Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman
jetzt? Weiß sie Charlies Nummer auswendig? Und Marks? Scheiße. Sie holt einen Stift und ein Stück Papier aus der Nachttischschublade und schreibt die Nummern aus dem Adressbuch ihres alten Smartphones ab. Dann steckt sie den Zettel in die Tasche und wirft das ausgediente Smartphone wieder aufs Bett.
»Hau ab, Lou, hau ab«, treibt Garfs Stimme sie an.
Mit der Tasche über der Schulter rennt sie die Treppe hinunter, vorbei an den Fotos: Charlie mit Buster, Charlie mit Schlagsahne im Gesicht. Im Flur schnappt sie sich ihre Autoschlüssel und die Handtasche. Und lässt beides sofort wieder fallen. Nicht das Auto, nicht die Vordertür, nicht die Handtasche. Darin befinden sich ihr Führerschein, ihr Pass und ihr Portemonnaie. Wie funktioniert das eigentlich, alles zurückzulassen? Was passiert mit ihrem Auto? Werden ihre Bankkarten gesperrt?
Im Schlafzimmer klingelt das Samsung. Wer ist das?
Tyler schüttelt den Kopf, als wollte sie damit alle unnützen Fragen vertreiben. Jetzt nicht mehr aufhalten lassen.
Sie läuft eilig in die Küche und holt mit der rechten Hand die Schlüssel von Gartentor, Schuppen und Vespa aus der Schublade, während sie mit der linken schon die Schlösser und Riegel der Hintertür öffnet.
Der Papierstreifen fällt auf die Fußmatte.
In dem Moment klingelt es an der Vordertür. Tyler schaut auf. Durch die Scheibe in der Tür am anderen Ende des Flurs sieht sie eine Silhouette, dunkel und bedrohlich. Die Gestalt hebt den Arm, hämmert gegen die Tür. Versucht, durch die kleine Strukturglasscheibe hineinzusehen. Der Briefkasten klappert.
So leise wie möglich schließt Tyler den Hinterausgang des Hauses und ihres vorigen Lebens. Auf dem Weg nach Schiphol hat sie Garfs Stimme im Kopf. Stick to the plan, Lou.
***
Oz steht vor der Tür und ruft noch einmal die Nummer an, die Garf ihm gegeben hat.
Irgendwo im ersten Stock hört er ihr Handy klingeln.
»Tyler Young, ich weiß, dass du zu Hause bist«, murmelt er. Er legt auf und wählt noch einmal, während er ein Ohr an die Glasscheibe in der Tür legt und an der Klappe des Briefkastens rappelt. Es besteht kein Zweifel: ihr Telefon.
Sonst hört er nichts.
Noch ein letztes Mal ballert er gegen die Tür.
Ein Kleinbus des Gasunternehmens fährt vorbei.
Kapitel 13
Jetzt, Tatort Topper Heinrich’s Auto Part Emporium,
an der Interstate 95, Florida
Der Krankenwagen trifft zuerst ein, dicht gefolgt von der Florida Highway Patrol. Die Rettungssanitäter stellen heftigen Blutverlust fest, aber auch – ein wahres Wunder – einen schwachen Puls. Sie verlieren keine Zeit, geben dem Verletzten eine Infusion, verbinden die Wunden provisorisch, legen Garf auf die Trage und bringen ihn eilig zum Rettungswagen, der darauf mit Sirenengeheul und Blaulicht in einer Staubwolke verschwindet. Gesicht, Arme und Kleidung mit Blut verschmiert schaut Topper Heinrich ihnen nach und betet für seinen alten Freund.
Die Sanitäter hinten im Wagen kämpfen um Garfs Leben. Der Fahrer fährt mit Vollgas, während er telefonisch den Zustand des Opfers durchgibt: sechs Schussverletzungen, in Abdomen, Brust und Schulter. Der Ringfinger der rechten Hand fehlt. Der Mann ist schätzungsweise siebzig Jahre alt. Ein Glück, dass sie in der Nähe waren, als der Anruf kam. Doch zur nächsten Notaufnahme mit Schockraum werden sie siebzehn Minuten unterwegs sein. Das kann knapp werden.
Die Polizei sichert den Tatort mit Absperrband.
Toppers Kunden machen ihre Aussagen. Sie hätten in der Ferne sieben oder acht Schüsse gehört, aber weder mögliche Täter noch ein Fahrzeug gesehen. Die Musik habe plötzlich ausgesetzt, sonst hätten sie die Schüsse wahrscheinlich gar nicht gehört. Einer von ihnen hat den Notruf angerufen. Ein Polizeibeamter notiert Namen und Adressen.
Topper selbst hat den leblosen Körper seines alten Freundes gefunden. Hat sich aus voller Kraft bemüht, ihn wiederzubeleben, sein Herz massiert und versucht, mit den Händen und dem ganzen Körper die Blutungen zu stillen. Dass Garfs Ringfinger fehlt, hat er erst bemerkt, als die Sanitäter ihn übernahmen. Garf hatte immer einen Siegelring getragen, eine Kopie seines Meisterschaftsrings der Chicago Cubs von 1908.
Mit einem Fluch des Bedauerns muss Topper zugeben, dass die meisten seiner Überwachungskameras nur Attrappen sind. Nur die eine am Flaggenmast beim Eingang des Geländes funktioniert. Topper hatte Garf monatelang nicht gesehen, eigentlich seit Caths Tod nicht mehr. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass er heute vorbeikommen würde.
Im Handschuhfach des Jeeps finden die Beamten Garfs Führerschein und seine Neun-Millimeter nebst Waffenschein. Sie geben Namen und Adresse des Verletzten an die Zentrale durch.
Schnell kommt die Meldung zurück, dass das Opfer einer von ihnen ist, ein U.S. Marshal a.D. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Kollegen und die Stimmung verändert sich schlagartig.
Das Justizministerium, dem der Marshal Service untersteht, wird von dem Überfall in Kenntnis gesetzt, ebenso die FBI-Außenstelle in Miami. In den Büros von Homeland Security, NSA, CIA – überall in Washington klingeln die Telefone, und kurz darauf auch in Moskau, Islamabad, Tel Aviv, in Genf und auf Sizilien.
Wie sich herausstellt, ist das Opfer niemand Geringerer als Garfield Franklin Horner, einer der Gründer des Zeugenschutzprogramms WitSec. Vor dreizehn Jahren wurde er entlassen, unehrenhaft, nach fast fünfunddreißig Jahren treuem Dienst. Unbestätigten, aber hartnäckigen Gerüchten zufolge wegen einer Affäre mit einer seiner Schutzbefohlenen, einer Minderjährigen.
Die Kriminaltechniker treffen am Tatort ein. Mit nummerierten Schildern markieren sie die Fußabdrücke, die Positionen des Sixpacks, der Sandwiches und der Patronenhülsen. Schnell und präzise machen sie Fotos von den Löchern in der Trailertür, dem Baseballschläger und den Blutflecken.
Acht Einschüsse in der Tür. Nach den Kratzspuren zu schließen, hat der Täter die Waffe auf das Türblatt aufgesetzt, zuerst auf Schulterhöhe, dann niedriger.
Es ist zwar Spekulation, zu früh, um völlig sicher zu sein, aber es sieht aus, als wären Profis am Werk gewesen. Eine brutale Abrechnung.
Aufgrund der Fußspuren im Schotter geht man davon aus, dass es sich um zwei Täter handelt. Die Beamten machen Gipsabdrücke, auch von den Reifenspuren, obwohl sie sich nicht viel davon versprechen, denn das Gelände ist mit Spuren übersät. Einige scheinen jedoch frischer und tiefer zu sein. Und ein Stück weiter Richtung Interstate sieht es so aus, als hätte ein Fahrzeug bei hoher Geschwindigkeit gewendet.
Auf der Aufnahme der funktionierenden Kamera an der Geländeeinfahrt ist Horners Ankunft zu sehen. Er steigt beladen mit Sandwiches und einem Sixpack aus dem Wagen und taumelt kurz, als er mit dem Knie die Autotür schließt. Dann grinst er in die Kamera. Kurz darauf kommt ein staubiger Chevrolet Camaro angefahren. Die Bilder sind sehr grobkörnig, und die Sonnenreflexe machen es noch schwieriger, etwas zu erkennen. Eine genauere Analyse im Labour ist erforderlich, doch es sieht so aus, als säßen vorn im Camaro zwei uniformierte State Trooper.
Das Nummernschild des Wagens ist gut zu erkennen. Er stammt aus Florida. Wenigstens etwas. Sofort informieren die Beamten die Zentrale, und niemand ist überrascht zu hören, dass der Wagen als gestohlen gemeldet wurde.
Ein Raunen von unterdrückter Wut, Konzentration und Entschlossenheit, eine besondere Stille, ausgelöst durch die Erkenntnis, dass es hier um einen der Ihren geht und dass die Täter möglicherweise ebenfalls Kollegen sind, legt sich über den Innenhof der Autoverwertungsfirma.
Die Tür von Toppers Büro wurde abgewischt, doch die Kriminaltechniker können eine Reihe von Teilabdrücken sichern. Sie verschicken sie per Smartphone an verschiedene Behörden, wo sie sofort in Datenbanken eingegeben werden. Auch Interpol wird informiert.
Eine halbe Stunde nach dem brutalen Überfall hält ein Streifenwagen der Florida Highway Patrol vor der Villa auf dem Pine Tree