Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman
nicht zu spät. Und dann würde Tyler ihrer Tochter die Wahrheit über ihre Vergangenheit erzählen. Und über ihren Vater.
Oft stellte Tyler sich vor, wie sie es Charlie erklären würde … ruhig, überlegt. Und wie Charlie es verstehen würde. Aber wenn sie ehrlich mit sich ist, ist diese Hoffnung inzwischen dahin. Den richtigen Zeitpunkt, falls es ihn je gab, hat sie verpasst. Oder besser gesagt: Charlie hat früher als erwartet die Geduld verloren.
Wie alt war Charlie, als ihre Gespräche über die Vergangenheit jedes Mal Anlass für einen Riesenstreit boten? Tyler weiß es nicht mehr genau. Aber Tatsache ist, dass Charlies Fragen immer eindringlicher wurden: Wo genau war das Feuer ausgebrochen, bei dem Papa und Buster ums Leben kamen? Und wo waren wir an jenem Neujahrstag? Hat man die Einbrecher jemals gefasst? Wieso ist das Foto von Buster, das an der Treppe hängt, nicht verbrannt? Wo liegt Papa begraben? Wo genau haben wir früher gewohnt? Und warum können wir da nicht mal hin? Warum habe ich keine Großeltern? Und besonders herausfordernd: Ähnele ich mehr Papa oder dir?
Die Augen hat sie auf jeden Fall von ihrem Vater. Dunkelbraun, ihr Blick allerliebst und vertrauenerweckend. Und unter all dem unwiderstehlichen Charme ein schwelender Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann.
Seit Charlies Pubertätshormone wüten, ist sie, wie Tyler zu ihrem Bedauern feststellt, hinterhältiger und durchtriebener geworden.
Doch Garfs Regel gehorchend blieb Tyler bei der Geschichte, die sie, wie es schien, schon tausendmal erzählt hatte … den Nachbarn, ihren Kollegen und neugierigen Kunden. Sie hatte das Märchen schon so oft heruntergeleiert, dass man meinen könnte, durch die ständige Wiederholung würde es schließlich besonders überzeugend wirken.
Doch Charlie wurde älter, und sie war nicht dumm. Sie gab sich nicht mehr mit Tylers Ausflüchten zufrieden. Fragte immer weiter, lag ihr ständig in den Ohren, verlangte Antworten. Und Tyler musste sich eingestehen, dass sie immer defensiver wurde und sich in ihren halbgaren Geschichten verstrickte. Sie konnte sich keine Achtlosigkeit mehr erlauben.
Später, dachte Tyler immer. Später ist früh genug. Sie hatte alle Zeit der Welt. Charlie ist noch so jung. Sie muss es noch nicht erfahren. Später, wenn sie die Pubertät hinter sich hat. Später, wenn Tyler beschlossen hat, was sie mit den ganzen Zeitungsausschnitten in dem Ordner tun will, und mit dem Foto von dem Tag auf dem Spielplatz, die Millers in glücklicheren Zeiten, kurz bevor ihre Welt zusammenbrach.
Manchmal denkt sie, sie hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Hätte die Ausschnitte und Fotos vernichten müssen. Sie war schon oft kurz davor, öfter, als ihr lieb ist, konnte sich aber nie dazu überwinden. Denn damit würde sie die Lügen bekräftigen, verewigen, Charlie für immer die Chance nehmen, die Wahrheit zu erfahren.
Dann wieder gibt es Momente, in denen sie überzeugt ist, dass sie den Ordner nicht so sehr für Charlie, sondern vor allem für sich selbst aufbewahrt. Als Beweis dafür, dass dies alles wirklich geschehen ist. Als Warnung und zugleich als Strafe für ihre damalige Dummheit und Naivität.
Wie schön wäre es doch, keine Geheimnisse mehr zu haben.
Doch sie brauchte mehr Zeit. Schlaf noch einmal drüber, sagte sie sich immer wieder. Kommt Zeit, kommt Rat. Mit diesem Mantra hatte sie sich selbst eingelullt, sich weisgemacht, dass später immer noch früh genug wäre. Wie in Gottes Namen hätte sie diesen Grabenkrieg zwischen Mutter und Tochter nur verhindern sollen?
Vor ein paar Wochen wurde es Tyler zu viel. Sie hatte einen Tiefpunkt erreicht. Sie kam spät nach Hause, in Gedanken noch bei dem Stress im Büro, als Charlie sie in kämpferischer Höchstform erwartete. »Was soll ich denn sagen?«, hatte sie, mit ihrem Latein am Ende, ihre Tochter angeschrien. »Dein Vater ist tot. Meiner auch und meine Mutter genauso. Willst du mit mir tauschen?«
Großer Gott, wie sehr sie das bereute. Sie schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie damit die harten Worte zurücknehmen.
»Was bist du für eine verdammte Scheißmutter«, rief Charlie, während sie die Treppe hochrannte.
Tyler rief ihr noch nach: »Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen, Liebling.« Aber der Schaden war schon angerichtet. Und die Episode endete, wie so oft, mit Charlies zugeschlagener Tür.
Aber in den letzten Wochen schien wieder Frieden eingekehrt zu sein. Ein vorübergehender Frieden, wie Tyler wusste, oder sie musste sich schon sehr in ihrer Tochter irren. Das Thema hing wie eine Gewitterwolke über ihnen. Es war wie ein Waffenstillstand, an den niemand glaubt und den beide Parteien dazu nutzen, sich auf neue Feuergefechte vorzubereiten.
Sie musste den Knoten irgendwann durchtrennen. Aber wie sollte sie es Charlie erzählen? Wo sollte sie anfangen? Bei den Hühnern? Bei dem, was sie an dem Abend in der Lagerhalle gesehen hatte? Bei der wahren Geschichte von Busters Tod? Die Folgen waren kaum abzusehen, aber auf jeden Fall wären sie weitreichend, nicht rückgängig zu machen und lebensbedrohlich.
»Liebling, ich habe das alles für dich getan«, würde sie sagen. Würde Charlie das verstehen und Tyler all ihre Lügen vergeben? Großer Gott, wenn sie nur daran dachte.
Charlie wollte die Wahrheit erfahren. Aber konnte sie die Wahrheit auch ertragen?
***
Wieder schläft Tyler unruhig, wieder nach zu viel Wein. Draußen grinst zwischen dahinjagenden Wolken der Mond. Im Garten tanzen Schatten und zeigen das unbeabsichtigte Resultat ihrer morgendlichen Gartenarbeiten. Die Vertiefung hat die Form eines flachen Grabs.
Kapitel 5
Charlie, jetzt,
Kensington Gardens,
London
»Charles, du passt doch auf dich auf?«, sagt Mark.
Charlie nimmt einen Zug von dem Joint und fängt an zu husten. »Was?« Hat sie richtig gehört?
»Du sollst auf dich aufpassen.« Vorsichtig nimmt Mark den Joint zwischen die Fingerspitzen.
»Ernsthaft?«
»Ja, ernsthaft. Onlinedates sind gefährlich.«
»Großer Gott, du hörst dich an wie meine Mutter. Und es ist kein Date, sondern eine Verabredung«, sagt sie.
Sie haben sich davongeschlichen. Haben Schuhe und Strümpfe ausgezogen und lassen in Kensington Gardens unweit ihres Hotels in Knightsbridge die Füße im Teich baumeln. Mark liegt mit dem Kopf gerade noch im Schatten, Charlie in der Sonne.
»Ich bin doch nicht verrückt«, fügt sie hinzu. Sie ist nicht wie ihre Mutter, die scheinbar zerstreut ihre Schlüssel fallen lässt, um zu sehen, ob sie nicht verfolgt wird. Und die, wie sie glaubt, ganz unauffällig Papierstreifen in die Tür klemmt.
»Darf ich dich was fragen?«
Ups. Jetzt kommt’s. »Sei doch nicht so komisch. Natürlich darfst du«, antwortet Charlie.
»Willst du es überhaupt?«, fragt er.
Sie schnaubt. »Natürlich will ich es.«
»Oder gehört dieses Date in die gleiche Kategorie wie das Tattoo, von dem deine Mutter nichts weiß, das Piercing, von dem deine Mutter nichts weiß, und die Joints, von denen deine Mutter nichts weiß?«
»Sie ist …« ein verdammtes Miststück, will Charlie sagen, aber sie weiß, wie Mark darüber denkt. »Es ist kein Date.«
»Ich meine, du hast doch auch Geheimnisse vor ihr«, sagt Mark.
»Das ist doch was ganz anderes.«
Mark zuckt mit den Schultern.
Ach verdammt, denkt Charlie. Das Schweigen zwischen ihnen, das sie sonst so schätzt – anders als die Pausen in Gesprächen mit ihrer Mutter, die geradezu danach schreien, gefüllt zu werden –, wirkt belastend.
Sie diskutieren das Thema nicht zum ersten Mal. Mark meint, dass es gute Gründe dafür geben kann, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und dass Charlie loslassen soll. Er erinnert sie an die