Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman
du mir dazu raten, es Josie auch zu erzählen?«
Diesmal brauchte Garf keine Bedenkzeit: »Nein. Ich weiß, ich habe Glück gehabt. Aber tut mir leid, Oz, die Verantwortung liegt bei dir. Ich stecke nicht in deinen Schuhen und du nicht in meinen. Ich weiß nur, dass es die Regeln nicht umsonst gibt. Sie beschützen unsere Klienten, aber auch uns selbst. Und vor allem beschützen sie die, die wir lieben. Was sie nicht wissen, kann ihnen auch nicht schaden.«
»Einen Menschen, den man liebt, ein Leben lang anlügen, um ihn zu beschützen?«, fragte Oz. Das hätte von seinem Vater stammen können. Liebe als bestes Motiv für Verrat. »Ist bei REBOUND bekannt, dass Catherine Bescheid weiß?«
»Nein«, antwortete Garf, wieder ohne zu zögern.
Oz war sich bewusst, welches Risiko Garf damit einging, seinem Untergebenen diesen schwerwiegenden Regelverstoß zu beichten. Er betrachtete es damals als großen Vertrauensbeweis.
Zugleich wurde ihm bewusst, dass Garfs Geständnis auch ein Test sein könnte, ob Oz die Sache melden würde.
Es stimmte, was Garf ihm schon so oft gesagt hatte: Du musst dich entscheiden. Du kannst nicht immer alle Folgen absehen. Es gibt bei dieser Arbeit nie absolute Gewissheit.
Zurück in den Niederlanden unternahm Oz noch einen letzten Versuch, Josie von der unseligen Idee abzubringen, zusammenzuziehen.
»Wieso zu schnell? Du liebst mich, und ich liebe dich«, war ihre Antwort. »Wo ist das Problem?«
»Du kennst mich nicht.«
»Was muss ich denn noch über dich wissen?«
»Immer, wenn etwas zu gut läuft, mache ich es kaputt.«
Als sie seinen ernsten Blick sah, fragte sie: »Wovon redest du, Liebling? Was hast du denn kaputt gemacht?« Und als er ihr die Antwort schuldig blieb, sagte sie laut denkend: »Was ist denn Schlimmes passiert, dass du nicht darüber reden willst? Aber warum solltest du darüber reden wollen, wenn es so schlimm war? Vielleicht ist es besser, es auf sich beruhen zu lassen.«
Typisch Josie: Was vorbei ist, ist vorbei, nur das Jetzt zählt. Das ist ihre Lebensphilosophie. Schau mal, die Sonne scheint. Und wenn es anfängt zu regnen, ziehen wir Regenjacken und Gummistiefel an und stampfen in den Pfützen herum. Oder wir machen es einfach ohne Regenkleidung, dann werden wir schön nass. Auch gut.
Als sie die Zwillinge erwartete, gab Oz ihr seine Dienstnummer, nur für den Notfall. Garf sagte er nichts davon, und so war der erste Vertrauensbruch seinem Chef und Freund gegenüber ironischerweise eine direkte Folge von Garfs Offenheit damals in dem Hotelzimmer in Manhattan.
Das Telefon klingelt. Oz schaut auf die Uhr. Wie er sich schon dachte, nicht genau eine Stunde nach der Meldung, sondern dreiundvierzig Minuten.
Er geht ran und hört die vertraute automatische Ansage, die ihn um Geduld bittet. Gleichmütig wartet er, bis die Scrambler irgendwo im Netzwerk mit der Verschlüsselung beginnen und die Verbindung auf beiden Seiten des Atlantiks freigeben.
»Oz. Alles klar?«
»Alles klar, Boss.«
»Schön. Was kann ich für dich tun?«
Die Begrüßung unverändert, ihre übliche Routine, der Austausch von Höflichkeiten knapp und sachlich. Aber Garfs Stimme hört sich anders an. Er atmet keuchend. Oz hat ihn noch nie mit einer Zigarette gesehen, aber er hört sich an wie ein alter Kettenraucher.
Oz fragt Garf, ob ihm der Name Alexander Harris etwas sagt.
»Harris?«, fragt Garf nach.
»Alexander Harris.«
»Kenne ich nicht. Warum?«
»Ein Headhunter.«
»Ach, kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?«
»Er ist hinter mir her, will mir ein Angebot machen. Sagt, er hat meine Nummer von einem gemeinsamen Freund.«
»Von mir nicht«, sagt Garf.
»Von einem gemeinsamen Freund in Stockholm.«
»Stockholm …«, überlegt Garf. »Kennst du da jemanden?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortet Oz. Er glaubt Garf aufs Wort, muss ihm glauben. Alles kann ein Test sein, aber falls Garf etwas wüsste, würde er es Oz nicht verheimlichen. »Also, was soll ich tun? Ihn anrufen und so tun, als wäre ich interessiert? Versuchen, mehr herauszubekommen?«
»Was du auch unternimmst, du solltest mir auf jeden Fall Bericht erstatten«, mahnt Garf. »Halte dich an die Regeln.«
»Das kann jedenfalls kein Zufall sein«, sagt Oz. Dann erzählt er Garf von seinem Treffen mit Ubbink und dessen Forderung, mit Stanley Hillis zu sprechen.
»Stanley Hillis?«, fragt Garf. »Hilf mir doch mal auf die Sprünge.«
»Unterweltboss. Wurde 2011 ermordet. Ich hatte ein paar Wochen zuvor noch mit ihm gesprochen.«
Er erzählt Garf alles, was er weiß. Stanley Hillis, genannt »Der Alte«, war einst der mächtigste Mann der niederländischen Unterwelt. Jemand, der alles wusste, alles konnte. Sogar der berüchtigte Willem Holleeder hatte Respekt vor ihm. Hillis war eine Legende und brach mehrmals aus dem Gefängnis aus. Es hieß damals, der Alte könne »eine ganze Armee von Jugoslawen« mobilmachen. Als er in seinem Auto vor einem Sportplatz in Watergraafsmeer auf jemanden wartete, mit dem er verabredet war, wurde er erschossen. In unmittelbarer Nähe saßen zwei Kriminalbeamte versteckt in einem Anhänger, um das Treffen abzuhören. Trotzdem wurden die Täter nie gefasst. Bei der Obduktion fand man in Hillis’ Leiche siebenunddreißig Kugeln.
»Und jetzt glaubt dein Banker, dass wir Hillis haben?«, fragt Garf.
»Er ist sogar fest davon überzeugt«, sagt Oz. »Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Oz, du weißt doch, wie das ist. Sie hören von uns, denken nach und dann geht die Fantasie mit ihnen durch.«
»Elvis lebt.«
»Zum Beispiel. Das hat nichts zu bedeuten. Oder glaubst du, es gibt eine undichte Stelle?«
»Nein«, sagt Oz, eher aus Aberglauben als aus Überzeugung. Allein das Gerücht könnte eine Sicherheitsorganisation wie ihre jahrelang lahmlegen.
»Wie ist der Banker denn auf uns gekommen?«, fragt Garf.
»›Der Freund eines Freundes …‹«, sagt Oz.
»Das sind die besten«, bemerkt Garf.
»Ob sie nun in Stockholm wohnen oder nicht«, sagt Oz.
Garfs Lachen klingt gezwungen.
»Mit seinem Anwalt hatten wir schon mal zu tun«, sagt Oz.
»Dann wird der es wohl sein.«
»Okay«, sagt Oz. »Man könnte sagen, es gibt in meinem Umfeld jede Menge Freunde und Freundesfreunde.«
»Soll ich wegen diesem Harris irgendwas unternehmen?«
»Nein«, sagt Oz.
»Und du willst ihn auch nicht anrufen? Herausfinden, was er genau will?«
»Du meinst, für den Fall, dass er die Wahrheit sagt?«, fragt Oz.
»Mit ihm zu reden kann doch nicht schaden, oder?«
»Fragst du mich gerade, ob ich den Job wechseln will?«
»Man sollte niemals eine Frage stellen, wenn man die Antwort nicht hören will.« Garf lässt ein müdes Lachen vernehmen. »Also, was hast du mit dem Banker vor?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Oz.
»Du hast ihn doch getroffen. Seine Backstory?«
»Die übliche Geschichte. Zu viel Geld, zu früh zu viel Erfolg und zu viele falsche Freunde. Die Staatsanwaltschaft gibt vor, an einem Deal