Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman
Garf. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Sie beißt sich auf die Lippen und kämpft mit den Tränen.
Aber als er sagt »Nicht weinen, Lou«, ist kein Halten mehr. Sie schaut sich um und greift nach ihrer Handtasche, um ein Taschentuch herauszuholen.
»Alles hat seine Stunde, Lou.«
»Ich weiß, wie sehr du sie geliebt hast«, schluchzt sie.
»Und sie dich, Lou.«
Leise schnäuzt sie sich. »Ich wusste es nicht.«
»Nein.«
»Woher hätte ich das auch wissen sollen?« Es war keine wirkliche Frage.
»So sind nun mal die Regeln, Lou.«
Kein Kontakt, keine Vergangenheit, theoretisch ganz einfach. Aber wenn der Mann, dem sie alles zu verdanken hat … Plötzlich sieht sie ihn als alten Mann vor sich, das kurz geschorene graue Haar ganz schütter, die Kleidung an ihm schlotternd. Der Mann, der Tausende wie sie gerettet hat, ist am Ende seines Lebens mutterseelenallein. Sie sollte sich um ihn kümmern, nicht umgekehrt.
»Tut mir leid, dass ich dich angerufen habe, Garf. Du hast jetzt ganz andere Sorgen.«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung. Es ist gut, dass du angerufen hast. Ich bin froh darüber. Höchste Zeit, dass ich … nun ja … Gib mir vierundzwanzig Stunden Zeit, Lou. Ich checke Danny, nur um ganz sicher zu sein. Aber wie du schon sagst, es ist wahrscheinlich nichts. Lou?«
»Ja?«
»Du hast es geschafft, Lou. Es war schwer und du hast einen hohen Preis dafür bezahlt, aber wie lang ist es jetzt her? Zehn, elf Jahre?«
»Dreizehn.«
»Du hast es geschafft.«
»Ja«, sagt sie mit mehr Überzeugung in der Stimme, als sie empfindet. Doch das Gefühl, ihn jetzt nicht enttäuschen zu dürfen, ist einfach überwältigend. »Das verdanke ich dir.«
»Und Cath.«
»Ja. Dir und Catherine.«
»Gut, dass du angerufen hast«, sagt er wieder, doch seine Stimme klingt matt und heiser, als hätte das Gespräch ihn große Anstrengung gekostet.
Als sie aufgelegt haben, verflucht sie wieder die Regeln, die Garf daran gehindert haben, nach Catherines Tod Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Und sie wird sich bewusst, dass die Beruhigung, nach der sie sich so sehr gesehnt hatte, ausgeblieben ist. Im Gegenteil, Garfs Versicherung, er würde Danny checken, hat ihre Angst aufs Neue entfacht.
Denn offenbar hält auch Garf es für möglich, dass Danny sie nach all den Jahren aufgespürt hat.
***
Garf dreht an seinem Siegelring.
Das Klischee besagt, dass jeder Bulle einen besonderen Fall hat, einen, der anders ist, ein Opfer, das den Schutzschild der sachlichen Distanz, die man wahren muss, durchbricht.
»Liebe Grüße von Lou und Charlie, Cath«, murmelt er. Cath war von Anfang an ganz verrückt nach Louise gewesen, der Tochter, die sie selbst nicht haben konnte. Und verrückt nach der kleinen Charlie.
Er nimmt sich vor, Strickland anzurufen, seinen Kontakt beim New York Police Department. Er hält ein Auge auf Danny Miller und seine Gang. Mittlerweile sind sie nicht mehr so viele und haben ihre Aktivitäten nach New York verlegt.
Aber Strickland, der alte Hase, hätte sicher Alarm geschlagen, wenn es Anlass dazu gegeben hätte.
Dann, als hätte Lous Anruf ihn wachgerüttelt, sieht Garf mitten auf dem Schreibtisch seine Dienstpistole liegen. Er erinnert sich an den Geschmack – Eisen, Öl – und den Geruch von Schießpulver.
Schnellen Schritts läuft er durch die Villa, die er für Cath gekauft hat. Auf seiner Inspektionsrunde sieht er das schmutzige Geschirr in der Spüle, die Teller mit Essensresten rund um seinen Sessel, den Stapel ungeöffneter Post auf dem Esstisch. Überall liegt dreckige Wäsche herum: Pullover, Socken, Unterhosen. Die Vorhänge sind zugezogen, die Fensterläden geschlossen. Auf dem Sofa im Wohnzimmer liegt der Schlafsack, in dem er schon die ganze Zeit schläft, weil das Schlafzimmer ihm Angst macht.
»Reicht es jetzt mit dem Selbstmitleid, Garfield Franklin?«, fragt eine Stimme in seinem Kopf. Wenn Cath keine Widerrede duldete, nannte sie ihn immer bei beiden Vornamen.
Er wischt sich eine Träne von der Wange.
Kapitel 7
Oz, jetzt,
zu Hause,
Diemen, Amsterdam
Oz ruft die Zentrale an und wartet auf die automatische Ansage. Er gibt den Code ein und unterbricht die Verbindung. Oben zieht er seine Sportkleidung an, fest entschlossen, joggen zu gehen. Eine alte Gewohnheit – um seine Gedanken zu ordnen, um Abstand zu gewinnen. Doch als er wieder unten ist, zögert er.
Früher konnte man nach Garf die Uhr stellen. Er rief immer genau eine Stunde nach der Meldung an. Aber seit seine Frau gestorben ist, ruft er oft unvermittelt früher zurück, als wollte er es schnell hinter sich bringen. Oder später, als hätte er gerade etwas Besseres zu tun gehabt.
Oz klappt seinen Laptop auf und öffnet den Browser. Um die Zeit totzuschlagen, surft er durch die Nachrichten-Websites. Suche nach Vermissten nach einem Fährunglück vor der Küste Ghanas. Zug in Bangladesch entgleist. Ein Flugzeugabsturz in den Anden, im Bild zwischen den Wrackteilen Koffer, Reisepässe und Kuscheltiere. In Neuseeland wird ein Backpacker-Ehepaar vermisst. Ein Hollywoodstarlet mit Drogenproblemen ist in einer Privatklinik gestorben, Begräbnis in kleinem Kreis, Familie verzichtet auf Obduktion.
Nachrichten sind nicht mehr das, was sie mal waren, seit es REBOUND gibt. Alles kann eine Operation sein.
Oz will nicht an Alexander Harris, den angeblichen Headhunter, denken. Auch nicht an den Banker Ubbink und dessen Verweis auf Hillis. Oder daran, was es für ihn bedeuten würde, wenn Garf bei REBOUND aufhört.
Was würde er dann tun? Als verlorener Sohn nach Tel Aviv zurückkehren? Mit eingekniffenem Schwanz zurück zum Mossad?
Wird er Garf fragen, wie’s ihm geht? Auf gar keinen Fall. Zuerst einmal ist da die Hierarchie. Garf hat Oz rekrutiert, ist sein Vorgesetzter und Mentor. Es wäre unangemessen, auf sein eventuelles Ausscheiden anzuspielen, besonders jetzt, wo er so tief trauert. Außerdem erhält man beim »Spiel«, wie sie es nennen, mitunter Antworten, die man nicht hören will.
»Weiß deine Frau Bescheid?«, fragte er Garf einmal. Das war bei einem Treffen in New York, in einem Hotelzimmer auf der Upper East Side, kurz vor Oz’ erster jährlicher Beurteilung, bei der Garf sich sehr zufrieden zeigte und ihn ein Naturtalent nannte.
Oz teilte Garfs Ansicht. Die Arbeit war wie für ihn geschaffen. Keine Politik, ein Vorgesetzter, der geradeheraus war, und eine klar definierte Aufgabe mit eindeutigen Verantwortlichkeiten und Befugnissen. Nach der Schlangengrube des Mossad war es ein Vergnügen, für Garf zu arbeiten.
Aufgrund ihres guten Verhältnisses hatte er Garf von Josie erzählt, als die Verabredungen mit ihr häufiger wurden. Beim Mossad hätte er alles getan, um seine Beziehung zu verheimlichen.
Falls Garf Fragen hatte – Was macht sie? Wo habt ihr euch kennengelernt? Wer hat den Anfang gemacht? –, behielt er sie für sich. Aber Oz wäre darauf vorbereitet gewesen. Später kam ihm der Gedanke, dass Garf wahrscheinlich schon alles gewusst hatte und Oz die Gelegenheit geben wollte, es ihm aus freien Stücken zu erzählen.
Garf nahm sich Zeit, erwog offenbar seine Antwort. Das allein sagte schon genug.
»Ich hoffe, die Frage macht dir nichts aus«, sagte Oz, als das Schweigen andauerte. Er wusste es zu schätzen, dass Garf nicht versuchte, das Thema zu wechseln oder der Frage mit einem nichtssagenden Gemeinplatz zu begegnen. Aber vielleicht war er zu weit gegangen.
»Cath weiß