Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman
Es gab doch noch ein Foto von ihrem Vater.
Zweitens: Er war nicht am Neujahrstag ums Leben gekommen. Das wusste sie nun mit Sicherheit.
Mit dieser Erkenntnis nahm ihre Wut ganz neue Dimensionen an. Sie war nun höllenrot, giftig, tief und ätzend, in all ihren Poren spürbar. All die Lügen und die Grausamkeit dieses Verrats machten sie so wütend. Was für ein krankes Hirn brachte so etwas fertig? Sicher keine liebende Mutter!
Charlie weinte nicht. Sie fluchte nicht. Sie rief in ihrer Verzweiflung auch nicht Mark an, um über das Unrecht zu klagen, das man ihr angetan hatte. Charlie lief auch nicht von zu Hause weg, obwohl das verdammte Miststück es verdient hätte.
Sie öffnete ihr MacBook und plante ihre Rache.
Im Forum der Website lookingforlonglostlovedones.com hinterließ Charlie unter der Kategorie lost neighbours eine Nachricht. Lost parents oder lost family members hätte vielleicht besser gepasst, aber das konnte sie später noch versuchen.
Sie tat so, als würde sie ehemalige Nachbarn suchen:
Suche die Millers, Daniel und Louise. Auf der Website wurde empfohlen, möglichst detaillierte Angaben zu machen, Daten, Orte, um die Chance auf Erfolg zu vergrößern. Doch Charlie beschränkte sich auf: »Vor ungefähr dreizehn Jahren im Süden von Florida.« Sie widerstand der Versuchung, dick aufzutragen und die süße kleine Charlie, die Tochter der Millers, und ihren ständigen Begleiter, den Golden Retriever Buster, zu erwähnen.
Für ihr E-Mail-Alias hatte sie das Alter ihrer Mutter angegeben. Nachdem sie alle Perverslinge und Spamnachrichten aussortiert hatte, blieb nur einer übrig: John John Blackstone ([email protected]) – oder J.J., wie Charlie ihn nannte.
J.J. sagte, er könne ihr vielleicht helfen. Sein Vater sei eine Art Privatdetektiv, der sich auf Familiensachen wie Scheidungen und DNA-Tests spezialisierte.
Charlie war skeptisch. Sie hatten die amerikanische Staatsbürgerschaft. In diesen Zeiten zogen Amerikaner besondere Aufmerksamkeit auf sich. Amerikaner haben Feinde, wie ihre Mutter immer sagte. »Sie haben Osama schon erwischt, Mom«, entgegnete ihr Charlie dann.
Nimm dich in Acht vor Fremden. Sei vorsichtig im Internet. Alles Lektionen, die sie schon x-mal von ihrer Mutter gehört hatte. Trotzdem nahm Charlie sich vor, den Kontakt sofort abzubrechen, falls J.J. irgendetwas ansprach, was ihre Mutter als zu persönlich und deshalb gefährlich betrachten würde. Unter ihre Nachrichten setzte sie immer nur ihren Vornamen. Charlie war neutral, konnte männlich oder weiblich sein.
Seltsamerweise war J.J. noch viel vorsichtiger als sie selbst.
So antwortete er auf Charlies Frage, dass er »irgendwo in Europa« wohnte.
»Was für ein Zufall, dann sind wir ja Nachbarn ☺«, antwortete Charlie. Ein paar Tage später ging J.J. einen Schritt weiter: »England.« Und noch ein wenig später: »London.«
Ein paar Tage vor der Klassenfahrt meldete er dann den großen Durchbruch. »Könnte das Daniel Miller sein? Siehe Foto.«
Mit angehaltenem Atem hatte Charlie den Anhang geöffnet.
Sie erkannte ihn sofort von dem Familienfoto im Safe: die Tätowierung am Hals, die Nase, das Grübchen am Kinn. Charlie hatte wirklich seine Augen. Doch auch ohne die Ähnlichkeit hätte sie es gewusst. Der Mann, der sie von dem Foto auf ihrem MacBook anblickte, war Daniel Miller, ihr Vater. Sie sah es, fühlte es, es gab keinen Zweifel. Zehn Jahre älter als auf dem Familienfoto im Safe, schätzte sie. Sein Haar war an den Schläfen ergraut. Ein blasses Gesicht, blasser, als sie erwartet hätte, und müde Augen.
Aber er war’s.
J.J. hatte ihren Vater gefunden.
Sie fragte: »Lebt er noch?«
»Sieht so aus. Ist er der Mann, den du suchst?«
»Ja. Hast du noch mehr?«
»Viel mehr.«
Sie überlegte kurz, dann traf sie eine Entscheidung und schrieb: »Ende dieser Woche bin ich in London. Sollen wir uns treffen?« Als sie das Reiseziel der Klassenfahrt erfahren hatte, war sie ziemlich enttäuscht gewesen. Doch jetzt wusste sie, dass es Vorsehung gewesen war. Es konnte kein Zufall sein. Diese einmalige Gelegenheit durfte sie sich nicht entgehen lassen. Angespannt starrte sie auf ihre Inbox. Endlich kam die Antwort: »Okay. Wo?«
Sie schlug ihm vor, zu ihrem Hotel in Knightsbridge zu kommen, aber ohne den Namen zu nennen, doch wieder zeigte sich J.J. besonders vorsichtig. Einen öffentlichen Ort fand er besser.
Tyler merkte nichts von alledem. Charlie verhielt sich ruhig, aber nicht zu ruhig. Wenn sie Fragen über die Vergangenheit stellte, dann in normalem Ton, ohne sich über die Lügen aufzuregen, die sie aufgetischt bekam. Falls ihre Mutter merken sollte, was sie getan hatte, hatte sie ihre Antwort parat: »Was für ein Safe? Ich wusste nicht einmal, dass du einen Safe hast.«
»Wo trefft ihr euch?«, fragt Mark, während sie beide immer noch in Kensington Gardens am Teich sitzen.
»Am Eingang des Zoos. Morgen Nachmittag um fünf.«
»Also weiß er, wie du aussiehst?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie hat J.J. um ein Foto von ihm gebeten, doch das hat er verweigert. »Er hat den Observer von heute unterm Arm. Daran erkenne ich ihn.«
»Okay«, sagt Mark. Er klingt enttäuscht, als hätte er sie lieber bei einer Dummheit erwischt.
»Ich dachte, du würdest dich für mich freuen«, sagt Charlie. »Endlich eine Spur.«
»Ich freue mich ja auch«, antwortet Mark und streicht sich durch sein rotes Haar.
»Aber?«
»Es klingt einfach zu schön, um wahr zu sein.«
Charlie zweifelt nicht daran, dass Mark es nur gut mit ihr meint. Trotzdem kommt es ihr vor, als wolle er ihr die Sache miesmachen. Sie steht auf und klopft sich das Gras vom Rock. »Ich gehe zurück. Kommst du mit?«
»Nur wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein.«
»Okay«, seufzt sie, während sie denkt: Nicht okay. Mark hat gut reden mit seinem Familienwappen und dem Stammbaum voller schottischer Adliger.
***
Mark MacKenzie läuft mit Charlie zurück zum Hotel, während in seinem Innern widersprüchliche Gefühle miteinander ringen. Das war also der Grund für ihr seltsames Verhalten in letzter Zeit. Ihr Vater. Eine so große Sehnsucht, ein blinder Fleck, eine Lücke, die Charlie füllen muss.
Er bewundert ihre Verbissenheit, ihren rebellischen Mut. Doch zugleich empfindet er sie als Vorwurf gegen sich.
Charlie weiß nämlich von dem Familienalbum, das er als Stammhalter der MacKenzies, eines uralten schottischen Geschlechts, an seinem zwölften Geburtstag erhalten hat. Ein in kostbares Leder gebundener Foliant mit den Namen, Geburtsdaten und Todestagen all seiner Vorfahren.
Alles geht von Vater auf Sohn über, seit dem ersten MacKenzie, der als Dank für seine Heldentaten während des Dritten Kreuzzugs von Richard Löwenherz in den Adelsstand erhoben wurde.
Doch wer Bescheid weiß, sieht, welche Seiten sorgfältig aus dem Buch herausgeschnitten wurden.
Jede Familie hat ihre Geheimnisse, will Mark seiner besten Freundin erklären, und manche lässt man besser auf sich beruhen.
Er fragt sich, was er jetzt, wo er weiß, was sie vorhat, unternehmen soll.
Tyler informieren? Das würde Charlie ihm nie vergeben.
Kapitel 6
Tyler, jetzt,
zu Hause,
Buitenveldert, Amsterdam
Die Tinte, mit der Tyler einst die