Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman

Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman


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kann die frisch verheiratete Frau ihre Neugier nicht bezwingen, und als sie das verbotene Zimmer betritt, findet sie die abgehackten Köpfe ihrer Vorgängerinnen.

      Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen, meint Mark. Charlie musste ihm versprechen, nicht weiter nachzuforschen.

      Aber es war, als hätte die Geschichte von König Blaubart ihre Neugier erst richtig entfacht.

      Ein Stück weiter balgen sich zwei Golden Retriever um ein Frisbee.

      »Ich hatte früher auch einen Retriever«, sagt Charlie in der Hoffnung, das Gespräch wieder in normale Bahnen zu lenken.

      »Weiß ich«, antwortet Mark. »Bei euch an der Treppe hängt sein Foto mit dir auf dem Rücken. Neben dem mit der Sahne.«

      »Er hieß Buster«, sagt sie überflüssigerweise. So was merkt sich Mark. »Ich habe ihn immer Uster genannt. Ich konnte noch kein B aussprechen.« Sie kann sich nicht mehr daran erinnern.

      »Dein erstes Wort«, sagt Mark nickend.

      »Und dann ist er umgekommen.« Bei einem großen Brand am Neujahrstag vor dreizehn Jahren ist ihr Hund ums Leben gekommen, ebenso wie ihr Vater. Das ist die offizielle Version. Doch seit sie den Inhalt des Safes gesehen hat, weiß Charlie es besser.

      ***

      Sie hatte es schon öfter so gemacht, entweder um einer Klassenarbeit zu entkommen oder weil sie einfach keine Lust auf Schule hatte: Am Vorabend wenig essen und früh ins Bett gehen, über Bauch- oder Kopfschmerzen klagen, und alles möglichst vage halten. Am nächsten Morgen dann die Stirn ein wenig anfeuchten und sich unter der Bettdecke verkriechen. Ihre Mutter kam in ihr Zimmer, bereits startklar, im Kostüm und mit hohen Absätzen.

      »Sollen wir zum Arzt fahren?«, fragte sie. »Dann rufe ich im Büro an.«

      »Nein, nicht nötig. Ich glaube, es ist nur ein harmloser Virus. Schon die ganze Woche husten alle in der Schule.«

      Tyler schaute auf die Uhr.

      »Geh schon, Mom.«

      »Bist du sicher?«

      »Ja, ganz sicher.« Sie hustete, ohne zu übertreiben.

      »Okay. Dann schon dich, Liebling. Und ruf an, wenn irgendwas ist.«

      »Mach ich, Mom.«

      Sie lauschte, wie ihre Mutter die Treppe hinunterlief, die Tür zuzog und im Auto davonfuhr.

      Kurz darauf stand sie in Schlafanzughose und T-Shirt im Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie bewegte sich auf Zehenspitzen, achtete auf jedes Geräusch. Zog die Vorhänge zu, schaltete das Licht an und nahm das Bild von der Wand.

      Jetzt oder nie. Sollte sie? Ja. Ihre Mutter hätte eben ihre vorwitzige Nase nicht in ihr Tagebuch stecken dürfen. Ohne zu zögern, gab Charlie die Zahlenkombination ein, die sie schon so lange kannte, wie sie denken konnte. Dann drückte sie auf ENTER.

      Das Schloss machte klick. Sie umfasste den Griff. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück, als ob sie fürchtete, was immer im Safe war, könnte sie anspringen.

      Dann konnte sie sich nicht länger beherrschen. In einem großen braunen Umschlag fand sie ein Handy, Geldscheine, nagelneue Kreditkarten und zwei amerikanische Pässe. Unter dem Umschlag einen Ordner mit Zeitungsauschnitten.

      Von den Pässen war einer für sie, wie sie an Foto und Geburtsdatum feststellte, der andere für ihre Mutter. Gefälscht? Sie sahen echt aus. Verdutzt las sie die Namen: Kathleen und Claire Adams.

      Sie begutachtete die Geldscheine. Euros, Pfund und Dollar, sorgfältig mit Gummibändern zusammengebunden. Wie viel? Zwanzig-, dreißigtausend? Mehr?

      In dem Ordner fand sie Zeitungsausschnitte über ein viele Jahre zurückliegendes Gerichtsverfahren in Amerika. Ein internationales Transportunternehmen wurde verdächtigt, an Geldwäsche und Menschenhandel beteiligt zu sein. Charlies Blick fiel auf eine riesige Schlagzeile: GRAUSAMER CONTAINERFUND – VERDÄCHTIGE AUF FREIEM FUSS. Kronzeugen hatten Aussagen zurückgezogen oder waren spurlos verschwunden. In einem anderen Artikel – SCHRECKENSNACHT IN HORRORCONTAINER – war von achtundfünfzig Toten die Rede, das jüngste Opfer ein zweijähriges Kind.

      Hä? Was hatten diese Zeitungsartikel mit ihrer Mutter zu tun? Was war daran so wichtig, dass sie sie aufbewahrte, noch dazu im Safe? Charlie sah weiter den Ordner durch. Diesmal suchte sie in den Artikeln nach Namen, fand jedoch weder Young noch Adams.

      Als sie gerade alles wieder zurücklegen wollte, fand sie unter dem braunen Umschlag zwei Fotos, die sie zuvor übersehen hatte.

      Auf dem ersten war sie selbst zu sehen, deutlich zu erkennen, wenn auch noch sehr klein, zwischen zwei älteren Menschen, einem Mann und einer Frau. Eine jüngere Version ihrer Mutter stand ganz links. Vier lachende Gesichter.

      War der Mann vielleicht dieser Garf, über den ihre Mutter bis zum Gehtnichtmehr redete? Garf dieses, Garf jenes … Und war die Dame, die Charlies Hand hielt, vielleicht Garfs Frau? Im Hintergrund war ein amerikanisches Wohnmobil zu sehen, so ein Aluminiumteil. Alle vier trugen Baseballtrikots mit Nummern. Charlies Shirt war so groß, dass es wie ein Kleid aussah. Ihr linker Arm in hellblauem Gips. Charlie überlegte kurz. Hatte sie sich den Arm gebrochen, als sie klein war? Davon hatte ihre Mutter ihr nie etwas erzählt.

      Die zweite Aufnahme war auf den ersten Blick ein ganz gewöhnliches Familienfoto: Vater, Mutter, Kind und Haustier auf einem Spielplatz. Charlie sah eine Schaukel, eine Rutsche und ein Klettergerüst. Das Kind war sie selbst, die Frau war ihre Mutter, der Hund war Buster. Kein Gips.

      Den Mann auf dem Foto kannte sie nicht.

      Auf der Rückseite stand geschrieben: MEET THE MILLERS, LOUISE & DANIEL, CHARLOTTE BELLE & BUSTER.

      Darunter ein Datum: 23. Mai. Das Foto war dreizehn Jahre alt. Charlie blinzelte. Sie betrachtete noch einmal die Vorderseite. Dann wieder die Namen und das Datum.

       Meet the Millers?

      Louise Miller? Aber die Frau auf dem Foto war eindeutig ihre Mutter, Tyler Young. Andere Frisur, jünger, aber unbestreitbar ihre Mutter. Charlotte Belle war sie selbst. Hieß sie mit Nachnamen also Miller, nicht Young? Oder doch Adams, wie in dem Pass stand?

      Und war der Mann ihr Vater? Er trug eine Lederjacke und Cowboystiefel. Aus seinem Kragen schaute eine Tätowierung hervor. Ein Muskelprotz, ein Wichtigtuer. Konnte sie eine Ähnlichkeit erkennen? Die Nase? Das Grübchen am Kinn? Die Augen vielleicht?

      Doch falls er es war, konnte das Datum – 23. Mai, Monate nach dem großen Feuer am Neujahrstag, bei dem Buster und er umgekommen waren – unmöglich stimmen.

      Wieder nahm sie den Ordner mit den Zeitungsausschnitten in die Hand. Sie meinte, den Namen Miller dort gelesen zu haben. Und tatsächlich … In einem Artikel mit der Überschrift HEFTIGE KRITIK AN FBI-METHODEN fand sie ihn. Miller war einer der Verdächtigen, die freigesprochen wurden. Das Datum auf dem Ausschnitt in der Handschrift ihrer Mutter: 22. November, vor dreizehn Jahren. Fast ein Jahr nach dem Feuer, bei dem ihr Vater umgekommen war.

      Ein Geräusch. Die Haustür! Sie sprang auf, lief auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür und spitzte die Ohren. »Mom?«

      Scheiße. Sie blickte sich um. Der Safe weit offen, der Ordner und der Inhalt des Umschlags auf dem Boden ausgebreitet. Eine Sekunde lang spielte Charlie mit dem Gedanken, sich wieder hinzusetzen. Hier inmitten all dieser Rätsel zu warten. Und ihre Mutter mit den Beweisen zu konfrontieren … Aber Beweise wofür?

      Stattdessen wurde sie aktiv. So schnell wie möglich legte sie alles zurück in den Safe. Flink hängte sie das Bild wieder an den Haken, genau wie ihre Mutter es immer tat, leicht schief. Gleichzeitig lauschte sie nach den Schritten.

      Auf dem Weg nach unten fiel ihr rechtzeitig wieder ihr grippaler Infekt ein. »Mom?«, rief sie in schläfrigem Ton. Aber Mom war nicht da. Unten war niemand. Hatte sie es sich nur eingebildet? Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte?

      Wieder oben öffnete Charlie erneut den Safe.

      Sie


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