Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman

Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman


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nach rechts, die Rechnungen nach links, die Abschrift seines geänderten Testaments kommt in den Safe. Er hat in Deaver County offenbar doch etwas Sinnvolles zustande gebracht, obwohl er sich kaum noch an seinen Termin beim Notar erinnern kann. Die restliche Post – Zeitungen, Broschüren, irgendwelcher Mist – landet ungelesen auf dem Stapel Altpapier in der Garage.

      Als er sich bückt, um den Staubsauger aus der Besenkammer zu holen, spürt er den üblichen Stich im Kreuz. »Wunderst du dich etwa, Garfield Franklin, nach all den Nächten auf dem Sofa?«, hört er Cath im Geiste sagen.

      Der Schmerz sitzt tief. Es könnten auch die Nieren sein. Das Vernünftigste wäre, damit zum Arzt zu gehen.

      Aber er hat mit Cath so viele Ärzte besucht. Nach der Diagnose, vor fast zwanzig Jahren, fing der Zirkus an: rein ins Krankenhaus, raus aus dem Labor, Blutabnahme hier, Untersuchung dort. Tomografien in Geräten so groß wie ihr Wohnzimmer. Ein nicht enden wollender Reigen von Pillen, Spritzen, Infusionen, Chemo, Bestrahlung und zweiten Meinungen. Sie hörten fortwährend kopfschüttelnden Ärzten zu und suchten auf Röntgenbildern voller schwarzer Flecken vergebens nach positiven Zeichen.

      Der Krebs, der Caths Körper zerstörte, hatte Unterstützung bekommen. Die Ärzte taten ihr Bestes, doch in Caths Fall war das nicht gut genug. Sie waren auch nur Menschen, und Menschen machen Fehler. Wie harsch und ungerecht es auch sein mochte, sein Urteil stand fest: Die schrecklichen Jahre in den Händen der Weißkittel und auf endlos langen Korridoren mit Sprechzimmern links und rechts hatten Caths Zustand nur verschlechtert. Bis Garf der Sache ein Ende bereitet und sie gegen den Rat aller Ärzte nach Hause geholt hatte. Ihre »Flucht«, wie sie beide es genannt hatten. Er hatte ein Airstream-Wohnmobil gekauft, ein Vintage-Modell, mit dem sie herumgereist waren. Sie hatten das ganze weite Land in all seiner Pracht gesehen, waren von Norden nach Süden und vom Atlantik zum Pazifik gefahren.

      Sie hatten noch ein paar herrliche Jahre miteinander verbracht.

      Bis die Reisen Cath zu viel wurden und der Winter in der Blockhütte am Watauga Lake zu feucht und kalt. Vor drei Jahren kaufte Garf ihr dann diese Villa in Miami.

      In diesem Haus starb sie, oben im Bett. Vor drei Monaten, drei Wochen und sechs Tagen. Als er an dem Morgen aufgewacht war, hatte er ihre Hand kalt und steif auf seinem Unterarm gespürt.

      Er war eigentlich darauf vorbereitet gewesen, oder zumindest hätte man das erwartet. Die Jahre seit der Diagnose waren ihre »Spielverlängerung«, ein »Geschenk des Universums«, wie Cath es oft genannt hatte.

      Unzählige Male hatte er ihr versichert, er sei stark genug, um weiterzumachen, durchzuhalten, sein Leben zu leben, wenn das Unvermeidliche geschah.

      Doch es hatte ihn völlig umgehauen, komplett aus der Bahn geworfen. Wie ein Roboter brachte er die Formalitäten hinter sich und stand die Beerdigung durch. Keine Ahnung, wer da gewesen war und wer nicht.

      Die Leere im Haus war unerträglich. Caths Habseligkeiten schienen ihm Vorwürfe zu machen, doch er konnte es nicht übers Herz bringen, sich ihrer zu entledigen. Vorher geliebte Orte (wie die Blockhütte am See) und Tätigkeiten (wie das Herumbasteln am Airstream) waren ihm plötzlich zuwider. Er versank in tiefster Trauer und verirrte sich in einem Labyrinth aus Lethargie und Selbstmitleid.

      Drei Monate, drei Wochen und sechs Tage lang vernachlässigte er seine Pflichten. REBOUND gegenüber. Und auch Cath gegenüber. Schließlich hatte er ihr etwas versprochen. All die Zeit war er sicher gewesen, dass er fertig war mit dem Taktieren, dem Misstrauen, der Mauschelei – und mit Alexander Harris und seinen Spielchen.

      Bis heute. Oder eigentlich bis gestern, als er mit Lou gesprochen hat. Aber er hat sich geirrt. Mit dem Selbstmitleid ist er fertig, aber mit REBOUND noch lange nicht.

      Heute fühlt er sich gut. Es ist wie ein Neubeginn, eine neue Chance. Das Haus ist aufgeräumt, seine Gedanken sind es auch.

      Er hat Oz um die Überprüfung von Charlie gebeten.

      Strickland wird ihn zurückrufen.

      Also was jetzt? Was für ein Tag ist heute? Was hat er vor Caths Tod getan, wenn sie in Miami waren? An einem Freitagmittag?

      Dann fuhr er gewöhnlich zu Topper Heinrich und holte unterwegs bei Chad’s Deli diese göttlichen Sandwiches mit Fleischbällchen und einen Sixpack Bohemia, das beste mexikanische Bier überhaupt. Das Wasser läuft ihm schon im Mund zusammen. Auch das hat er lange nicht erlebt.

      ***

      Am Eingang des Londoner Zoos beobachtet Mark MacKenzie den jungen blonden Mann, der mit dem Observer von gestern unterm Arm auf Charlie wartet.

      Mark tut so, als hätte er sich verlaufen. Er kratzt sich am Kopf und starrt auf den Stadtplan. Altmodischer Mist natürlich. Er hat Google Maps auf seinem Smartphone, aber wie soll man sich dahinter verstecken?

      Aus dem Augenwinkel sieht er, wie der junge blonde Mann auf seine Uhr schaut. Automatisch imitiert er die Geste.

      Viertel vor fünf. Noch eine Viertelstunde.

      Nervös verlagert er sein Gewicht auf den anderen Fuß. Er hofft, dass er sich umsonst Sorgen macht.

      Aber vor allem hofft er, dass Charlie ihm vergibt.

      Kapitel 9

      Garf, jetzt,

      unterwegs in Richtung Orlando, Florida,

      Interstate 95

      Garf parkt seinen Jeep auf dem Gelände von »Topper Heinrich’s Auto Part Emporium«, einer Autoverwertungsfirma an der Interstate. Hohe Stapel verrosteter Wracks umsäumen das Grundstück in langen Reihen.

      Als er ausgestiegen ist, zieht er seinen Overall zurecht, während er die Überwachungskamera beäugt, die hoch oben an einem Fahnenmast befestigt ist. Noch immer so ein Billigteil mit niedriger Auflösung. Die meisten hängen hier sowieso nur zur Schau. Topper ist ein unverbesserlicher Knauser.

      Garf läuft vorn um den Jeep herum und öffnet die Beifahrertür. Er beugt sich hinein, nimmt die Sandwiches vom Sitz und klemmt sie sich vorsichtig unter den linken Arm. Dann hebt er das Sixpack vom Fußraum auf. Er reckt sich, macht einen Schritt zurück und drückt die Tür mit seinem rechten Knie zu. Sein Rücken protestiert, als er auf einem Bein balanciert. Er bleibt mit dem rechten Schuh im umgeschlagenen linken Hosensaum seines Overalls hängen und verliert fast das Gleichgewicht.

      Grinsend schaut er noch einmal zur Kamera hoch. Er hofft, dass sie nicht funktioniert, denn falls Topper sein ungeschicktes Manöver gesehen hat, würde Garf es zu hören bekommen.

      »Es ist wahrscheinlich nichts«, sagt er laut und wartet darauf, dass die Rückenschmerzen nachlassen. Genau das hat Lou auch gesagt. Er hat sich vorgenommen, sie bald einmal zu besuchen. Um ihr von seinem Testament zu erzählen. Um ihr zu sagen, wie viel ihm ihr Anruf bedeutet hat. Dass sie ihn damit aus einem finsteren Winterschlaf der Trauer erweckt hat.

      Er summt das Lied mit, das aus den Lautsprechern auf dem Gelände tönt und von den aufgetürmten Autowracks widerhallt. Country Classics auf WKIS FM, ohne kann Topper nicht leben.

      Es ist wahrscheinlich nichts. Das könnte eine Textzeile von Willie Nelson sein.

      Er freut sich wahnsinnig darauf, wieder einmal mit Topper ein Stündchen lang einfach nur über Autos zu quatschen. Und über Banker zu meckern oder über die neuste Schwachsinnsidee der Regierung, um der Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Einfach dummes Zeug schwafeln, über früher, als noch alles besser war.

      Während er, die Sandwiches links und das Bier rechts, zum Innenhof spaziert, sieht er sich die Nummernschilder der geparkten Autos an. Eine alte Gewohnheit. Toppers Kunden kommen von nah und fern. Für Oldtimerfans ist das Auto Part Emporium das reinste Paradies. Die verschiedenen Hallen und Schuppen, alle mit Wellblech verkleidet, sind bis unters Dach mit gebrauchten Autoteilen gefüllt. Toppers phänomenales Gedächtnis erledigt den Rest. Was man bei ihm nicht findet, findet man nirgendwo.

      Garf wundert sich nicht weiter, dass er weder Topper noch sonst jemanden antrifft, denn der Golfcaddy,


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