus gebaut worden. Vielleicht hatte der Mann auf dem Bild zu dieser Zeit gelebt und der Maler wollte darauf hinweisen. Dafür sprach auch, dass er weder eine Signatur noch Initialen hinterlassen hatte.

      Es war nur ein Moment gewesen, in dem das Bild auf diese eigenartige Art und Weise beleuchtet war. Schon wenige Augenblicke später verschwand das Antlitz des Mannes wieder im unbestimmten Dunkel der vergangenen Jahre. Das ganze Gemälde tauchte wieder ab in die Bedeutungslosigkeit, mit der es sich all die Jahre Eduards Missachtung verdient hatte. Doch er vermutete, dass sein Bruder das Bild vor vielen Jahren vielleicht genau zu dieser Sekunde des Tages zum ersten Mal gesehen hatte und darauf seine Angst davor beruhte. Und seit damals wusste er, dass dieses Bild jeden Tag einen kleinen Augenblick hatte, an dem es sich gänzlich veränderte, sozusagen auflebte und vielleicht diesem Mann seit fast vierhundert Jahren einen kurzen Blick auf seine eigene Halle gewährte.

      Eduard lachte und schüttelte über seine Gedanken ärgerlich den Kopf.


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