Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler

Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler


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Beschäftigung mit Statik und Architektur loszuwerden. Aus diesem Grund hatte er auch seine Beschäftigung mit der Malerei nach zwei, drei Semestern wieder aufgegeben. Er wollte ein ernsthafter, ausgeglichener Mensch werden und sah sich auf dem besten Weg dazu. Da war kein Platz für Malerei und Hirngespinste …

      Man sah der Eingangshalle und ihren Dimensionen nicht an, dass das Haus, verbunden mit verschiedenen Nebengebäuden, sich nach hinten noch sehr weit hinzog und im Erdgeschoss auch das Kontor und das Lager für die Tücher und Stoffe beherbergte, mit denen der alte Escher handelte.

      Eduard wollte seinem Bruder gerade nach oben folgen, um sich umzuziehen, als sich unten eine Tür öffnete. Sein Vater trat in die Halle und eilte zur Treppe.

      „Eduard. Ihr seid zurück? Schön. Gerade rechtzeitig zum Frühstück“, rief er.

      „Vater.“ Eduard zuckte zusammen und drehte sich auf dem Treppenabsatz um. „Wir sind gerade eben gekommen. Wir wollen uns nur noch umziehen …“

      Er wartete, bis sein Vater ihn auf der Treppe eingeholt hatte. Einen Augenblick standen sie sich gegenüber. Eduard war nur ein wenig größer als er. Sie hatten den gleichen, stämmigen Körperbau und die Wangenknochen der Eschers. Auffallend war Eduards weiches, gewelltes, braunes Haar. Das seines Vaters war grau und kurz geschnitten. Er trug einen akkurat gestutzten Backenbart, über den er sich jetzt kurz strich, mit einer hastigen, fast schroffen Handbewegung. Eine automatische Geste, die er unbewusst sehr häufig machte und die ihm selbst gar nicht mehr auffiel.

      „Lass dir Zeit“, erwiderte er. „Ich habe es heute Morgen nicht eilig. Mein erster Termin im Rathaus ist erst um elf. Mit Mandelbaum.“ Er zögerte, bevor er den Namen sagte, als befürchte er, damit ein unangenehmes Thema anzuschneiden. Eduard zeigte keine Reaktion. Er nickte nur kurz.

      „Habt ihr Glück gehabt?“, fragte Franz Escher. Gemeinsam setzten sie den Weg nach oben fort.

      „Bei der Jagd?“ Eduard verzog abschätzig den Mund. „Ach, nein. Es ist nicht der Rede wert. Ich hab eine Schnepfe und einen Auerhahn erwischt. Hans eine Schnepfe.“

      „Hm“, machte der Alte. Es schien ihn nicht weiter zu interessieren. „Hans war mit seinen Gedanken wahrscheinlich wieder überall, nur nicht bei der Sache.“

      „Aber, nein“, verteidigte Eduard seinen Bruder und schmunzelte. „Wir hatten einfach Pech.“ Sie hatten die Tür zu seinen Räumen erreicht. Er drückte die Klinke. „Ich bin sofort so weit.“

      Escher winkte ab.

      „Bis gleich.“

      Von Eduards Räumen zu sprechen war eigentlich zu hochtrabend. Es handelte sich lediglich um ein nicht einmal besonders großes Zimmer mit einer Art Alkoven, in dem ein Bett stand. Der Platz im Wohnraum war ziemlich beengt, da Eduard bei seiner Rückkehr noch einen großen Schreibtisch und ein Bücherregal in eine Ecke gequetscht hatte. Darin stapelten sich einige Bücher, Notizen und Pläne. Das Fenster daneben war von den Fensterläden verdunkelt. Die Sonnenstrahlen drangen nur durch einige Ritzen und tauchten das Zimmer in ein diffuses Dämmerlicht. Die Tür des großen Kleiderschranks gegenüber war verspiegelt und halb verdeckt von den Kleidern, die Eduard heute anziehen wollte. Eilig streifte er die Schuhe ab, wickelte die Gamaschen von den Waden und warf sie zusammen mit Jacke und Hose achtlos auf einen Sessel.

      Aus einem Krug goss er sich Wasser in eine Schüssel auf dem Waschtisch neben der Tür, wusch sich Gesicht und Hände und fuhr sich mit einem Kamm durch die Haare. Dann kleidete er sich an und ging hinüber ins Esszimmer, wo Hans und der Alte schon auf ihn warteten. Franz Escher saß am Kopfende des Tischs, die Knöpfe seines an den Rändern abgenähten Jacketts hatte er geöffnet. Darunter spannte eine etwas zu enge Weste über seinem Bauch. Er blätterte in einer Zeitung, die er achtlos auf den Tisch warf, als Eduard eintrat. Hans saß rechts von ihm. Er hatte sich eilig einen grauen Anzug angezogen und ein hellbraunes, weiches Tuch lose um den Hals geschlungen. Die alte Maria, Dienstmädchen der Eschers seit Eduard und Hans noch Kinder waren, trat ein, sobald Eduard Platz genommen hatte, und schenkte Kaffee aus einer großen Seihkanne ein.

      Eduard bedankte sich und nahm die Zeitung, die sein Vater auf den Tisch geworfen hatte. „Was will Mandelbaum eigentlich?“, fragte er, sich der Erwähnung des Namens erinnernd, während er die Schlagzeilen auf der Titelseite überflog. „Wenn er ins Rathaus kommt, muss es doch etwas Offizielles sein, oder?“

      „Ich habe ihn zu einem Termin gebeten“, erwiderte Escher. Er dachte kurz nach, bevor er fortfuhr: „Als Bürgermeister, nicht als Freund.“ Wieder zögerte er. „Nein, es ist nichts Offizielles …“

      Sein Zögern machte Hans neugierig.

      „Er ist doch nicht in Schwierigkeiten, oder?“

      „Nein.“ Der alte Escher schüttelte den Kopf, als sei er über seine eigene Unsicherheit ärgerlich. „Ich glaube nicht. Es war ja nicht Mandelbaum, der um einen Termin gebeten hat. Ihr wisst, er kauft seit langer Zeit unsere Stoffe für seine Möbel bei uns. Wir kennen uns schon sehr lange. Länger als Simon und Ava auf der Welt sind.“

      „Ja“, sagte Eduard und wartete geduldig ab.

      „Nun, er hat die Verträge gekündigt und bezieht seinen Stoff seitdem von einer anderen Firma.“ Der alte Escher lachte ärgerlich. „Soweit er mir sagte, ist sie trotz der Transportkosten günstiger als wir. Ich weiß nicht … Er war einer unserer besten Kunden. Und jetzt das …“

      Etwas anderes schien dem Alten noch im Kopf herumzugehen, aber er sprach nicht weiter.

      „Hätten wir ihn nicht ins Geschäftskontor einladen sollen?“, fragte Hans eifrig. „Dann hätte ich auch an den Verhandlungen teilnehmen können. Vielleicht wäre Simon mitgekommen …“

      „Das wird kein Familientreffen“, unterbrach ihn sein Vater schroff. „Ich will ihm klarmachen, dass er es nicht nur mit einem einfachen Händler zu tun hat. Schließlich besitzt unsere Familie einigen Einfluss in der Stadt. Und dass er aus dem Judenviertel herausgekommen ist und mit seiner Firma Erfolg hat, verdankt er nicht zuletzt uns.“

      „Hm“, machte Eduard und schmunzelte. „Mandelbaum wurde uns doch immer als leuchtendes Beispiel dargestellt, wie man es trotz widrigster Umstände aus eigener Kraft zu etwas bringen kann.“

      Escher warf ihm einen scharfen Blick zu.

      „Das ist unser Geschäft“, sagte er. „Tu nicht so, als ginge dich das nichts mehr an.“

      Eduard hob abwehrend die Hände.

      „Das ist doch jetzt Hans’ Sache“, meinte er. „Nicht wahr?“

      „Ich … denke doch“, erwiderte Hans und blickte seinen Vater an.

      „Noch führe ich das Geschäft“, sagte der Alte barsch und sah an Hans vorbei aus dem Fenster. „Und ich möchte Mandelbaum klarmachen, dass er unsere Verträge nicht so einfach aufkündigen kann.“

      „Mit Drohungen?“, fragte Eduard vorsichtig.

      Escher winkte ab.

      „Ich rede nur mit ihm. Aber das Büro des Bürgermeisters ist nicht der schlechteste Platz, um ein bisschen Respekt einzufordern.“ Er lächelte.

      „Die Mandelbaums sind unsere Freunde“, warf Hans ein.

      „Umso schlimmer“, meinte der Alte. „Da sollte man doch mit ein bisschen mehr Loyalität rechnen. Nicht?“

      Maria kam herein und schenkte allen Kaffee nach.

      „Danke“, sagte Eduard und stürzte ihn nach einem Blick auf die Uhr mit zwei, drei hastigen Schlucken hinunter. „Ich muss los.“ Er schien nicht gerade traurig darüber zu sein.

      Sein Vater warf ihm einen interessierten Blick zu.

      „Zur Baustelle?“, fragte er.

      Eduard nickte.

      „Wie geht es denn voran?“

      „Gut, denke ich.“ Eduard erhob sich und zuckte leichthin mit den Schultern.


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